Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Sechzehntes Kapitel

Das Schiff hatte seinen Kurs geändert und steuerte der aufgehenden Sonne entgegen. Fliegende Fische, diese Schmetterlinge des Meeres, sprangen vor dem Kiele auf, schillerten, glänzten, funkelten im Tageslicht und versanken wieder mit all ihrem Farbenzauber im nassen Element. Delphine in ganzen Herden zeigten die schwarzpolierten Rücken, warfen sich übereinander in langer Linie wie eine schwingende Saite, staunten nach dem Firmament empor und verschwanden wieder in den dunklen Tiefen. Selbst Haie und Wale hoben die stumpfsinnig ausdruckslosen Gesichter aus dem Wasser. Es war, als ob das Meer den Sonnenkultus kenne und alle seine Bewohner aus den Abgründen riefe, die Strahlende zu verehren. Auf sammetweichen Wellen glitt das Schiff mit der Flut durch die Säulen des Herkules ins Mittelmeer. Während weniger Stunden sah man das Festland zweier Erdteile, dann ging's wieder in den weiten, leeren Horizont, über den sich der Himmel stülpte wie eine Glasglocke. Die Passagiere, die an der Reling gestanden und mit bewaffnetem und unbewaffnetem Auge nach der spanischen und marokkanischen Küste, geschaut hatten, verschwanden wieder im Bauche des Schiffes oder scheuchten mit einem Buche die Langeweile im Schatten des Sonnensegels. Das Schwirren einer Mücke um ein Tauendchen, der Faden, an dem eine Spinne kletterte, bot manchem Unterhaltung. Wie eine Schraube im Holz drang das Schiff im Wasser vor, immer vorwärts, immer der aufgehenden Sonne entgegen. Daß es Leute an Bord gab, die das Ziel ersehnten, andere, die es fürchteten, war ganz egal. Nur voran, nur voran.

Einer war da, dem es gleichfalls egal war, wie es ging und wohin es ging. Das war Moschko Navratil, der Ingenieur. Vor einer Viertelstunde hatte ein Matrose die Schiffsluke über seinem Bette aufgemacht, und da war nun seine Seele hinaus- und in den blauen Äther hineingeflogen. Sein Tateleben hatte alles, was der Tote nicht mehr brauchen konnte, sogar die Medizinflaschen, in einen Sack gestopft, saß auf dem Bettrand, seinen Stab in der Hand, und verlangte, daß das Schiff halte und ihn aussteigen lasse. »Gott der Gerechte, was hat die Reise nun noch für einen Zweck? Kann ich bauen elektrische Maschinen im Lande Gosen? Der Moschko hat's gekonnt. Aber da liegt er nun kalt und steif. Moschko, warum bist du gegangen und hast mir die Sorge auf die Schulter gelegt wie einen Salzsack, der schwerer wird, wenn meine Tränen auf ihn fallen? Jetzt kommt die Nacht der Trübsal über Jankel Navratil. Schon schleicht er im Schatten, bald wird er im Dunklen tappen. Moschko, Licht meiner Augen, warum bist du dunkel geworden? Nun werden sie kommen und betrügen deinen Vater, wenn seine Augen nicht mehr unterscheiden können Schafwolle von Seegras,«

Moschko gab auf all diese Fragen keine Antwort. Kalt und ungerührt lag er unter einem Leintuch. Die Sorge seines Vaters war nicht mehr die seinige. Ihm war die Welt nichts mehr schuldig als ein Kleid aus Sackleinwand. War dies von den Segelflickern zusammengenäht und mit Blei besetzt, dann schaffte die Schwerkraft den toten Navratil dahin, wo er keinem mehr im Wege stand und mit keinem zu kämpfen hatte.

Der Abend kam und verbreitete einigen Schatten im Zwischendeck. In der Ecke, um den Toten herum, hantierten vier Matrosen. Die Mehrzahl der Reisenden stand in ihren Alltagskleidern zwischen den Betten. Es herrschte nur ein leises Flüstern, und scheue Blicke flogen nach der Mannschaft im Winkel und nach ihrem unheimlichen Tun.

Endlich war alles soweit vorbereitet. Vier Arme hoben die Leiche auf eine Bahre, dann ging's durch den Saal der Stiege zu. Wer im Wege stand, wich scheu zur Seite aus. Auf Deck wartete der Kapitän in großer Uniform und noch einer der Offiziere. Auch der Schiffsarzt war da und der Vater des Toten in einem zerdrückten, moosgrünen Zylinderhut. Die kleine Gruppe stand hinter einem Berg getrockneter Tierhäute. Auch war ein Segel quer durchs Schiff gespannt. Man wollte den Passagieren der ersten Kajüte verbergen, was vorgehe. Wer, der in der Vollkraft des Lebens steht, mag an die eigene Hinfälligkeit und Sterblichkeit erinnert sein? Als die Leiche in den kleinen Kreis der Leidtragenden gebracht war, entblößte jeder sein Haupt zu einem stillen Gebet. Dann ein kurzes Kommandowort, und das Bündel war über die Reling gehoben. Ein Ruck und es stürzte vor der Schiffswand nieder ins Meer. Ein breites, grünes Wellental nahm Moschko auf, wiegte ihn wie in einer seidenen Wiege ein wenig herüber und hinüber und deckte ihn dann zu mit einem Berg von krausen, weißen Chrysanthemumblüten.

Nun war alles vorüber, und das Meer hatte wieder sein altes Gesicht. Zwei Matrosen waren nach dem Hintersteven gelaufen und starrten mit erregten Mienen in die See. Da hinten konnte sich noch etwas ereignen, was keiner wünschte. Wird die Leiche dem Hai entgangen sein, unserem Hai, den der Matrose haßt, weil er auf alles Anspruch macht, was über Bord geht? Sie kamen mit beruhigten Gesichtern wieder. Nirgends hatte sich der Schaum, den die Schraube schlägt, blutig gefärbt. Der Tote war nun nach ihrer Vorstellung zwischen Korallenzweigen, Muscheln und Seerosen schön gebettet und konnte mit allen seinen Knochen warten, bis die Posaune all die Tausend Seeleute, die auf dem Meeresgrunde schlafen, zur Auferstehung ruft.

Am Abend nach der Beisetzung war's still auf dem Schiffe. Die Matrosen aßen schweigend ihr Mahl in der Kambüse. Nirgends ein Singen oder Pfeifen, wie es sonst wohl die Stunden vor dem Schlafengehen kürzte. Der Engel des Todes mit dem Finger über dem geheimnisvoll geschlossenen Munde war über das Deck geflogen, und jeder schien den Luftzug verspürt zu haben, den sein Fittich erregte. Die Nacht war frisch. Der Schiffsjunge, der am Morgen seinen Sitz im Mastkorb zwischen den Sternen verließ und an der Strickleiter niederstieg, blies sich in die Hände und sprang ab nach einem Haufen Schiffstaue. Da trat sein nackter Fuß auf etwas Warmes. Es war der alte Navratil. Er lag mit seinem Sack und seinem Stecken in den Trossen wie in einem Nest. Das Bett im Zwischendeck war ihm verhaßt. Auch war er voller Sorge, den Augenblick zu verpassen, wo das Schiff irgendwo anlegte. Er hatte genug von der Sommerglut der Welt und wollte heim in den Dämmerschatten seiner böhmischen Wälder.

Noch ein Tag verging und noch einer. Als aber dem Mittag der Abend folgte, sah man das Kap Miseno mit seinem Leuchtturm aus den Fluten steigen, und rechts in der Fahrtrichtung wölbte sich der runde Rücken der Insel Capri. An der Grenze des Horizontes, da, wo Luft und Meer ihr Gebiet in grauem Dunste mischen, sah man ab und zu, wie das Winken eines Fingers, den matten Glanz eines bleichen Lichtes.

»'s ist der Gipfel des Vesuvs!« behaupteten einige Reisende und wollten sich hängen lassen, wenn sie nicht recht behalten sollten.

Andere meinten: es könne nur ein Blinkfeuer von der Insel Ischia sein, und wollten sich gleichfalls hängen lassen und sogar den Strick noch selber stellen. Jankel Navratil schleppte sich und seinen Sack von einer Gruppe zur anderen, wiegte den Kopf mit den Schmachtlocken wie einen Bärenschwanz hin und her und horchte, horchte.

Aus dem Bauche des Schiffes heraus ertönten wilde Gesänge der Matrosen.

»Sie riechen Land und Weiber,« bemerkte der alte Kapitän. »Bis morgen früh ist ihre Löhnung im Beutel der Dirnen und Schenkwirte.«

»Sie riechen Land,« wiederholte der alte Jude vor sich hin und schnupperte mit der Nase in die Luft hinein. Ein fader Fischgeruch, das war alles, was sich seinen Riechnerven bemerkbar machte. Ach, daß er doch noch jung wäre und die feinen Sinne hätte wie dazumal, als er auf dem Markte zu Pribram mit verbundenen Augen jeden Wollchristen von einem Felljuden unterscheiden konnte. Nun war eine große Stadt, ein ganzes Land in seine Nähe gerückt, und er sah beides nicht, er roch es nicht einmal. Wie sollte er den Heimweg nach Böhmen finden? Aber das war ja einerlei, wenn er nur erst einmal weg war von dem Wasser, dem gräßlichen Wasser, das seinen Moschko verschlungen hatte, seinen Moschko. Er setzte sich nicht mehr. Er tappelte immer auf und ab, wie Leute, die in einem Zeugenzimmer auf den Richter warten müssen.

Die Dämmerung wird dichter. Auf dem Gestade rechts und links verschwimmen die Details. Häuser und Wälder fließen in einen schiefergrauen Farbenton zusammen, der von einer scharfen Linie wie von einer Litze umsäumt und gegen das Firmament abgegrenzt wird. Darüber ein verlorenes Licht, der letzte Rest der gesunkenen Sonne. Es lohnt sich nicht mehr, daß man nach den Seiten hin Ausschau hält. Vorm Klüverbaum da muß bald Großes, Ungeahntes aus dem Wasser steigen. Alle Passagiere drängten sich nach vorn, lauerten, schauten, vermuteten. Jede Laterne, die den Nachen eines Fischers beleuchtete, wurde für die Spitze des Vesuvs gehalten. Denn nun mußte er ja kommen, der Geheimnisvolle, der Furchtbare. Einmal mußte doch der Golf von Neapel ein Ende nehmen.

Dichter und gleichmäßiger wurde die Nacht, in die das Schiff hineinfuhr, selbst das Meer war von ihr verschlungen. Nur kleine Schaumwellen zeigten zuweilen wie kläffende Hunde ihr glänzendes Gebiß. An ihrem Blinken suchte sich der Blick zu orientieren. Hinter ihnen lag doch die Linie des Horizontes, über welchem der Flammenschein des Kraters sich am Himmel spiegeln mußte.

Alles kam anders, als man sich's gedacht hatte. Plötzlich riß ein Feuerstrahl die Augen aller nach oben. Die Köpfe sanken ins Genick. Über den Gaffern, gerade über der Stirne eines jeden, stand mit bläulichgrünem Glasten eine ungeheure Feuerkrone und drohte herabzustürzen, das Schiff und seine Gäste in Rauch aufzulösen und den Golf von Neapel auszutrocknen. Ein jäher Schreck verbreitete die Starrsucht über alle Passagiere. Wie konnte man dem Furchtbaren so nahe kommen? Man war ja unter ihm. Wenn das Lichtgebilde da oben zerplatzte, mußte ein Stein- und Aschenregen niedergehen, der alles zerschmetterte. »Herr, erbarme dich unser!« seufzte mancher, der sich lange ohne einen Herrn beholfen hatte.

Doch der feurige Schrecken schwand und tat niemandem was zuleide. In der Luft aber blieb die leuchtende Stola eines Buddhistenpriesters hängen, von der kleine, feurige Wölkchen, wie junge Lämmer hüpfend, sich wegstahlen. Die Eruption war vorüber, der Lavastrom hing glühend vom Krater nieder und zeichnete sein Bild in klumpige Wolken hinein, die wie verschlungene Schlangenleiber kreisend um das Haupt des Berges zogen.

Als die Reisenden endlich Zeit fanden, ihr Kinn wieder aufs Brustbein sinken zu lassen, hatte sich ringsum vieles geändert. Das Dunkel war fort, und der Blick irrte über unzählige Lichtfunken hin, die den Berg hinaufkletterten, sich in Talmulden hinabsenkten. Häuser, Kirchen und Türme beleuchteten. Einige der glimmenden Punkte schossen umher, andere standen still und hielten Richtung wie die Soldaten. Noch ein wenig und über den Lichterteppich legten sich lange Schatten mit gespenstigen Armen. Man fuhr in den Wald von Raaen, Masten und Tauen hinein, der den Hafen füllte. Vom Lande her kommen Glockentöne, denen sich das Geschrei von Menschenkehlen zugesellt. Jetzt heult die Sirene unseres Dampfers und grüßt Neapel, die süße Stadt der Parthenope.

Zwar fiel das Fallreep auf den Wasserspiegel, aber niemand durfte das Schiff verlassen. Die Treppe war nur hinabgelassen worden, um der Sanitätsbehörde, Hafenpolizei, den Zollbeamten den Zutritt zum Deck zu ermöglichen. Wer sich nun satt gesehen hatte an dem Lichtermeer der Stadt, der ging in seine Kabine und schlief. Jankel Navratil machte an verschiedenen Stellen den Versuch, über die Reling zu klettern und wurde zurückgehalten. Endlich beruhigte er sich und kroch – jetzt zum letzten Male – mit seinem Sacke in sein Nest von Schiffstauen. Bald war's still auf Deck, und nur der Schritt der Wache bot dem Unterhaltung, den Kummer oder Erwartung nicht schlafen ließen.

Der Tag war noch nicht da, und schon umbrandete ein wahres Jahrmarktsgeheul die Wände des Schiffes. Händler, Kofferträger, Agenten spekulativer Wirte überschrien sich gegenseitig, klopften an die Luken und warfen Zettel auf Deck. Wer klug war, blieb in seinem Bette und wartete, bis die Brandung sich verlaufen hatte.

Innocenz gehörte zu diesen Klugen. Als er zum Frühstück kam, war der Salon leer. Nur wenige Tassen standen noch unberührt herum, darunter die seiner Nachbarin. So beschloß denn der junge Mann, auf diese zu warten. Hier unten war's sauber und ordentlich, während das Deck aussah wie ein Festsaal nach einem Maskenball. Jeder, der geht, läßt ein paar Fetzen von sich zurück und denkt: ›Mich genieren sie fernerhin nicht. Der, dem sie nicht recht sind, mag sie fortschaffen.‹

Nun, nachdem die Arche sich entleert hat, beginnt ein großes Kehren und Scheuern wie auf der Dorfstraße am Morgen nach dem Jahrmarkt. Wer die Sauberkeit seiner Hosen schätzt, weicht den Scheuerlappen aus und dem Inhalt der Eimer, der aus verborgenen Tiefen manches mitführt, was das Sonnenlicht zu scheuen hat.

Vor alledem war Innocenz im Salon sicher. Er blieb also, vertiefte sich in die Lektüre der neuesten Zeitungen, die man an Bord gebracht hatte, und wartete, den Blick der Türe zugekehrt, durch die Irma kommen mußte, auf sie, die mehr und mehr von seinem Herzen Besitz nahm. Und sie kam in einer hellen Toilette, schwebend fast wie ein Cherub. Man war jetzt im Süden, wo Flora und Frauen in Farben schwelgen. Also hatte auch sie ihrer Schönheit mit bunten Tönen etwas nachgeholfen.

Der junge Mann war hingerissen von ihrer Erscheinung. Sie las in seinem Gesichte ihren Sieg und schien sich der Wirkung zu freuen, die sie hervorbrachte. Sie streckte ihm beide Hände entgegen, setzte sich und beugte den Oberkörper so weit gegen den Arzt hin, daß ihr Atem seine Wange wärmte. Ihre Blicke forderten, ihre Lippen forderten. Ihr Busen hob sich und forderte einen Gegenstand, an den er sich lehnen könne, um nicht zerspringen zu müssen. So neigt sich die duftende Orange dem Gärtner zu. Und doch wagte Innocenz nicht zuzugreifen. Ihm war's, als ob er ein liebes Schattenspiel zerstören könne.

Da warf sie den schönen Kopf enttäuscht in den Nacken und klingelte den Steward herbei. Er kam mit Kannen und Tassen und war nun wieder überflüssig geworden. Ein Blick ihrer Augen jagte ihn aus dem Raume hinaus, und, was sich liebte, war wieder allein. Aber manches war nun anders. Es war, als ob sie älter, er jünger geworden wäre, fast noch nicht reif. Sie sorgte für ihn wie für ein Kind. Er ließ es sich gefallen mit dem Gehorsam eines gut erzogenen Knaben. Seit den Tagen, wo er mit seiner Mutter am Tische saß, hatte niemand mehr sich um ihn bemüht, und eine bequeme Sorglosigkeit hüllte ihn in ihre behaglich warmen Tücher. So wie es jetzt war, hatte er sich oft in seinen Träumen das Leben zu zweien gedacht. Nun hatte er's und glaubte im Himmel zu sein. Wenn ihn nur nicht der Gedanke gepeinigt hätte, daß hinter diesem Weibe ein Geheimnis steckte, das sich ihm nicht entschleiern wollte. Er wurde still und nachdenklich.

»Haben Sie Urlaub, an Land zu gehen?« unterbrach Frau van der Klingen seine Selbstquälerei. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein Führer sein durch das verworrene Wirrsal dieser Stadt.«

Innocenz war's zufrieden. Ein Nachen brachte die beiden an die Kaimauer hinüber.

Als der Schwarm zudringlicher Führer glücklich abgeschlagen war, kamen sie in das labyrinthische Gewinkel des Hafenviertels hinein. Das Pflaster klebte von zertretenen Melonen und Orangenschalen, und ein Fischgeruch füllte die verzwickten Höfe, die von allerlei zerlumptem Gesindel mehr wie überfüllt waren. Da stand ein Kaufen um den Kessel eines Koches herum und wartete, bis seine Maiskolben gar und genießbar waren. Dort hatte sich ein Kreis gebildet um zwei streitende Weiber, die sich an den Haaren gefaßt hatten und mit den Füßen kämpften wie eifersüchtige Hähne. In einer kleinen Sackgasse sah man edlere Gestalten; was Mann war, den Zylinder auf dem Ohre, was Weib war, das Halstuch mit dem Palmenmuster über den Schultern, mit verklärten Gesichtern um einen Künstler versammelt.

Innocenz staunte. Der Mann, der hier Ketten zerbrach, als ob sie aus Maccaroniteig wären, war Master Samson, der Athlet aus dem Zwischendeck des Schiffes. An seiner Seite debütierte ein Schiffsjunge in der Kunst, mit den Ohren zu wackeln. Nicht jeder vermag es, in dieser Fertigkeit einen Maulesel zu überbieten. Wer es zum Meister brachte, konnte in Melbourne das Tauende des Leichtmatrosen für ein überflüssiges Erziehungsmittel erklären.

Die zwei Erleuchteten überbrettelten vor ausverkauftem Kaufe, denn selbst die obersten Dachluken des Winkels waren mit ungewaschenen Gesichtern gestopft, wie eine Entenbrust mit Trüffeln. Als aber am Schlusse der Vorstellung der Schiffsjunge einen Versuch machte, mit dem Zinnteller zu kreisen, verschwanden die Signori nebst den Matronen und aus den Dachstühlen ergoß sich ein wahrer Wolkenbruch von Muschelschalen, alten Pantoffeln und schimmligem Heringssalat über die Häupter des unglücklichen Paares, das in den Winkeln von Santa Lucia eine Premiere riskiert hatte.

»Sie werden in Hongkong ein dankbarer Publikum finden,« bemerkte Irma und zog ihren Begleiter hinter sich her.

Sie gingen. Aber sie kamen nicht weit, da stießen sie wider einen anderen Bekannten. Zwanzig Leute, die von einem Schiff ans Land gehen, wie fangen die's nur an, daß sie den Anschein erwecken, als ob sie eine Völkerwanderung wären? Es ist kaum möglich, ihnen auszuweichen. Sie füllen die Kirchen, die Museen, die öffentlichen Plätze, Straßen und Wirtshäuser.

Außer anderen wimmelte auch Jankel Navratil da herum. Er stand mit seinem Sack unter den Schustern. Seine zehn Finger hatte er nach und nach herausgeholt und als römische Ziffern vor den Nasen dieser Handwerker aufmarschieren lassen. Es war kein Einverständnis erzielt worden. Jankel hatte mit seinem Kinde seine großen Projekte ins Meer versenkt, er mußte wieder am Kleinen anfangen. Was die Landschaft Gutes bot, wollte er aufkaufen und es dort mit geringem Nutzen absetzen, wo es nicht gedieh. So hoffte er, sich vom Süden nach dem Norden an den Breitegraden hinaufzuwinden und sein geringes Reisegeld zu retten zur Gründung eines Grünkramhandels auf dem Markte von Zentschtochau. Frau van der Klingen hatte kaum gesehen, woran es in dem Handel fehlte, als sie mit ihren Sprachkenntnissen und ihrem Geldbeutel für den Juden eintrat. Jankel Navratil füllte seinen Sack und war überglücklich, daß er noch Kredit besaß in der Welt.

»Euer Name kommt auf die ›Sollseite‹ meines Hauptbuches. Regnet's einmal wieder auf den alten Navratil aus dem Schoße Abrahams, so soll's tröpfeln auf die, die sich seiner erbarmten. Nehmt indessen eine Kleinigkeit mit vom alten Navratil,« sagte er und drückte Irma ein Paar allerliebster Kinderschuhe in die Hand, warf seinen Sack über die Schulter und ging mit schlürfenden Schritten den Winkel hinauf, während diese das Geschenk des Juden in den Händen wiegte.

Seltsame Gedanken mußten es sein, die durch den Anblick der Kinderschuhe in den beiden Menschen wach wurden, brennend heiße Gedanken, denn ihre Pulse klopften und ihre Wangen wurden rot. Sie blickten einander an, und eins las im Herzen des andern Empfindungen, die heraus wollten und sich doch durch kein Wort verraten durften. Auch suchten sich ihre Hüften mit einer stehenden Inbrunst, wie die von Braut und Bräutigam. Was jetzt noch zwischen ihnen geschehen sollte, das konnte keine Zuschauer brauchen. Beide fühlten das, und es fand sich leicht eine Droschke, die das Paar hinaustrug in die üppige Luft des Golfes von Bajä. Golf von Bajä, wer kann an deinen Wassern sitzen und sich noch über die Erbsünde kränken, die uns um das Paradies gebracht hat? Golf von Bajä, wen hat der Duft deiner Orangenhaine umschmeichelt und ihm nicht die Zunge gelöst zu Liebesliedern? Golf von Bajä, wem hätte deine Sonne in den Busen geschienen, ohne ihn zu erwärmen? War's da zu wundern, wenn zwei Menschenkinder, unter dem knorrigen Stamm eines Ölbaumes sitzend, sich innig aneinander schmiegten und wortlos, traumverloren zusahen, wie schäumende Wellen die geschmeidigen Formen badender Menschenleiber spielend auf- und niederwiegten? Ach, wer es so gut hätte wie diese Kinder des Volkes, wer wie sie die Fesseln einer verlogenen Konvention abschütteln und Mensch werden könnte, oder noch etwas mehr als Mensch, ein halber Engel. Gestehen wir's nur, es war ein wenig Neid, was an den Herzen unseres Pärchens nagte und was sie schließlich veranlaßte, aufzubrechen und fortzugehen.

Aber wohin? Nur immer am Rande des Meeres hin, wo die Wellen kicherten, hintereinander herliefen, sich einholten und aus zweien eins wurden, wie zwei Menschenkinder in der Liebe. Wo die blanke Sonne sich im blauen Wasser spiegelte und die Fischlein wärmte, die so mollig hinglitten in der Flut über dem schimmernden Meeresgrund. So legten sie in langsamem Hinschreiten einen Kilometer nach dem andern zurück und standen und sahen über ihren Häuptern, droben unter Buschwerk und Pinienkronen das Türmchen und die Mauern des kleinen Klosters Camaldoli.

Das rief, das lockte. Wie mußte es herrlich sein, da oben zu stehen. Arm in Arm, und auf Gottes größtes Meisterstück herabzusehen, auf den Golf von Neapel. So bogen sie ab und wanderten einen Pfad hinauf durch Ölgärten, die unter dem Silberschimmer ihres Laubes die reichen, schwarzpolierten Früchte versteckten. Dann kam Buschwerk von Kastanien, über das wenige Hochstämme ihre Kronen erhoben. Wo der Pfad auf Stufen den letzten steilen Gipfel zu erklimmen hatte, schwankten hellgrüne Pinienkronen über nackten Felswänden. Welch ein Säuseln, Raunen, Flüstern in Nadeln und Zweigen! Welch hohepriesterliches Neigen all der Wipfel vor der Mittagssonne! Hatten die Bäume all dies vornehme Zeremoniell von den Mithraspriestern abgeguckt, deren Tempel hier am Rande der phlegräischen Felder standen? Oder war es nur ein gefälliges Neigen vor dem Kuppler Wind, der in seinen Fittichen den Samen trägt; ein Ducken, wie sich vor dem Hahn die Henne duckt? Wohl nichts anderes, denn ein wollüstiges Behagen durchzitterte den Äther, wurde von den Nervenfasern gierig angesaugt und streckte und dehnte jeden Muskel im Körper der zwei Wanderer.

Sie blieben zuweilen stehen, sahen sich in die Abgründe ihrer Augen atmeten kurz, zitterten und gingen doch wieder weiter. Der Schrei eines Vogels, das Huschen einer Eidechse über den heißen Stein half ihnen mehr wie einmal über eine moralische Krise hinüber.

Endlich waren sie oben und standen auf einer kleinen Plattform vor dem rebenüberrankten Eingang einer ländlichen Osteria.

Welch wunderbarer, ungeheurer Kontrast! Im Hintergrund der ernste Vesuv mit seiner ewig drohenden Rauchsäule. Vor ihm ausgebreitet die singende Stadt mit ihrem Gewimmel von Türmen und Palästen. Zu Füßen der azurblaue, lachende Spiegel des Meeres und als sein Rahmen die Felsgestade von Sorrent, Capri, Ischia und Procida. Wer Gott selber schaut, kann nicht geläuterter werden als einer, der von der Höhe von Camaldoli sein Werk in der Tiefe gesehen hat. Da schweigt im Menschen alles Persönliche. Bewunderung erobert das Herz, weitet es und füllt es ganz aus, wie die Erbse ihre Hülse füllt. Da ist für Anderweitiges kein Platz mehr, und was uns vorher zu versengen drohte, rinnt von uns nieder, wie der Wachstropfen von der Kerze rinnt.

Auch unser Pärchen stand eine Zeitlang wie versteinert da. Ganz Auge geworden, schienen sie einander vergessen zu haben und nichts von all dem, was kurz zuvor noch das eine so mächtig zum anderen zog, wagte sich zu regen. Ein heiliger Sonntagsfrieden hatte all das heiße, stürmische Begehren mit frommem Glockengeläute zu Grabe getragen, aber nicht zum Tode, sondern zur Auferstehung. Zwei kleine Hände, die lustig ineinander patschten, bewirkten das erhabene Wunder.

Die Patrona der kleinen Osteria war nämlich, als die jungen Leute gar keine Anstalten machten, hereinzukommen und ihren Wein zu trinken, unter die Tür getreten. Eine wundernette Hebe mit schwarzen, fliegenden Locken um die Stirne, stand sie unter dem schwergeladenen Rebstock. Die Füße staken nachlässig in roten, ausgetretenen Pantoffeln, die Hüfte war voll, ohne üppig zu sein, und unterm Mieder schien sie die straffen Früchte der reifenden Melone zu verbergen. Wer die harmonisch ausgeglichene, rassige Erscheinung sah, mußte das Land beneiden, das sie hervorgebracht hatte.

Wer kennt ein lockenderes Wirtsschild als die jubelnden Augen einer freundlichen Wirtin? Ein Winken nur, und Innocenz saß mit Irma van der Klingen in der freundlichen Schenke vor einer bauchigen Flasche, in der die Glut der phlegräischen Felder gefangen und mit Bast umwickelt war. Auf sauberen Schüsseln brachte die gesprächige Wirtin Früchte und Käse herein, und nach einer kleinen Weile hatten die Gäste nicht nur alles vor sich, was das kleine Haus barg, sondern sie kannten auch dessen Geschichte vom ersten Liebesabenteuer der Patrona bis zur Geburt ihres Jüngsten, der im Nebenzimmer durch leises Wimmern der Mutter begreiflich zu machen suchte, daß er Hunger habe. Diese verstand und deckte dem Schreihals einen allerliebsten Tisch, indem sie unbefangen einige Knöpfe an ihrem Mieder löste.

Welch ein Anblick! Der kleine hungrige Lockenkopf bei dem reichen Mahle an der Mutterbrust! In den Augen Irmas blitzte ein wildes Verlangen nach Mutterglück. Die Patrona sah es und ihre forschenden Augen wanderten schalkhaft zwischen ihren Gästen hin und her.

»Haben Sie noch keinen Bambino?« fragte sie.

»Nein!« entgegnete Innocenz und sah verlegen auf seinen Teller, während die Augen seiner Begleiterin mit begehrlichem Feuer an seinem Munde hingen.

»Nein?« fuhr die Wirtin, in einen gelinden Eifer geratend, fort. »O, dann gehen Sie zur Madonna del monte. Sie vermag viel. Sie hat schon vielen geholfen. Zwar ich und mein Giovanni haben sie nicht nötig gehabt, aber Signora Masimo war bei ihr, und die Unbefleckte hat sie erhört. Freilich, sie wird jetzt wieder zu dem Gnadenbilde müssen, denn was ihr die Madonna gab, hat ihr der Tod wieder genommen. Der kleine Danielo liegt auf dem Stroh. Gleich wird die Glocke läuten, dann tragen die Engel den toten Knaben zur Himmelspforte, und der Bambino wird ein Angelo. ›Sie brauchen eben viel Engel da droben,‹ sagt der Pastore, ›drum sterben zurzeit viel Kinder im Dorfe.‹ Nun gut, so mag die Madonna del monte nur schaffen. Kann sie das Sterben nicht hindern, so muß sie das Gebären erleichtern.«

So plapperte die rundliche Matrona munter und unbefangen weiter, bis der Klang eines kleinen Glöckchens vom Kloster herunter in die Osteria fiel. Rasch erhob sich die glückliche Mutter, nahm den schlafenden Säugling von der Brust und legte ihn zutraulich in Irmas Schoß.

»Er wird nun schlafen,« sagte sie, »und bald werde ich wieder zurück sein.« Nun hüpfte sie, als ob es zum Tanz ginge, in ihren klappernden Pantoffeln lustig über die Schwelle.

Die Liebesleute waren allein, allein mit einem Kinde, zu dem sie in so merkwürdiger Weise gekommen. Sie sahen sich mit Schelmenaugen an und mußten lachen.

»So könnte es einmal werden zwischen uns,« sagte Innocenz, das verlegene Schweigen brechend.

»Ach, wenn das möglich wäre,« seufzte Irma, legte das Kind aufs Bett und warf sich mit wildem Ungestüm an die Brust des jungen Mannes.

Innocenz fühlte das pochende Hämmern ihres Herzens an dem seinen, fühlte die weiche Wärme ihrer Glieder, und Gott und die Welt vergessend, hob er mit starkem Arm die süße Last, um sie aufs Lager der Patrona zu tragen.

Da sah er dem Kinde, das da auf geblümter Steppdecke schlief, ins engelreine Antlitz und bebte zurück. Eine Eva hatte dem Manne den Apfel gereicht, so weit war's. Sollte er zugreifen und ein Paradies zerstören, das Paradies seiner Ehe? Was würden sie später als Mann und Frau denken, wenn sie sich dieser Stunde erinnerten? Innocenz setzte seine Last auf den Bettrand nieder und sich daneben. Es herrschte ein qualvoll verlegenes Schweigen. Beschämt und fast grollend ließ Irma das schöne Haupt mit dem flatternden Haar auf die Brust sinken. So saßen sie lange stumm und blickten nur einmal mit bösem Gewissen erschrocken auf, als der Wind mit einem Rebzweig von außen ans Fenster klopfte.

Wie lange sie so saßen? Bis das Klappern der Holzpantoffeln auf den Steinfliesen die zurückkehrende Patrona meldete. Da fuhren sie auf und saßen mit steilem Oberkörper da vor dem eingeschlafenen Kinde.

Die Wirtin war nach dem Gang auf den Kirchhof fast noch lustiger als zuvor. Sie musterte mit zusammengekniffenen Lidern die zerknitterte Bettdecke und sah den beiden schelmisch in die verlegenen Gesichter.

»Die Madonna del monte kann auch nicht alles allein machen,« sagte sie, den alten Faden des Gespräches wieder aufnehmend. »Der Mensch muß dazu helfen, dann wird's schon recht werden.« Und sie strich bedeutungsvoll lächelnd die Steppdecke glatt und wehrte dem schlafenden Kleinen einige Fliegen, die sich von seinem süßen Mäulchen einen Nachtisch holten.

Innocenz dachte: ›Wenn der Schein gegen uns spricht, so helfen Worte, die uns reinwaschen sollen, nur wenig.‹ Deshalb trat er dem Verdacht der Wirtin kühn auf den Kopf, zog Irma, als ob sie seine kleine Frau wäre, zärtlich an sich heran und streichelte ihr die sammetweichen, rosigen Wangen.

Da erwachte das Weib aus der Lethargie seines Sinnenrausches, besann sich auf seine Hausfraupflichten, wischte mit der Hand an des Arztes Rock herum und prüfte die Westenknöpfe darauf hin, ob sie festsaßen oder nicht.

Die Sonne war derweil hinter den Felsenrücken der Insel Capri hinabgeglitten, und unser Pärchen rüstete sich zum Aufbruch. Die freundliche Patrona geleitete mit fröhlichem Gesicht ihre Gäste bis zur Terrasse und wagte beim Abschied die schüchterne Frage: »Wohin nun des Weges?«

»Weit da hinten hin nach China,« belehrte Innocenz und deutete mit dem Finger über die Campagna hinaus gegen Osten.

Die kleine Wirtin schüttelte sich in ängstlichem Grausen vor den Heimtücken der Ferne. Ihr Fuß war nicht einmal so weit gekommen, als von hier oben ihr Auge reichte. Alles, was drüben hinter dem neapolitanischen Apennin lag, war für sie eine terra incognita voller Gefahren. Sie streckte ihre Arme kreuzweise nach den Schultern und holte ihr Halstuch näher an ihren Nacken heran, als ob sie friere. »Addio!« rief sie den Davoneilenden zu und verschwand, froh wie die Schnecke um ihr Häuschen, hinter der Tür.

Unsere Fußgänger waren in dem tief eingeschnittenen Kiesweg bis zu einer Stelle gekommen, wo die Osteria für immer für sie verschwinden mußte. Wehmütig sahen sie sich noch einmal um nach der freundlichen Hütte, deren Einsamkeit sie einander so nahe gebracht hatte, daß sie fast ein Ehepaar waren. »Addio!« riefen sie zurück. Dann nahm sie eine schmutzige Gasse auf, aus deren Höfen und Winkeln eine bettelnde Kinderschar hervorbrach und ihnen ein wenig erwünschtes Geleite gab. Als endlich der ausdauerndste dieser Barfüßler seine bettelnde Hand in die Hosentasche gesteckt hatte und heimgegangen war, waren auch die Lehmmauern verschwunden, und es weitete sich wieder die blühende Campagna vor den Blicken der Wanderer, und dahinter grollte und kollerte, rauchte und blitzte der Vesuv, an dessen Schroffen soeben die Abendschatten seiner Nachbarberge im Schneckentempo langsam emporkrochen. Heitere Daseinsfreude mit Schrecken gepaart lag kontrastvoll über der Landschaft und im Gemüt der beiden Heimkehrenden.

Innocenz freute sich des Sieges, den er über die heiße Leidenschaft errungen und dachte an ferne, glückliche Tage, wo ihm liebe Pflicht würde, was jetzt noch Sünde war. Irma aber wurde ein Gefühl beleidigten Stolzes nicht los, machte sich selber Vorwürfe, daß sie zu freigebig gewesen, und grollte dem, der nicht »Herein« zu rufen wagte, als das Glück mit zitterndem Finger an seine Tür pochte.

So waren sie in stummem Vorwärtsschreiten auf die Höhen über Neapel gekommen und in den Schatten starker Festungsmauern, in deren Zinnen die letzten Sonnenstrahlen langsam verglühten. Da wurden beide beherzter und vergaßen, was vorgefallen war. Ihre Arme umschlangen sich, und ihre Lippen fingen an, sich zu suchen. Ein Soldat, der aus dem Guckloch eines Schilderhäuschens heraus den Leutchen zusah, hätte seinen ganzen zukünftigen Kriegsruhm hingegeben für so viel Liebesglück, als Innocenz sein eigen nannte. Nie glühen die Wünsche heißer als zu einer Stunde, wo sie unerfüllbar sind.

Bald kamen in der Ferne vereinzelte Lichter, dann deren viele, und es dauerte nicht lange, und zu Füßen der Wanderer lag von Castellamare bis zum Posilippo in weitem Bogen eine Milchstraße von Licht. Die Menschen hatten Feierabend gemacht, waren aus ihren Backstuben und Grünzeugläden herausgekrochen und füllten, hungernd nach Luft und Abendkühle, die steilen Gassen. Rassige Mädchen mit versengenden Glutaugen legten den Arm eines Bäckerburschen oder eines Eseltreibers über ihre Schulter und schritten selbstsicher, ohne Furcht vor übler Nachrede, über das Pflaster. Vor den Schenken saßen andere auf den Knieen ihrer Galantuomos, rauchten Zigaretten und bliesen ihren Anbetern Ringel um die Nasen. Selbst ausgelebte Greise mit Kahlköpfen standen, das Weinglas in der Hand, vor den Osterien und verzapften aus zahnlosem Munde Liebesworte an Sardinenmatronen und Streichholzverkäuferinnen.

Da wurde unser Pärchen auch seinerseits seines Rechtes sicher. Sie wichen niemandem aus und gingen auch nicht mehr dem Schatten der Mauern nach. Fest ruhte Irmas Arm in dem des Arztes, wie der Anker in der Trosse.

So kamen sie zum Hafen. Hell klang der Ruf Irmas über das Meer hin und weckte den Gondoliere, der schlafend in seinem Boote saß. Die Ruder senkten sich ins Wasser und warfen aus der schwarzen Tiefe kleine Schaumwellen, die hurtig wie Ratten über den Wasserspiegel liefen und sich im Dunkel verloren. Bald lag der Nachen am Fallreep, und zwei Menschenkinder kletterten über seinen schaukelnden Hand am schwarzen Schiffsrumpf empor. Ein »Grazie, Signorina!« aus der Gondel war der letzte Gruß des europäischen Festlandes, den sie mitnahmen hinaus in die winkenden Weiten.


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