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In den nun folgenden Wochen sah man den jungen Doktor häufig im Bürgerkasino sitzen, versteckt hinter alten und neuen Tagesblättern, deren Annoncenteil er mit Gewissenhaftigkeit durchforschte. Den Rest seines von den Eltern ererbten Vermögens hatte er in Briefmarken angelegt und nun begann ein eifriges Korrespondieren mit aller Welt. Heruntergekommene Feudalherren boten dem Medikus ihre Schlösser an, damit er aus ihnen Sanatorien mache. Wer eine Schafweide hatte, offerierte sie zu Terrainkuren. Ärztewitwen mit fast noch ungebrauchter Bettwäsche wünschten einen Nachfolger ihres Seligen für sich und für eine alte Schindmähre, die im Stalle auf drei Beinen stand. Ein Apotheker brauchte zur Hebung seines Geschäftes einen unbezahlten Reisenden und meinte, daß Innocenz Lorum die allein geeignete Persönlichkeit wäre, den Umsatz zu steigern. Der Gemeindeschreiber gar von Trippsdrill versprach dem Suchenden seine hohe Protektion bei der demnächstigen Neubesetzung der Gemeindearmenarztstelle, falls Herr Lorum die Ehre zu würdigen wisse, daß er ihm seine gut beleumundete Tochter nebst der Gratisbeigabe eines Enkels zur Gattin anbiete. Ein wahrer Regen derartig wohlwollender Angebote ging auf den jungen Arzt nieder und wusch den Glauben an eine christliche Nächstenliebe gründlich von ihm herunter. Als aber zuletzt noch ein bankerotter Bierbrauer mit der Zumutung kam, sein Brauhaus umzuwandeln in eine Pension für Damen, welche sich zurückzuziehen wünschen, wobei man mit Leichtigkeit den Braukessel in ein Schwimmbad umwandeln könne, da packte ihn eine wütende Verzweiflung, und er ging zur Post und erklärte, daß er eine Reise um die Welt antrete, und daß man alle Briefe an seine Adresse in einem möglichst feuergefährlichen Tresor aufheben solle, bis er persönlich käme, sie abzuholen.
Von diesem Augenblick an drückte Innocenz den Schlapphut tiefer in die Stirne und machte große Bogen um alle Briefträger herum. Auf seinen ziellos einsamen Gängen durch Wald und Feld rechnete er, was bei einem Handel mit Holzschuhen herauskommen könne, oder was rentabler sei, Hundescheren oder Schwabenfang hinter alten Küchenherden. Er hatte schon längst den Glauben verloren, daß er mit dem, was er gelernt hatte, sich jemals ein Stück Brot verdienen könne, als ihm eines Tages ein verschrumpftes altes Weib, welches einen Regenschirm in die linke Achselhöhle geklemmt hatte, über den Weg lief. Sie trug ein Gebetbuch in einem schwarzwollenen Fausthandschuh und murmelte, den Fremden nicht beachtend, leise vor sich hin:
»Herr, gehe nicht mit ihm ins Gericht, denn, wenn du willst unserer Sünden gedenken, Herr, Herr, wer wird bestehen mögen?«
»Oh, du liebes Herrgöttle von Bieberau, bin ich allweil erschrocken,« stieß sie, aus der Inbrunst ihres Gebetes fallend, heraus, als sie plötzlich gegen Innocenz gelaufen war. Und sie blieb zitternd stehen und sah, um Nachsicht flehend, an dem langen Menschen hinauf.
»Nicht zu ängstlich, Mütterchen, Ihr habt mir kein Gefach eingedrückt, und wenn der Zusammenstoß Euch nichts geschadet hat, so könnt Ihr Euren Weg fortsetzen, wenn Ihr mir erst gesagt habt, wohin Euch die frommen Füße führen sollen.«
»Ach Gott,« seufzte die Alte, »wißt Ihr's denn nicht, der Physikus Wackernagel in Birkenried ist gestorben und ich will ihm noch die letzte Ehre erweisen. Er war ein braver Herr, dem ich meine drei Buben verdanke. Versteht mich wohl, ich sage ihm bei Leib nichts Schlechtes nach, aber was Wochenbetten anbelangt, da geht nicht leicht einer über ihn. In manchen anderen Dingen freilich kann man ihn weniger loben. Er war zu rasch mit dem Messer, aber, wie gesagt, wenn ich noch zwanzig Kinder gekriegt hätte, kein anderer wäre an mein Bett gekommen.«
»Freilich,« sagte sie und strich eine eisgraue Haarsträhne hinters Ohr, »ich werde ihn wohl entbehren können, aber das junge Volk der Weiber, das für die Nachzucht sorgen muß, kann mich dauern. Er war geschickt und roch auch manchmal gar so gut nach Wein, eine rechte Erfrischung für so kleine Leut'. Nun, nichts für ungut,« sagte sie noch, dann nahm sie ihre stille Andacht mit einem: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, erhöre meine Stimme!« wieder auf und ging ihres Weges weiter.
Innocenz sah der Abgehenden sinnend nach. Dies halbe Lob aus dem zahnlosen Munde der Alten, war es nicht mehr wert als die Ode eines Hofpoeten, als der Ordensstern eines Fürsten? Und der stille Kummer um den Heimgegangenen, galt er nicht mehr als das Geschrei von tausend bezahlten Klageweibern? Dieser Doktor Wackernagel, für den jetzt eine Glocke aus der Talsohle traurig über die Felder hinweinte, hatte er nicht ein Leben hinter sich, das verdiente, gelebt zu werden?
Innocenz richtete sich stolz auf, auch er war ein Arzt und konnte erreichen, was dem Entschlafenen gelungen war. »Aus dem Munde der Einfältigen hast du dir dein Lob bereitet.« Dies Wort der Bibel erfüllte seine Seele mit Entzücken und sollte der Leitstern seines Lebens sein. Wo der Tote einst gestanden, da mußte jetzt eine Lücke sein, die er ausfüllen konnte, und wenn der Ruhm, der da zu holen war, sich nicht weiter ausbreitete, als der Klang der Kirchenglocke reichte, so sollte ihm auch das genügen. Der junge Arzt beschloß, den Versuch zu wagen, ob er den toten Helfer ersetzen könne.
Zwei Tage später stand Innocenz in derben Stiefeln, die anzeigen sollten, daß ihm kein Weg zu rauh sei, vor dem Bürgermeister von Birkenried im weißgetünchten Ratszimmer. Er stand, denn der wacklige Lehnstuhl, den man ihm angeboten hatte, flößte ihm kein Vertrauen ein.
»Sie wären also,« sagte der Ortsgewaltige und schneuzte seine Nase in ein blaues Taschentuch, »Sie wären also,« wiederholte er mit Nachdruck, »geneigt, gegen ein angemessenes Wartegeld und die Lieferung von drei Metern Buchenscheitholz zu Brennzwecken, sich hier als Arzt niederzulassen? A propos, das Holz dürfen Sie im Walde selber aussuchen und wenn Sie sich darauf verstehen, Nutzholz von Brennholz zu unterscheiden, so haben Sie am Wagner einen sicheren Abnehmer, falls Sie gleich losschlagen, da sonst Ihnen keiner garantieren kann, daß nicht das Holz vor der Abfahrt gestohlen wird. Im Zahlen freilich ist der Wagner nicht sehr eilig, aber er ist zur Stunde Witmann, und wenn es ihm gelingt, eine reiche Erbin zu heiraten, dann zweifle ich nicht daran, daß Sie zu Ihrem Geld kommen. Der Mann ist im kleinen ehrlich wie ein Gewürzkrämer.«
Innocenz war über die mancherlei Möglichkeiten seinen Lohn hereinzubekommen, nicht gerade erfreut und seufzte hörbar. Der Bürgermeister musterte ihn überrascht mit seinen pfiffigen Schweinsäuglein und fuhr fort: »Sie sind ein Anfänger und müssen vor allem billig sein. Die Masse muß es bringen. Hier im Dorfe sind die Leute mager. Der Verlust eines Ziegenbocks oder eine Doktorrechnung von fünfzig Mark kann mehr wie zwanzig angesehene Firmen zum Bankerott bringen. In den Nachbarorten, im goldenen Grund dahinten, da, ja da sitzen die Fetten, die Schmalz geben, wenn man sie zu braten weiß, da mögen Sie dann die Feder tiefer in die Tinte tunken. Ein Arzt, der hier ab- und zuzugeben versteht, kann Millionär werden. Ihr Vorgänger freilich hat dies nicht erreicht, er lebte eben danach. Er war imstande, drei Handkäs auf einen Sitz zu essen und obendrauf einen Rollmops. Bei derlei Anlagen zur Schlemmerei kann dann freilich am Ende des Jahres nichts übrig sein, was im Alter zum weichen Polsterstuhle wird.«
Innocenz unterbrach den Redner und fragte, ob er, der Bürgermeister, dem toten Doktor die Leichenrede gehalten habe.
»Es war unrentabel und gefährlich, die Trauer zu steigern,« meinte der Ehrenfeste, »denn es weinten ohnedies eine Masse Menschen. Es war nämlich das Gerücht in Umlauf, daß die Erben alte Ausstände eintreiben würden. Da wurde mancher traurig, und die Tränenströme rissen beinah Furchen in den Boden. Geben macht seliger als Nehmen. Schade um den Nachruhm, daß der Entschlafene dies vor seinem Tode nicht bedacht und seinen Erben die Hände gebunden hat.«
»Da werd' ich wohl mit einem Benefiziat hier aufziehen müssen, der meine Millionen verteilt,« bemerkte Innocenz bissig.
Der Bürgermeister sah interessiert durch die Brillengläser und sagte schmeichelnd: »Überlaßt die Verteilung uns, denen es zusteht. Aber wenn Ihr beim Rezeptschreiben zuweilen eine Mark verliert, so werdet Ihr die Volksgunst finden, ohne Zweifel, und die braucht Ihr, denn ich will es Euch nicht verschweigen: Ihr habt einen Feind und einen gefährlichen Konkurrenten im Ort. Ich rede von dem letzteren zuerst. Er heißt der Knochenfranzel und ist ein hausgemachter Doktor. Ihr wißt von den Leberwürsten her, daß das Wort ›hausgemacht‹ einen guten Klang haben kann. Also der Knochenfranzel hat nicht studiert, aber er hat einen Instinkt wie ein Nagelbohrer. Er dringt Euch in die Tiefe ein wie ein Holzwurm und erkennt Euch die Trichinen hinter dem Nierenstück. Darin ist er jedem Studierten überlegen. Seine Mittel sind die denkbar einfachsten und machen keinen Apotheker reich. Einem Manne, dem ein Vogel im Gehirne pfiff, setzte er eine Katze ins Genick und vertrieb den Teufelsspuk, und einer Frau, die einen Drahtstift verschluckt hatte, riß er einen Nagel von der großen Zehe. Nun hatte sie nicht mehr Nägel wie jede andere auch und war gesund. Er ist eben ein Praktikus, von dem Ihr manches lernen könnt, wenn Ihr nicht im Aberglauben lebt, daß man die Weisheit nur bei Professoren holen könne.«
Innocenz fing an, den Prediger von Birkenried nicht mehr ganz ernst zu nehmen und versprach, daß er den Franzel in Ehren halten wolle wie einen Heiligenknochen. Als der Bürgermeister solch liebevolle Rede hörte, schmunzelte er befriedigt, ließ den Faden fallen, an dem der Knochenfranzel baumelte und zog einen anderen Hampelmann auf die Bühne.
»Bedauerlicherweise,« fuhr er fort, »habt Ihr Euch Gegner geschaffen, bevor Ihr noch hier waret. Euer Auftreten am Hohlweg vorm Dorf hat einen Fasel stößig gemacht, der ein gutes Gedächtnis hat. Vorerst sind ihm die Hörner klein, allein sie können wachsen. Nicht immer bleibt das Gemeinderegiment in Händen, die es mit Weisheit und Mäßigung verwalten. Die Macht hat schon mehr wie einmal einen Tyrannen geboren. Doch noch geht es ja gottlob mit Unserer Gesundheit!« sagte er schmunzelnd und strich sich über die Magengegend, »noch kann – nichts für ungut, junger Freund – Arzt und Totengräber bei mir kein Geschäft machen. Aber wie es wird, wenn Wir die Augen zudrücken? Nach David kam Salomo, und diesem folgte Rehabeam mit der Skorpionenpeitsche, und Ihr wißt, daß selbst der beste von den dreien seinen Nebenbuhler um eines Weibsbildes willen aus dem Wege schaffte. Hütet Euch vor dem Balduin Hebenstreit! Wie ich ihn kenne, läßt er in einer gewissen Sache nicht mit sich spaßen.«
Innocenz hatte den bevormundend lehrhaften Ton jetzt satt. Er reckte seinen Körper mächtig gegen die Decke, strecke seinen Ziegenhainer vor und hauchte den Ortsgewaltigen also an: »Herr Bürgermeister, sagen Sie gefälligst Ihren alttestamentlichen Königen, sie möchten nur kommen und noch eine Schaar Philister mitbringen. Den Innocenz Lorum und seinen Knotenstock würden sie dann schon finden. Ob ich nun aber dem oder jenem gelegen oder ungelegen komme, das lasset meine Sorge sein. Kommen werde ich unter allen Umständen und damit bis auf weiteres Gott befohlen!«
Bevor noch der Alte aus seinem Lehnsessel hinterm Tisch sich erst in die Ellenbogen, dann in die Knie gearbeitet hatte, war der Arzt zur Türe hinaus und die Treppe hinunter. Auf der Straße steckelte einer, dem ein rotes Schnupftuch zur hinteren Rocktasche heraushing, vorsichtig um eine Herde Gänse herum. Seine Füße waren überhangen von weiten Gamaschen, und durch die Hosen hindurch konnte man an einem Knick sehen, wo das Stiefelrohr an der Wade abschnitt. Sein Gang war breitspurig schwankend, und jede der wackligen Bewegungen des Untergestelles begleitete der Kopf mit einem zustimmenden Nicken. Zuweilen befreite sich eine behandschuhte Faust aus einer der Seitentaschen des Rockes und wischte aus dem weißgelben Bart die Tränen herunter, die der Wind aus den alkoholverschleierten Augen zapfte. Die ganze Erscheinung hatte etwas schwer Gemästetes an sich, dem das Messer des Schlächters Tod nicht weit vom Nacken drohte. Innocenz kam auf die Idee, daß es der Knochenfranzel sein möchte, und er hatte sich nicht getäuscht. Denn es währte nicht lange, so sah er einen Jagdhund, der das rechte Vorderbein hoch hob, auf den Alten zuhinken. Dieser erwartete, das Gesäß gegen eine Hauswand gelehnt, den Klienten. In halb sitzender Stellung untersuchten nun beide Hände des Kurpfuschers das verletzte Glied. Als sie fertig waren, fuhren sie dem Feldmann in das braune Fell und legten sich dann wie segnend über die geduldigen, klagenden Augen.
Innocenz betrachtete das Tun des Alten mit wohlwollendem Interesse. ›Er ist gutmütig,‹ dachte er, ›und wenn er in etwas von der Täuschung seiner Mitmenschen leben muß, so ist er drum nicht schlimmer wie tausend andere. Schließlich verspricht auch der Pfarrer mehr als er halten kann. Vom Glauben leben viele, und die eingebildetsten Dinge werden zu Realitäten für den, der an ihre Existenz glaubt. Wer mit noch so leeren Versprechungen einen anderen über die Zeit seiner Schmerzen hinwegtäuscht, hat mehr geleistet wie einer, der ihm sagt: ›Aus den und den offensichtlichen Symptomen erhellt, daß die Wiederherstellung Ihrer Gesundheit für den naturwissenschaftlich Denkenden ein Ding der Unmöglichkeit ist.‹ Innocenz nahm sich vor, mit dem Alten auf gutem Fuße zu leben und sein karges Einkommen so wenig wie möglich zu schmälern. ›Leben und leben lassen!‹ sollte die Devise sein.