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Tin-Tin

Das glänzendgrüne, steife Laub des Vutubaumes schlug drohend zusammen im Südostwind; über die weitzerstreuten, dunkelbraunen Giftnüsse krochen mit leichtem Knistern Eremiten- und Landkrabben; die weichen, lichtrosa Blüten der Guebbäume, die hellbraunen Ndilonüsse, die sulzigen grünweißen falschen Litschi, die purpurvioletten Natabonüsse und die braunfelligen Iwi oder Tahitikastanien vermengten sich mit verschleppten Korallenstückchen. Ochsenzungen, Philodendron, Blutlianen umschlangen die hohen Baumstämme; wuchsen üppig auf gestürzten Hölzern. Die hohen dichtverschlungenen Kronen ächzten schwer bei jedem Windanprall.

Ueber Tin-tins nackten Rücken lief die Gänsehaut.

Noch rief im Urwalddunkel der Notu – die schwarze Taube – sein tiefes Mu-mu, aber die weißen Flecke der Teakrinde röteten sich im Abendlicht und die Geister der Lianen erwachten; er hatte schon zum zweitenmal den Druck einer kalten Hand auf der Schulter verspürt.

Vorsichtig sprang er über ein tiefes Krabbenloch, wich einem Juckbaum aus, an dessen Rinde das Pech in hundert klebrigen Streifen niederfloß, beugte sich jäh nieder unter einem Waiki, von dem träge eine schwarze Schlange niederhing und streifte eine gelbkörperige Riesenspinne vom Oberarm ab; mit dem Buschmesser schlug er sich eine Oeffnung durchs enge Buraugeäst und kletterte hinaus auf eine Lichtung; ein Strohbüschel war mit Kokosfasern an jeden Baum gebunden; das war Tabugebiet, nur Eingeweihten zugänglich.

»Aaaaa–iiii! Aaaaaiiiii! aaaaaaaa–iiiiii!«

Tin-tin näherte sich einem mit Kieselsteinen umfriedeten Platz. Er stach das Buschmesser in die Erde und grub eiligst. Nach wenigen Minuten zeigte sich ein verwesender Leichnam.

»Tabumann! großer Tabumann! Ich bin's, Tin-tin, das Kind deines Bruders! Leih' mir deinen Geist ... aaaa–iiiii, aaaaaa–iiiiii, aaaaaaaaaaaa–iiiiiiiiiiii!«

Während er sprach und den Geisterruf hören ließ, löste er die Nägel der rechten Hand des Toten aus den noch verbleibenden Fleischresten, brach jedes oberste Fingerglied ab und reinigte es schnell mit dem Buschmesser; schnitt dem Leichnam die Kehle aus, nahm einige schon ausgefallene Haare und riß, nach einigem Zögern, einen Zahn aus dem Kiefer. Seinem eigenen Lendentuch entnahm er einige hellgrüne Blätter, schlug alles Gesammelte hinein, wickelte unter leisem Gemurmel Kokosschnüre darum, bis eine Art Puppe entstanden war und scharrte das Grab neuerdings zu.

»Dein Geist nun mein Geist, Tabumann, Tabumann ... du stark und ich stark ...« Er legte die Kieselsteine in alter Ordnung herum, erhob sich, reinigte das Buschmesser sorgfältig am Tabulaub, zog das Lendentuch fester, lief den Weg, den er gekommen.

Die Schlange an der Waikiliane, deren Früchte so täuschend an unsere Kartoffeln erinnern, blinzelte schläfrig; tief im Dickicht stieß der Notu noch immer sein lautes Mu-mu aus; durch das Stammgewirr hindurch glühten die Westwolken wie Hibiscuskelche. Das Meer schimmerte wie ein Opal unter roter Ampel.

Der junge Schwarze hatte nur einen Gedanken: Nun würde auch er einen Su besitzen.

*

Tin-tin lag allein in seiner Kumali; Are und Wara waren auf Wildschweinjagd gegangen und Albet fischte.

Die feine warme Asche schmiegte sich wie eine Decke um die Glieder. Der Kessel sang leise, eintönig wie ein schlafsüchtiges Weib. Der Rauch drückte sich zur angelehnten Tür hinaus, prallte vom Wind besiegt zurück, scheuchte die Tropenasseln aus dem Dachstroh und kroch schwärzend um die Balken; von dem einen hing rußumsponnen, unkenntlich der Su.

Am Strande schrien die Fischer.

Tin-tin rieb sich den Bauch mit heißer Asche und träumte; von Zeit zu Zeit tränten die Augen vom Rauch. Das mußte so sein; es stärkte den Blick.

Plötzlich erklang ein seltsamer Laut vom Dachbalken. »Khraa…khraaa…khraa…« wie wenn jemand erstickt.

»Nun lebt der Su,« flüsterte Tin-tin und setzte sich auf.

»Khraa…khraa…khraa…«

Da kletterte er empor, löste vorsichtig das Bündel, öffnete es, schob einen länglichen Stein von rauher Menschenform zu den Knochen und rollte alles in breite Fellstreifen des fliegenden Fuchses.

Gleich nach Morgengrauen würde er den Su weit von der Kumali verstecken und füttern bis ...

Stimmen näherten sich. Er band den Zauberstein ins Lendentuch und zog es straff; streckte sich auf dem Erdboden aus und rieb den Körper mit warmer Asche.

Albet stieß die Türe auf und warf einen Riesenpapageifisch nieder. Selbst im fahlen Kumalilicht glänzten die Schuppen blaugrün wie Edelsteine; funkelten die Flossen wie Silber.

Tin-tin lachte, hob den Kessel von den Steinen und fachte das ersterbende Feuer an.

*

Je schneller er ausschritt, desto heftiger peitschte das lange Besenkraut Tin-tins nackte Beine; desto nasser wurden sie vom tauschweren Gras.

An der Buschgrenze stand ein alter Nanduledule. Die hellgrünen starkduftenden Früchte hoben sich verlockend aus dem Laub, aber Tin-tin widerstand der Versuchung; über verschlungene Wurzeln, zerstreute Seidenbaumwolle, die aus ihrer breiten braunen Hülse gefallen, über Krabbenlöcher und tückische Sumpfstellen hinweg erreichte er einen hohlen Tamanu; tief im Loch ruhte der Su. Die Federn einer schwarzen Henne lagen über den Waldboden verflattert.

Auch Spuren anderer Opfergaben ...

Die Finger des jungen Eingeborenen zitterten, als sie sich um das Ding schlössen. Ein Su war etwas Furchtbares: etwas, das Macht gab über den Besitz, den Willen, das Leben anderer; etwas, das kein fremdes Menschenauge erspähen durfte; etwas, das Furcht, Haß, Rache zeitigte. Von nun an würde er mächtig sein wie die Feuergeister von Ambrym, die im kochenden Berge lebten und goldbraune Flügel hatten ...

Ein Wonnegefühl unbegrenzter Stärke durchrieselte ihn; auch etwas Angst vor den sichtbaren und unsichtbaren Widersachern, die er von nun an haben würde.

»Was kommen soll, kommt!« Und schicksalsergeben lächelnd verließ er den Busch, den Su in der schwarzen Hand verborgen.

Vor einem wilden Pfefferstrauch voll scharlachroter Früchte stand eine Henne; sie gehörte vermutlich dem ›Lehrer des Lichts‹. Sie war fett und gackerte unverschämt.

Tin-tin drehte langsam die Hand, die den Su umspannte; prüfte den Wind. Er blies von ihm in die Richtung der Henne; war günstig.

Kaum hörbar murmelte er die Beschwörung, hob den Su und machte eine schnelle Stoßbewegung durch die Luft. Die Henne fiel um – tot.

Tin-tin war zufrieden. Der Su war fertig, zauberkräftig; der Geist des großen Tabumannes lebte in ihm.

Trotzdem war es schade, eine fette Henne liegen zu lassen; aber Federn verrieten den Besitzer. Er rupfte sein Opfer und warf es über die Schulter.

Nackt waren sich alle Hennen gleich.

Er ging stolz mitten durch das Dorf, den Su in der einen, die Henne in der anderen Hand.

Vor dem Missionshaus stand der ›Lehrer des Lichts‹, wunderte sich über die fette Henne, ärgerte sich über den frechen Heiden und schluckte tapfer eine Chininpille gegen das peinigende Tropenfieber.

Tin-tin bedachte sich einen Augenblick lang, schwang die Henne kampfbereit und sagte gleichmütig:

»Guten Morgen.«

*

Der Himmel war wie ein Korallenmeer; aus dem tiefen Blau brach schimmerndes Grün, gedämpftes Rot, flammendes Orange, unmerkbar verrinnendes Gelb; die windgetriebenen Wolken bildeten Blumen, Geäst, drachenartige Ungeheuer mit weißen Häuptern, endlose Seeschlangen, graue Sandbänke ...

Immer mehr dunkelte der blaue Grund nach, die Farben erstarben, die Drachen tauchten unter im goldrandigen Westen und als einsamer Segler glitt der Mond über die Wasser des Himmels.

Im Speisekiosk des Pflanzers erlosch das Licht, glühte als Leuchtkäfer einige Minuten hinter den breitspaltigen Jalousien der Schlafkammer; verglomm auch da.

›Banane‹, der Haushund, knurrte leise. Sein Fell sträubte sich, seine Hundeseele empfand zum erstenmal grundlose Furcht. Sein Herr schlief – weder Fußtritt noch Stock waren zu fürchten und sein Hundegewissen war überdies rein – dennoch näherte sich ihm etwas, das Leben hatte, ohne Mensch oder Tier zu sein; das schlimmer war als alle ausschlagenden Pferde, als alle faßlustigen Landkrabben, als der gestiefelte Fuß seines Herrn, als ...

Er winselte kurz auf, bewegte, wie um Gnade flehend den gekürzten Schwanz, fühlte den unerbittlichen Anprall des Fremden, Feindlichen. Die Hundekehle versagte jeden Laut. Durch die alten Glieder ging ein starkes, kurzes Beben. Banane lag auf dem Rücken, die Beine starr – aller irdischen Dienste enthoben.

Tin-tin drückte den Su gegen die eisenbeschlagene Tür des Kaufladens; sie ging mühelos auf.

Er lehnte überwältigt gegen den tintenbespritzten Ladentisch. Unbegrenzte Macht! Macht sogar über das Eigentum der Weißen! Fürwahr, sein Su war der Schlüssel zu Reichtum, zu Genuß und – seine Augen funkelten – zu Rache.

Er durfte nehmen was er wollte. Aber was? Im Grunde wollte er nichts; nichts als die Macht genießen, die der Zauberstein verlieh. Er steckte einige Tabakstäbchen in den Palmenstrohgürtel, prüfte die Stoffe, wühlte im Bohnensack, aß Zucker und Zwieback.

Die Kassenlade war offen geblieben; er ließ die großen Silberstücke durch die Finger gleiten; Geld verrät keinen Herrn. Er band einige Silbermünzen ins Lendentuchende.

Nun konnte er gehen.

Er drehte die Klinke der Tür – sie rührte sich nicht. Er versuchte das vergitterte Fenster aufzubrechen – vergeblich! Er saß wie die Ratte in der Falle und sah kein Entkommen.

Was war geschehen? Warum versagte der Su?

»Tabumann, Tabumann, du Verräter ...!«

Fand man ihn hier, so würde er wohl erst tüchtig durchgeprügelt und dann nach Vila ins Gefängnis geschickt. Mehr als einer starb dort an Heimweh nach den Inseln oder an Fieber und in jedem Fall war sein Zauberstein verloren ...

Was war nur geschehen? Hatte er eine Formel unterlassen?

Und plötzlich kam das Verstehen. Geld durfte man nicht anrühren, auch mit dem Su nicht. Im Erz lag ein Gegengeist. Schnell löste er das Silber aus dem Lendentuch, legte es zurück in die Lade, versuchte die Türklinke zum zweitenmal. Sie gab sofort nach; er stand im Freien.

Der Mond war untergegangen, nur die Sterne funkelten kalt und drohend wie mißvergnügte Augen.

Tin-tin stolperte über etwas – erkannte den toten Hund.

Tief in ihm regte sich etwas wie Widerwillen; er warf die gestohlenen Tabakstäbchen von sich und lief ohne anzuhalten den weiten Weg bis zur eigenen Kumali.

Den Su verbarg er im rußigen Stroh des Daches.

*

Die steifflügeligen dunkelbraunen Bananennachtfalter umtänzelten die trübbrennende Stalllaterne der Kumali. Das Feuer war erloschen, doch von den erhitzten Steinen, der warmen Asche, dem verkohlten Holze stiegen leichte Wärmewellen auf, streiften die Schläfer, vermengten sich mit Rauchresten, den Geruch frischen Schweißes und alten Kokosöls, endeten im Ruß des Hüttendaches.

Ein dürrer Zweig knarrte.

Der Nagel, der gleichsam den Türriegel bildete, flog in die Höhe; Tin-tin, den Su in der Hand, schlich sich ins Hütteninnere. Nichts weckte die Schläfer.

Vorsichtig legte er den Zauberstein als Wache auf den warmen Erdboden, flüsterte ihm Beschwörungsworte zu, näherte sich dem Lager eines jungen Weibes, neigte sich leidenschaftlich über den nackten Körper.

Das war sie – sie.

Wie er sie begehrt hatte! Vier Eberzähne, krumm wie die Mondsichel, zwei Kühe, zehn Rollen Tabak und fünf Säcke Kopra hatte er ihrem Vater versprochen und er hatte sie Bulebat, dem Dickbäuchigen, dem Missionsdiener, dem elenden Hosenträger, dem Heuchler und Liedersänger gegeben! Nun würde sie dennoch sein werden gegen den Willen und das Wissen aller!

»Khraaa…khraaa…khraaa…!« hüstelte warnend der Su, aber Tin-tin stürzte sich auf die schlafende Koevi und vergaß alles; war taub und blind gegen alles außer gegen sie, die er so lange begehrt hatte und die er nun besaß ...

Schon krähte der Hahn zum drittenmal, als Tin-tin sich mit seinem Su unter die Schläfer der eigenen Kumali mengte. Albet zankte im Traum und Ara hatte ›kurzen Wind‹. Er litt an Bronchitis.

»Wo warst du?« fragte er zwischen zwei schmerzhaften Atemzügen.

»Am Strande – ich suchte Muscheltiere!« und gleich darauf atmete er tief wie jemand, der in gesunden Schlaf versunken.

*

Auf den Neu-Hebriden schlafen alle Junggesellen in der Lagmal, dem Vereinshaus oder – wenn Arbeiter – in einer einfachen Kumali; selbst Ehemänner überlassen die Hütte meist Frauen und Kindern, denn mit Weibern zu schlafen macht unkriegerisch. Bulebat aber war ›Christ‹ und außerdem eifersüchtig auf sein junges Weib. Wer eine Kuh hat, muß sie anbinden; eine Henne brütet am sichersten im Hüttenwinkel; seine Seele vertraut man am besten und plagelosesten zur Aufbewahrung dem ›Lehrer des Lichts‹ an und die eigene Frau – bei der schläft man. Das ist am angenehmsten und am ratsamsten.

So teilte Bulebat der Dickbäuchige nach Art der Weißen die Schlafhütte seines teuer bezahlten Weibes.

Koevi hatte einen Halbbruder, der zuweilen von Tongoa herübergefahren kam und Yam und Taro brachte, und in diesem Falle schlief er, als naher Verwandter, immer in einem Winkel der Kumali Bulebats; so wollte es langbestehende Inselgastlichkeit.

In der Nacht, in der Tin-tin die schöne Koevi sein eigen machte, lag Botu in einer Ecke. Er schlief, aber durch sein Traumleben ging alles, was um ihn geschah, denn er gehörte allerdings noch zu den »Kindern ohne Licht«, den Heiden, die der Missionar vergeblich zu bekehren versucht hatte, aber er wußte allerlei und hatte vor Jahren von einem mächtigen Tabumann den »Sehtrank« eingeflößt bekommen, der gegen alle Zauberei schützt und der sofort den Suträger verrät. In seinem Gürtel trug er das »weckende« Blatt und er sah, was anderen Augen verborgen, er war nicht zaubergebunden, wenn andere Sterbliche zwangschliefen. Es war daher Botu, der nach dem Morgenimbiß und nachdem seine Halbschwester um Feuerholz gegangen war, zu Bulebat sagte: –

»Du weißt, es gibt Träume und Träume. Jemand hat heute nacht bei deinem Weibe geschlafen. Hoho, jemand, der den Su besitzt. Was willst du tun?«

»Hast du ihn erkannt? Weißt du seinen Namen, Diener der schwarzen Eule?«

»Nein, aber ich könnte ihn dir beschreiben; indessen wozu? Du als Schulsänger und Hosenträger kannst ja doch nichts tun!«

Bulebats Augen funkelten, rollten finster. Vergessen war die neue Lehre ...

»Laß das Wort aus und sein Blut gehört den Krabben!« Selbst die langen krausen Brusthaare zitterten vor Erregung.

»Er ist schlank, hat einen finster ausweichenden Blick, eine Schramme auf dem Rücken und eine vernarbte Inselwunde über dem Bein auf der Herzseite. Kennst du ihn?«

»Tin-tin!« flüsterte Bulebat und riß sich am Haar.

»Tin-tin von Burumba? Hüte dich, Bulebat, geh' langsam vor und tu' nichts ohne mich! Er ist stark! Er hält den Su ...«

Bulebat nagte an der Oberlippe und versprach's geistesabwesend.

Nach einer Weile erhoben sich beide Männer, nickten sich zu und schlugen verschiedene Richtungen ein.

*

Bulebat verriet sich. Er kam zu oft und zu auffällig nach Burumba; er schlich ohne genügende Vorsicht durch den Busch hinter dem Feinde her. Sein Lachen war ein zu unnatürliches Grinsen, wenn beide an einem Sing-sing teilnahmen. Tin-tin wußte sich entdeckt. Nun mußte Bulebat die lange Seereise zu den Riffgeistern antreten ...

Eines Morgens hörte er ihn durch das tauschwere Gras dem Strande zulaufen; sein Atem kam immer in ungeduldigen Stößen. Tin-tin prüfte die Windrichtung, fand sie günstig; hob den Su und führte die gewohnte Stoßbewegung aus, nachdem er lange mit der rußigen Puppe wie mit einem Menschen gesprochen. Auf den Korallenriffen jenseits der Nelsonbucht zeigte sich Bulebat wie ein kleiner schwarzer Punkt.

Plötzlich tanzten die Wellen wie tausend Flämmchen vor dem Klippenwanderer auf und nieder. Er vergaß, wozu und woher er gekommen, er wollte weiter hinaus zu diesen lockenden Flämmchen, sein Fuß glitt aus, er stürzte, schlug die Stirne gegen einen scharfen Korallenvorsprung, versank ...

Zwei Stunden später fand ihn ein Kanakenweib, von den Wellen träge hin- und hergeworfen – tot.

Tin-tin saß vor der Kumali und schnitzte den Griff eines Assagais. Er sang nicht. Im Grunde war es ja dumm bei der Arbeit zu singen. Vor Wochen hatte allerdings auch er gesungen; das tat man wohl so.

Er war aber kürzlich ernst geworden wie die ganz Alten.

*

Wer mochte ihn verraten haben? Wer hatte Verdacht geschöpft? Das durfte nicht andauern, wenn er leben wollte. Wer?! Jemand, der den Sehtrank getrunken hatte, der die warnenden Blätter besaß.

Botu? Unzweifelhaft Botu.

Aber bevor er sich rächen durfte, mußte nach alter Sitte der Su befriedigt werden. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Das bedeutete neuerdings einen nächtlichen Gang. War der Zauberstein wirklich solch ein begehrenswerter Besitz?

Vor vier Tagen hatte man Bulebat begraben; nach alter Kanakenart. Man hatte die Leiche mit Oel gerieben, sie in fünf neue Wolldecken gehüllt und bis zu einer Lichtung unweit des Strandes getragen. Vor dem seichten Grabe waren die Träger stehen geblieben und hatten das festgeschnürte Bündel geschwungen ...

»Ooooo–i, oooooo–i, ooooooo–i ...«

Hin und her, hin und her; und plötzlich war's im Loch verschwunden und die Träger hatten schleunigst Erde darüber gescharrt, Kieselsteine im Kreis herumgelegt und Lärm gemacht, um den Geist abzuschrecken.

Tin-tin hatte dem Totenmahl beigewohnt wie alle anderen, hatte mitgegessen, mitgetrunken und mitgesungen. Was für ein Sing-sing! Er hatte selbst Koevi angeschaut, die nun frei geworden ...

Er seufzte unwillkürlich bei der Erinnerung; sein Verlangen war tot.

Nun hieß es vor allem, den Su zufriedenzustellen; vom Diener war er zum Herrn geworden, vom Segen zur Last.

Er nahm seinen Assagai und ging am Strande entlang; seit er den Su besessen, hatten die langen warmen Nächte auf der Kumaliasche aufgehört. Er war immer unterwegs, gerade wenn die Geister der Lianen frei wurden, die Schlangenmenschen der Klippen wachten und die Unholde der Berge umherstreiften; wenn der Nakaimas ... nein, daran wollte er am liebsten gar nicht denken.

Der Mond stand im letzten Viertel; es war finster ringsumher zur frühen Nachtstunde. Unsicher tastete er sich vor, fand die Lichtung, die Steine ...

Er scharrte und scharrte; fieberhaft, ohne zu denken. Im Urwaldinnern schrie eine Eule; seltsam, wie unter leichten Schritten, knisterte das tote Laub; ein Ast brach irgendwo in der Nähe mit lautem Geknatter. Eine Kokosnuß fiel dumpf in einiger Entfernung. Die Brandung drohte.

Endlich fühlte er die erste Decke; er hob den langen Assagai und stieß ihn durch die Hüllen in den Leichnam, drehte und drehte die krumme Spitze, zerfleischte all das Weiche, Faulende, gegen das er stieß, das er eher ahnte als fühlte. Die Hüllen zerrissen. Am Ende des Assagais hing ein Stück wurmigen Fleisches – die Speise des Su.

Tin-tin öffnete das gutgeschlossene Bündel, legte das Fleisch Bulebats auf die Reste des Tabumannes, besonders auf den einzigen Zahn, den er ihm ausgerissen; rollte und band alles wieder sorgfältig zusammen. Diese Nahrung forderte der Su; das war sein Anteil an jedem Toten. Auch würde, falls diese Vorsichtsmaßregel vergessen bliebe, der Geist Bulebats frei sein und ihn verfolgen. Nun aber war er eins mit dem Su – war Helfer und Diener.

So schnell als irgend tunlich scharrte Tin-tin die Erde zurück über den Leichnam, legte die Steine zurecht und kletterte über die Klippen heim. Die kühlen Wogen, die von Zeit zu Zeit gegen seine Beine schlugen, taten ihm wohl.

*

Ueber den Nachthimmel glitten die Wolken still wie fliegende Füchse; schwarz, scharfumrissen standen die Bäume um die Lichtung.

Tin-tins Gang war müde wie der eines Greises. Botu entzog sich ihm; um ihn her, in Burumba, knisterte es wie Verdacht in jäh abgebrochenen Gesprächen.

Er hatte Botus Hütte gesucht – jenseits der Ringdovebucht, die der Berg neidisch bewachte; er wußte, daß er an Ort und Stelle gewesen, daß seine Hände in Wahrheit das Stroh der Kumali gegriffen und dennoch hatten nur Dornenlianen die Haut von seinen Fingern gerissen, Dornengewinde seine nackten Beine zerfleischt.

Nun hatte er den Nakaimas um Hilfe gebeten – ihn, den größten der Epigeister – und hatte sich auch jeden einzelnen Baum der Biegungen eingeprägt. Er würde Botu entdecken, ihn vernichten und dann wieder still leben wie zur Zeit der vergangenen Regen, ehe er den Su ...

Ha, da war sie; heute sah er sie deutlich. Und hinter dem dünnen Strohgefüge der Wände schlief Botu. Tin-tins Assagai war spitz und lang. Auch klebte noch Gift von Bulebats Leiche daran.

»Ah, Botu!«

Die Wolken jagten schneller dahin – wie aufgescheuchte Buschtauben.

Die Türe der Kumali öffnete sich halbweit. Botu, die eine Hand auf dem Zauberblatt im Gürtel, spähte angestrengt in die undurchdringliche Finsternis. Ein großes bläuliches Licht zeigte sich ihm, der den Sehtrank genossen.

Dort mußte Tin-tin verborgen sein.

Dieser – den Su in der einen, den Assagai zur erhöhten Sicherheit schon jetzt gehoben in der Hand – schlich näher, unbekümmert um hindernde Kriecher und das feindliche Swisch! Schwisch! des taunassen Grases.

Warnend schrie der Nakaimas in der Gestalt einer schwarzen Neu-Hebrideneule.

Tin-tin zuckte zusammen; der Geist hatte gesprochen. Er versuchte die schützenden Verzweigungen des nächsten Buraus zu gewinnen.

Zu spät!

Botu hatte den Stein auf die Schleuder gelegt, zielte mitten ins dunstige bläuliche Licht am Urwaldsrand und ließ los. Ein heiseres Röcheln, noch einmal ein Käuzchenschrei, doch diesmal anhaltend, langgezogen, weh; dann Stille.

Botu schloß die Türe und steckte den langen Nagel in die Strohschlinge. Es war nicht gut, außerhalb der Kumali zu sein, wenn der Nakaimas umging ...

*

Albet kletterte über die niedrigen Riffe und fischte.

Die Sonnenstrahlen schnellten auf den Schaumkronen auf und nieder wie Goldfische. Sie schossen plötzlich über einen dunkleren Gegenstand hin.

Albet hielt die Hand schützend vor. War's ein Baumstamm, eine treibende Kokosnuß, ein gebrochener Ausleger oder ...?

Bei der Flosse des Hais, es war ein toter Kanake!

Albet sprang, ohne an die eigene Gefahr zu denken, ins Tiefwasser; erhaschte das Haar des Toten, zog ihn daran ans Land, drehte ihn um.

»Tin-tin!« sagte er ganz langsam und noch einmal »Tin-tin!« Allerlei Gerüchte flogen ihm dabei durch den Sinn. Unwillkürlich untersuchte er Hände und Lendentuch; sie waren leer. Nur auf der Stirne, dicht an der Schläfe, zeigte sich eine Wunde. Er mußte sich an einer Klippe verletzt haben; und so war er wohl betäubt geblieben und ertrunken. Ganz wie Bulebat. Das war jedenfalls eine Erklärung, es mochte nun in Wahrheit sein wie es wollte. Nur die Weißen fragten immer nach dem Warum?

Er trug die Leiche zur gemeinsamen Kumali.

*

Weit draußen, auf den glitzernden Wassern, fuhr ein Dampfer gegen Santo. Der Kapitän erspähte einen schwärzlichen Gegenstand in Schiffsnähe. Der zweite Offizier neigte sich über die Reeling und meldete: –

»Nichts als ein rußiger Fetzen!«

Und er trat in den Speisesaal, um einen Whisky zu trinken.

Was wissen endlich die fremden Weißen vom Su?!


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