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Die Blaue Eidechse

Sie war ein Kind der Passage.

Manchmal, allerdings, wenn sie ihre Gedanken zusammenhielt, schwer und widerstrebend wie ihr langes Haar im Wintersturm, sah sie eine alte Glasmalerei in Blau und Rot – einen segnenden Christus – und davor, irgendwie dazugehörig, einen alten Mann in langem Talar, der halb sprach, halb sang, vorne Bänke, viele Bänke und Männer und Frauen ...

»Was war das?« hatte sie ihre weiße Mutter gefragt.

»Deutschland!« Und die blonde Frau hatte meist mit abgewandtem Gesicht hinzugefügt:

»Die Christuskirche.«

Aber das war nur eine verschwommene Erinnerung, nichts das Hintergrund gab. Die Passage war ihr Reich, ihr eigenstes. Sie kannte alle Händler, alle Winkel, alle Stimmungen; auch die Passage hatte ihre guten und schlechten Tage, und ein Blick sagte ihr, selbst im Halbdunkel der späten Nachmittagsstunden, welche Jahreszeit es sein mochte. Chinesisch hatte sie aufgeschnappt wie ein Papagei Worte aufschnappt und warf sie nun den Zuhörern an den Kopf; feilschte um ein paar Tungsel mit der zähen Ausdauer eines alten Eckenwucherers und sah dem Leben, dem Geschlechtsleben besonders, mit einer Klarheit in die Augen, die selbst eine Frau im Westen nicht erreicht. Man sieht so viel Nacktheit im Osten, hört so viel – zu viel um unwissend zu bleiben –, aber es lockt keine verbotene Sünde. Was ist – ist; Punkt.

So oft sie konnte, schlüpfte sie zum Bilderhändler, der den Laden zur Linken ihres Vaters hatte. Da stöberte sie in verstaubten Winkeln, zog alte Farbendrucke heraus und ließ sich die Darstellungen erklären. Sie erkannte sofort Lao Tse an seinem langen Barte und dem Sumpfbüffel, auf dem er ritt, Yen S' Tien Dschuen an dem blauhaarigen und blutrotnasigen Einhorn, Dan Ren an seinen dicken Pfirsichen ewigen Lebens und Dschoan Ti an seinen neun Köpfen und achtzehn Armen; sie wußte, daß die drei bösen Feen Bi Shan, Wing Shan und Tschung Shan auf Pfauen durch die Lüfte ritten, begrüßte stets vergnügt den lachenden Buddha oder Freund der Kinder, dessen großer nackter Bauch sie an eine geschälte Kartoffel erinnerte, und bangte sich im Dunkeln zuzeiten vor Tong Tien Dyau Tsu, dem Reiter der Wolken, oder glaubte, im Dämmern die feurigen Räder an den Fußsohlen Loa Dschas zu sehen, ohne durch all dieses Götterwissen irgendwie beeinflußt zu werden. Das Tiefere des Glaubens erreichte sie nicht; auch sagte die Mutter wegwerfend »Heidenkram« dazu und der Vater achselzuckend »Missionarsnarrheiten«, wenn sie vom Christentum sprach. So wurde alles kurz »Aberglauben«. Das einzige, das sich nie änderte, war die Passage. Ihr Inneres klammerte sich an diesen einzigen festen Punkt in ihrem Dasein.

Ihre Mutter machte Handarbeiten im gedämpften Licht des Ladens. Zuerst, als die Passage kaum Tatsache geworden war, hatte die blasse blonde Frau daheim gewirtschaftet in einem Hause mit vielen Toren und noch mehr Höfen. Chinesinnen mit frischen Duftblumen im Haar waren gekommen und gegangen, und einmal hatte die Kleine vernommen, wie die Mutter erbittert ausgerufen hatte:

»Ich hasse – oh, ich hasse diese Weiber!«

Und ein Teller war krachend zu Boden gefallen.

»Warum jagst du sie nicht fort?«

Aber die blonde Frau hatte nur die Lippen aufeinandergepreßt und war weggegangen.

Da hatte die Kleine zur Ama gesagt:

»Warum gehen die Weiber in Hosen mit Blumen im Haar nicht fort?«

»Das ist die I Taitai und die Ni Taitai und drüben die San Taitai.«

Sie war klein, aber sie plauderte chinesisch fließend auf ihre Kinderart.

»Nebenfrauen von Papa? Oh ... er will einen Sohn haben?«

Sie war Chinesin genug, um zu wissen, daß ein Mann einen Knaben wollte. Es war ihr aber doch angenehm, als ihre Mutter anfing, in der Passage zu bleiben und die fremden Chinesenkinder wegjagte, wenn sie kamen.

Wahrscheinlich lag ihrem Vater mehr an den Chinesenjungen der Nebenfrauen, doch rief er die Tochter häufig zum Tisch vor dem Laden, erklärte ihr die Mandarinenknöpfe und die damit verflochtene altchinesische Geschichte, zeigte ihr die Fläschchen, die von innen heraus bemalt wurden, besprach die Vorzüge der alten Porzellanvasen oder wies auf die Feinheit der Lackarbeiten hin. Sie war schnell im Denken und ließ sich nie irreführen, sprach deutsch und etwas englisch und sah den ›weißen Teufeln‹ mutig ins Gesicht.

Schön war sie mit ihren funkelnden schwarzen Augen, dem gelblichen Farbton und den langen, etwas spröden Haaren, und das Quecksilber hatte sie im Leibe; sie flog durch die Passage, schoß wie ein Pfeil um die Ecken, sauste die Treppen empor und schob sich zwischen zwei Sprechern hindurch, bevor sie ihre Nähe ahnten. Dabei hatte sie eine eigene Art, wenn bei guter Laune, die Beine von sich zu werfen, als hingen sie nur an Fäden und könnten nach Belieben eingehängt und ausgehängt werden, und so oft sie die Beine so warf, zuckten die Arme ebenfalls wie galvanisiert und kreisten die Zöpfe wild um den Kopf. Und immer trug sie Blau. Die Leute, die sie näher kannten, behaupteten Frau Shien Chang habe einmal einen Ballen blauen Stoffs gekauft und verarbeitete ihn nun allmählich. Sicher war, daß die Europäerin, die in Deutschland einen Chinesen als Rettung aus aller Geldnot geheiratet und von Neophritbändern, Türkisen und Elfenbein geträumt hatte, nun teilnahmslos im Hinterladen saß und das Leben müde vorbeiwehen ließ, wie dürres Laub. Blau war praktisch, daher trug Gertrude blaue Kleider, Winter und Sommer. Das schmutzte nicht und das erinnerte nicht an Chinesenkinder, wie Rot, Weiß oder Schwarz.

In der Schule rief der Lehrer sie Chang oder seltener Gertrude Chang, aber in ihrem wahren Heim – der Passage – nannte man sie einfach Land Shieh Hutse – die blaue Eidechse.

*

Man wird anders groß in China, selbst wenn man die deutsche Schule besucht, als daheim. Das Leben selbst ist anders. Man fährt morgens in der Rikscha in die Schule; man gleitet vorbei an geheimnisvollen Toren, die grellrot aus dem Grau der Mauer brechen und große glänzende Messingknöpfe tragen; man hört tagein, tagaus das Geschrei umziehender Händler, sieht immer wieder das Kochen, das Haarschneiden, das Schuhflicken auf der Straße und atmet Wüstenluft ein, wenn die Sandstürme den Himmel in Kaisergelb hüllen und schwächer, wenn die Kamele im Indianermarsch durch die Straßen ziehen. Die alten blaugedeckten Pekingerkarren sind sich viele Jahrhunderte lang gleich geblieben und in den Tempeln weidet sich das Auge an uralter, wundersamer Kunst. Die Winter sind klar und kalt, der Wind flüstert von den Steppen Sibiriens und dem Eismeer dahinter; die Sommer sind glühend, erlahmend, haben etwas in sich von Tropenerschlaffung und Tropenschwermut. Im Frühling, da toben die Sandstürme am ärgsten. All das aber legt sich auf das menschliche Herz und drückt ihm den Stempel des fernen Ostens auf.

All diese Einflüsse, hundertmal verstärkt, hatten die blaue Eidechse geformt, denn in ihr kämpfte das Blut des Vaters gegen das der Mutter, schlummerte Fuchsglauben und Vampirfurcht neben westlicher Mystik der Liebe, hing das Herz an alter Stickerei wie an etwas Lebendem und verachtete der Verstand die niedrige Bestechungskunst. Ihre europäische Empfindlichkeit lehnte sich auf gegen das Gespucke um sie her, das widerliche Nasenputzen der Chinesen, und ihr Stolz bäumte sich auf bei dem Gedanken, einmal einen Chinesen heiraten zu sollen, der zwei, drei Taitais hatte.

Sie würde einen Weißen wählen, denn sie war schön.

Bei diesem Gedanken warf sie die Beine und die langen, noch ungelenken Backfischarme nach allen Richtungen, ließ die Zöpfe kreisen und lachte; es gab genug Studenten, die es ihr gesagt hatten, doch hatte sie es nur mit Püffen gelohnt. Angenehm zu hören war es dennoch gewesen ...

Die alten Chinesen aber setzten die Fächer in Bewegung, lachten und riefen quer durch die Passage zu einander:

»Land Shieh Hutse tanzt ...«

Eines Tages war ein Fremder vor dem Tisch ihres Vaters stehen geblieben, gerade als sie dastand und die alten Vasen liebevoll mit einem Tuche abrieb. Sie hing an solchen Vasen, wie andere Menschen an Schmuck oder Tieren. Wenn sie über die blauen Phönixe strich, träumte sie von Geisterflügen durch die Lüfte, von Tempeln, in denen sie harrte bis ein solcher Himmelsvogel niederflog und sich in einen jungen Mann verwandelte, ebenso schön wie reich, der sie zu seiner Frau machte und in ein Land trug, in dem man weder zu lernen noch zu arbeiten brauchte. Sie hatte sich eben die Züge eines passenden Mannes ausgedacht, als die unbekannte Stimme sie aufsehen und einen Schrei ausstoßen ließ, denn der Fremde sah so aus, wie sie ihn eben vom blauen Phönix steigen gesehen, mit dem einzigen Unterschiede, daß er nicht wallende Seidengewänder, sondern höchst prosaische Stoffhosen trug.

»Ah, Sie haben schöne Vasen!« meinte er und griff nach der einen. Seine Augen aber sagten noch viel deutlicher: –

»Donnerwetter, haben Sie eine schöne Tochter!«

Die blaue Eidechse lachte ganz leise. Aufs Augenlesen verstand sie sich. Dennoch stieg, zum erstenmal in ihrem siebenzehnjährigen Leben, eine kenntliche Röte in ihr Gesicht. Ihre unruhigen Finger tändelten ganz unbewußt mit einer zum Verkauf ausgelegten Mandarinenkette.

Der Fremde blieb lange an dem Tische, stellte viele Fragen, kaufte, ohne zu strenges Feilschen, mehrere Sachen. Beim Weggehen reichte er Shien Chang seine Karte. Die Augen der Tochter machten sich, obschon aus drei Schritt Entfernung, schneller mit dem Inhalt vertraut, als der im Deutschen schon nicht mehr ganz sattelfeste Vater.

»Dr. Friedrich Eberhardt, Berater der Yuen Bergwerke, Kalgan.«

»Ich möchte noch mehr Vasen sehen,« sagte er mit leichtem Nachdruck im Weggehen. »Ich werde wiederkehren.«

Der Vater verbeugte sich gelassen; die Tochter senkte die Augen. Die Zöpfe nickten.

Vor dem Ausgang hielt der Fremde an, besah ein paar Silberlöffel, die er gar nicht kaufen wollte und fragte nebenhin:

»Wie heißt die nette Kleine mit dem blauen Rocke und den Ebenholzaugen?«

»Die mit den fliegenden Zöpfen, die dort springt?«

In der Tat flogen neuerdings Arme, Beine, Zöpfe ...

»Ja, die ...!«

»Oh«, meinte der Silberhändler lachend, »das ist Land Shieh Hutse.«

»Ihr Götter ... die blaue Eidechse!«

In der Jugend reifen Gefühle wie Tropenfrüchte; sind bluterhitzend, farbenschön, fieberzeugend und wässrig im Grunde; kranken an übereiltem Wachstum. Die beiden jungen Leute sprachen von Vasen, von Elfenbeinanhängern, von Türkisen aus den Tiefen der Mongolei, aber ihre Augen sprachen darüber hinweg und die Hände zuckten, wenn sie sich zufällig berührten. Shien Chang machte Geschäfte und die blaue Eidechse tanzte, aber nicht länger wie ein mauererklimmendes Tierchen, sondern wie eine Blume, die sich sachte dem Wehen des Windes hingibt. Die aufgeht im Glücke ...

Die alten Chinesen aber rieben die geschnitzten Kerne zwischen den Händen, um die Finger gelenkig zu erhalten und lachten in sich hinein. Mochte sie tun, was sie wollte, die blaue Eidechse! Sie war keine der ihren.

Die wenigen Europäerinnen, die sie beachteten, stießen sich mit dem Ellbogen an und flüsterten:

»Der entzückende Mischling!«

Und all die Zeit wuchs Land Shieh Hutse.

*

Sie genoß die Freiheit der Weißen und die eines Passagenkindes. Wenn sie nicht da war, war sie eben nicht da. Die Mutter saß im Hinterstübchen und dachte an Deutschland, wünschte, das trockenste Stück Brot dort gegen die reichlichste Kost hier vertauschen zu können und sah immer nur die drei Frauen in engen Hosen, mit dem glattgeölten Haar und den maskenartigen Zügen; alles in ihr bäumte sich gegen den Gedanken auf, daß ihr Gatte erst die Runde – und wohl eine Doppelrunde – machte, ehe er zu ihr kam. Zuweilen wollte sie sich ihm verweigern, aber da schaute er sie unter gesenkten Lidern hervor so an ... und das Grauen kroch ihr ins Herz, bis sie alles vergaß und sich nur blindlings fügte. Oft war alles in ihr schwarz von unterdrücktem Haß.

Kinder hatte sie nun keine; der innere Widerwille tötete den Keim. Ihr war's, als gingen giftige Gedanken wie Pfeile in alles, was Weib an ihr war.

Im Hinterladen flickte, nähte, stickte sie und träumte von der Heimat; schickte einen Dollar oder zwei in Tee versteckt, heim, so oft es ging und schrieb stolz von ihren »Dienern« und »Dienerinnen«. Von all dem anderen schwieg sie und die Eltern und Bekannten glaubten sie schwelgend in Wohlstand und Glück.

Das Mädchen mit ihren chinesischen Neigungen und ihrem Elfenbeinteint vernachlässigte sie. Das war ja ein Stück von ihm!

Der Vater kümmerte sich auch nicht um seine blaue Eidechse, zahlte nur ihr Schulgeld und gab ihr Aufklärungen über chinesische Kunst, wenn er gut aufgelegt war. Von Zeit zu Zeit fuhr er nach der Mongolei und einmal brachte er eine junge vierte Taitai mit, die gerade zwei Jahre älter als Land Shieh Hutse war und in ihren seltsamen Mongolgewändern von jenseits der Gobiwüste die Halbeuropäerin lachen machte. Sie tanzte vor ihr den Eidechsentanz mit fliegenden Beinen, Armen und Zöpfen und die Mongolin riß sie dafür an der Nase.

Klitsch! klatsch! schlug ihr das Eidechslein ein paar Ohrfeigen herunter und lief weg.

Aber das schien dem Eidechsenvater nicht gut genug für das Weib, das ihm Söhne gebären sollte. Er fing Land Shieh Hutse ein und im nächsten Augenblick saßen auch auf ihren Wangen ein paar Ohrfeigen.

Seither war ihr der Vater, wie sie burschikos sagte, »schnuppe«.

*

Sie hatte weder Götter noch Menschen, zu denen sie aufsah, die arme blaue Eidechse.

Oder höchstens Doktor Eberhardt, den sie zu Zeiten auf der Pekinger Mauer traf.

Zuerst war sie wild gewesen, ungebändigt, launisch, hatte ihn geneckt, ihn zu quälen versucht, immer aus dem unverstandenen Begehren heraus, selbst gewaltsam genommen und niedergezwungen zu werden, doch allmählich, als der heiße Sommer in den goldigen Herbst gerollt war, stahl die viertausendjährige Kultur der väterlichen Ahnen sich heran durch all den Taumel des Blutes und bildete in ihrem Geistesinnern wunderbaren, ewig wechselnden Hintergrund; es brach auch die Mystik der Deutschen siegreich hervor. Land Shieh Hutse ging plötzlich in die Kirche und bat den fremden Gott um – Eberhardt. Sie kniete in der ersten Kirchenbank und sang fromm wie einst in Deutschland in der fast vergessenen Kapelle: –

»Harre meine Seele ...«

War nicht der Kern der Liebe Gott?

Es war schön auf der Mauer! Einige Amas führten die Kinder der Weißen aus dem Gesandtschaftsviertel spazieren und ließen sich, wie die Amas der ganzen Welt, von den Soldaten hier oben die chinesischen Datteln von den Sträuchern pflücken, aber sonst kam zwischen zwei und vier Uhr fast niemand dorthin und nur die Sonne warf sich jubelnd über den Weg. Das Dach des Ahnentempels leuchtete tiefblau herüber und die Westberge schimmerten blauviolett. Unten, die Hata Men Straße entlang, sah man oft einen Trauerzug mit Sänften, Laternenträgern, dem üblichen Klimbim solcher Anlässe und hörte den Wirbel der chinesischen goldlackierten Trommeln, der Flöten, der Schellen ...

Das Passagenkind trank all die Schönheit ein wie ein Verdurstender. Ihre Augen sogen sich voll an der Farbenkraft der Winden, die sich in allen Schattierungen gegen das Gemäuer warfen und ihre Finger liebkosten die wenigen Chamissoastern, die sie immer mitnahm. Sie erweckten daheim tausend Erinnerungen, trugen den Duft seiner Zigaretten an sich, wie sie meinte.

Eberhardt sprach ihr nicht von Liebe. Er war zu rechtschaffen dazu, mit seinen achtundzwanzig Jahren auch schon kühl genug um zu wissen, daß man nicht jemand heiratet, der einen chinesischen Vater – die verschiedenen Taitais abgesehen – und solch eine kasteverlorene Mutter hatte, aber er fand sie unterhaltend lebhaft und hübsch, ja ... Donnerwetter, über das Erlaubte hinaus hübsch!

Was wollte man auch in Peking drei Monate lang machen? So kaufte er Zuckerwerk und schob es der Kleinen in den Mund, spielte Fangen mit ihr auf dem einsamen Wege und freute sich, wenn sie sich, sobald er sie festhielt, erst wand und krümmte, kratzte und biß und dann plötzlich einen Augenblick lang ganz willenlos in seinen Armen blieb und ihn so seltsam ergeben und glücklich anstarrte.

»Kleiner Feuerbrand«, meinte er, da sie loslassend und sah etwas wie Enttäuschung in ihr blasses Gesicht kriechen, fühlte sich halbberauscht bei dem Gedanken an ihre jähe Leidenschaftlichkeit. Sie war doch schon ganz Weib, die blaue Eidechse. Sie mußte küssen können ...

Manchmal, immer öfter in letzter Zeit, überkam ihn der Wunsch, sie festzuhalten und zu küssen, zu küssen ... Er wußte, daß sie beide in einer Minute die Welt vergessen würden, nur war es nicht immer weise, die Welt so unbedingt zu vergessen.

Er küßte sie nicht – teils weil er seiner selbst nicht sicher war, teils weil ein Restchen Mitleid ihn zurückhielt. Warum ein Passagendornröschen aus dem Kinderschlaf küssen, wenn man doch nicht erlösender Prinz sein durfte?

Aber einmal, als sie wieder oben auf der lichttrunkenen Pekingmauer wie zwei unbändige Kinder Fangen spielten, streiften seine Lippen beim Festhalten ihren Nacken; ganz sachte, er wußte selbst kaum, ob es nur Wunsch gewesen oder wirklich geschehen war. Da aber hatte sie sich losgerissen, war in Tränen ausgebrochen und geradewegs heimgelaufen ohne ihn zu grüßen oder auch nur anzusehen. Und er fühlte, daß er ihr wehgetan hatte.

Da hatte er ihr aus der Entfernung nachgestarrt und sich ein klein wenig geschämt.

*

Auf dem Dachgarten des Hotels gab es einmal wöchentlich Tanz. Dort lernte Eberhardt eine junge Deutsche kennen, die Tochter eines schlesischen Gutsbesitzers, der Bergwerksinteressen hatte. Der Vater plauderte gern Fachkram, die Tochter tanzte sehr anmutig und trug das blonde Haar in duftenden Flechten ums Haupt. Er liebte langes Haar; oft riß er mit Genuß an den langen Zöpfen der blauen Eidechse. Es tat wohl in den Händen.

Aber die blonde Dame war schon ganz Frau und kannte ihren Wert. Er lachte belustigt in ihre herausfordernden Augen und saß gerne im Vorraum des Hotels de Pékin um über Beethoven und Mozart mit ihr zu sprechen und über die neuesten Bücher Ansichten zu wechseln. Sie war gesellschaftlich abgerundet, wußte das Nötige ohne zu viel zu wissen; war hübsch. Sie hatte – o größter Vorteil! – einen Vater, der selbst einen Ingenieur brauchen konnte. Es war doch nichts, sich in Hinterchina sein Leben lang die Stiefel abzustoßen. Er machte sich angenehm, lud zu Ausflügen ein; man streckte sich gegenseitig vorsichtig die Arme zu wie unsichere Spinnen.

Eines Nachmittags, im Spätherbst, traf er Vater und Tochter als er mit dem Passagenkind daherkam.

Die junge Dame lächelte spöttisch, drohte mit dem Finger.

Der Vater betrachtete sie mit der Würdigung, die alle Männer echter Schönheit zollen. Eberhardt stotterte, etwas verwirrt: –

»Das kleine Mädchen meines Kunsthändlers«, und nach einem kurzen Zögern, »das blaue Eidechslein.«

Die junge Dame lachte, man trennte sich. Aus einiger Entfernung rief sie nochmals zurück: –

»Vorsicht, Herr Eberhardt! Eidechsen entschlüpfen leicht.«

*

An jenem Abend als Mutter Chang wieder in ihrer müden Art von Nadel und Faden aufsah, um irgendeine Auskunft zu erlangen und Land Shieh Hutse rief, stampfte die Kleine mit den Füßen und schrie zurück: –

»Ich bin eine Deutsche und heiße Gertrude. Ich bin keine Eidechse!«

Frau Chang wunderte sich über das unerwartete Nationalbewußtsein, erwiderte indessen nur: –

»Schon gut, Eid… schon gut, Gertrude.«

»Ich bin deutsch«, schluchzte das Passagenkind abends in das Kopfkissen. All das mit dem spröden Haar und der feinen Elfenbeinhaut! Vater Chang war schon bei der zweiten Gattin und die blonde Frau Chang schon beim dritten Traum, ehe Land Shieh Hutse sich in den Schlaf geweint hatte, ohne selbst das eigene Ich ganz von ihrem Deutschtum überzeugt zu haben.

Von nun an fand man die blaue Eidechse nur selten in der berühmten Passage und die alten Händler sahen sie nicht länger, Beine, Arme und Zöpfe nach der Windrose werfen. Sie folgte ohne von ihm bemerkt zu werden, Eberhardt, wußte seinen Heiratsfortschritt besser als er selbst; haßte die Fremde.

Eines Tages erlauschte sie eine Einladung nach dem Himmelstempel, erriet, daß die beiden Leute allein reiten würden, wußte, daß dieser Ritt entscheidend sein sollte und erfuhr von dem Pferdeknecht – dem Mafu – daß sie in einem Chinesengasthaus rasten wollten.

Da mietete sie eine Rikscha, feilschte erst nach alter Gewohnheit und zum Spaß eine halbe Stunde um einige Tungsel und rollte dem Himmelstempel zu.

Hinter der Diebsbrücke, wo alte vergessene Tempel, elende Hütten, Wanderbuden und Diebsschlupfwinkel einen Kranz bildeten, standen auch einige bessere Häuser. Eins davon war ein chinesisches Gasthaus und dahin pilgerten Eberhardt und die Schöne. Der kleine Garten, in dem die buschigen Chrysanthemen winzige Farbseen bildeten, grenzte an eine alte, gesprungene Mauer.

Das hatte Land Shieh Hutse herausgeklügelt. Nun bot sie einem schmutzigen Weibe einige Tungsel an, sie durch das Vorderhaus in diesen Hof zu lassen. Die Alte war hartnäckig. Weiße Teufel brachten einzig Unglück ins Haus und davon ...

»Ich bin kein weißer Teufel!« erläuterte die blaue Eidechse im fließendsten Chinesisch.

»Nein, du bist ...« und Land Shieh Hutse erhielt Einblick in ihren vermeintlichen Stammbaum.

»Und du, nasenlose Tochter einer Mutter, die öffentlich lacht und deren Großmutter unbeerdigt auf dem Richtplatz liegengeblieben, weil deine Urgroßmutter, eine Fuchsfee, den ...«

Die Alte erkannte Talent, wo es sich zeigte; sie trug kein Verlangen, ihre Familiengeschichte vor den Augen und Ohren sich sammelnder Nachbarn bis ins fünfte Glied erörtert zu haben. Sie nahm die Kupfermünzen und stieß Land Shieh Hutse durch einen finsteren Raum in einen zweiten, in dem jemand auf einem Kang lag und stöhnte.

»Jene Tür führt in den Hof, und mögen alle kopflosen Geister dir allabendlich nachjagen!« erklärte die Alte, während sie die Türe wieder zuwarf und vor das große Tor des Hauseingangs trat, um ihren Gefühlen weiter Luft zu verschaffen.

Im Hof lag Abfall. Das Sonnenlicht vermied ihn wie in Ekel. Das junge Mädchen stieg darüber hinweg, fand das Loch in der Mauer, preßte das Gesicht daran ...

Eberhardt und der »Blondkopf«, wie Land Shieh Hutse sie nannte, tranken Tee, plauderten über Musik. Das Passagenkind hörte die Worte, doch erfaßte es den Sinn nicht. Das waren Welten, die noch versperrt waren. Die arme kleine Eidechse hatte nichts gründlich gelernt, hatte von allem im Leben den obersten Schaum abgeschöpft. In allem war sie halb geblieben zwischen Vater und Mutter.

Plötzlich neigte sich Eberhardt vor und zog die blonde Dame in seine Arme. Selbst während seine Lippen ihre leicht geschminkten berührten, dachte er an den Unterschied. Wie ganz anders hatten Land Shieh Hutses Augen schon vor jeder Berührung geleuchtet! Hier ...

»Eigentlich bin ich eifersüchtig auf dich!« hörte die blaue Eidechse die Fremde mit einem liebeshungrigen Girren sagen.

»Auf mich – Liebste?«

»Hm, wer ging so gerne auf die Mauer?«

»Ach – du meinst – – die kleine Eurasierin?«

»Sie ist gewaltig hübsch ...«

»Hübsch? Sehr sogar, aber keine Reinrassige! So etwas kann man doch nicht heiraten. Zudem ist die blaue Eidechse ja Kind!«

Jäh, verärgert, glitt er vom Gesprächsstoff hinweg, küßte die reiche Blonde halb heimwehkrank nach der kaum erwachenden glühenden Leidenschaft des geschmähten Passagenkindes.

Land Shieh Hutse aber sah nichts mehr. Sie lag vor der Mauer im Staube und Abfall – bewußtlos.

*

Als sie sich – viel später – durch den dämmrigen Hof zur Türe hintastete, durch die sie eingetreten war, brannte drinnen im ungelüfteten Raum ein winziges Oellämpchen und das stöhnende Ding in der Ecke wälzte sich hin und her, wie ein verwundetes Tier. Unwillkürlich warf sie einen flüchtigen Blick darauf, erkannte nur eine Art Kugel, erriet, daß es ein Kopf sein mußte und erwachte durch die Kummerbetäubung hindurch langsam zur Ueberzeugung, daß diese Kugel schwarze Punkte hatte.

Die Außenbilder gewannen neuerdings Einlaß in das gelähmte Gehirn. Das Weib auf dem Lager hatte die schwarzen Blattern.

Geruch von Fäulnis und Unrat schlug ihr entgegen. Schmutzkrustige Finger rieben an den entstellenden Pusteln, verblieben fettig ...

Land Shieh Hutse schleuderte der Alten, die ihr den Ausgang versperrte, unwirsch eine Silbermünze zu und lief blindlings in die sinkende Nacht hinein. Er liebte eine andere und sie selbst war etwas, das man nicht heiratete, das jenseits einer unsichtbaren Mauer stand wie Pariahunde vor dem Stadteingang ...

Nicht mit einem Gedanken gedachte sie der Pockenkranken, durch deren stinkendes Loch sie zweimal gekrochen. Sie zog den vor dem Viertel harrenden Rikschakuli am Zopfe wach und sagte nur ein Wort: –

»Passage!«

Und durch die krummen Gäßchen um das mächtige Chien Men fuhr sie ihrer echten und einzigen Heimat zu ...

*

Sie lag auf dem Bette im Hinterstübchen der Passage, hielt die wehen Augen geschlossen, schlug mit unruhigen Fingern auf die Bettdecke und hörte sich sagen:

»Du hattest kein Recht, auch mein Leben zu zerstören; wenn du einen Chinesen heiraten wolltest, hättest du auf das Mutterrecht verzichten müssen, denn nun bin ich ...«

»Der einzige Trost in diesem fremden Lande, das ich nie wirklich kennen werde, das ich hasse.«

»Ah – du hast doch eine Heimat, an die du denken darfst, wenn die Schatten fallen, aber ich – ich habe nur – – – die Passage ...«

»Oh, Eidechslein, Eidechslein!«

»Ich heiße Getrude!«

Sie riß die großen schwarzen Augen unter chinesischen Lidern weit auf und starrte trotzig, verwirrt in das matte Licht der Nachtlampe; sah das bleiche, ernüchterte, entraßte Gesicht ihrer Mutter und schloß sie wieder. Lallte nur müde, eher zu sich selbst als zur Frau, die das Schicksal ohnehin gebrochen: –

»Was bin ich? Ich? Nicht Frosch und nicht Fisch? Weißt du, was ich bin? Ein Köter, ein Gemisch vieler Rassen, etwas, das man mit dem Fuße wegschiebt oder mit dem man spielt. Aber man kauft sich keinen solchen Hund, denn man schämt sich seiner. Man wirft ihm höchstens einen Knochen zu ... vor dem Tore ... Sogar die alten Chinesen in der Passage verachten mich. Was bin ich all denen, die mich kennen? Nichts. Die blaue Eidechse ...«

So ging es Tag auf Tag, während die blonde Frau dicht am Bettrand saß und still, ohne Schluchzen, in sich hineinweinte.

Sie lag nicht länger im Hinterstübchen der Passage, der Ansteckungsgefahr wegen. Im letzten Hof des heimatlichen Hauses wohnten Mutter und Tochter wie vor Jahren, als die I Taitai eben erst aufgetaucht war.

Vor den kleinen Fenstern sang die vierte Nebenfrau, die junge Mongolin von jenseits der Gobiwüste, zur chinesischen Geige. Sie erwartete ein Kind und erhoffte einen Sohn. Um den Hals trug sie das Bild ihres besonderen Lohans für das laufende Jahr. Er würde dazu beitragen, daß die Halbweiße mit den langen Zöpfen und den flinken Fingern nach dem Shi Pa Yü – den achtzehn Höllen – kam.

Die Götter waren gut, und sie sang vergnügt deren Lob.

*

Es ging gegen das Ende der zweiten Woche, und der Arzt schüttelte das Haupt. Wie ein Steindenkmal, so unbeweglich, saß die Mutter am Bette der Sterbenden.

»Warum ist das Zimmer schwarz verhängt, Mutter? Mach' Licht!«

»Sogleich, mein Eid ..., Getrude.«

Sie flackerte unstät durch den Raum, stieß leicht gegen Stühle und Vasen wie in Suche nach Streichhölzern. Sie wagte der Schwerkranken nicht zu verraten, daß sie erblindet war.

»Mach' schnell Licht, Mutter!«

»Ich habe die Hölzchen verlegt; es plaudert sich gut im Dunkeln.«

»Wovon soll man plaudern, wenn es ans Sterben geht?« murmelte die blaue Eidechse und strich unruhig über die Bettdecke, als suche sie etwas; fand taufrische Rosen.

»Tu' sie weg, Mutter! Sie sind kalt wie – der Tod.«

»Oh, Gertie!« Und nach einer Sekunde, leise, unsicher: – »Die Rosen sind von einem Weißen; kannst du dich an einen Herrn erinnern, der viel von Vater kaufte?«

»Herr – Eberhardt?«

»Ja, so ähnlich soll er heißen. Er kommt jeden Tag in die Passage und fragt nach deinem Befinden. Und heute – – schickte er Rosen. Soll ich sie wegtun?«

»Nein.«

Das Schweigen flog schwerbeschwingt durch den Raum. Die Nacht glitt dem Morgen entgegen.

Land Shieh Hutse hatte die Rosen gegen das Gesicht gelegt und atmete schwer.

»Mutter!«

»Eid… Getrude?«

»Nenn mich ruhig Eidechse. Was war ich je sonst? Aber höre: Ist Vater zu Hause?«

»Willst du ihn sprechen?«

Sie nickte.

Shien Changs Stimme zitterte doch ein wenig, als er von der Schwelle her rief: –

»Was gibt es, kleine Land Shieh Hutse?«

»Vater – laß mich chinesisch begraben! In einem großen Sarg mit Seidendecken und Raum – – für – viele Sachen – und in einem langen weißen Grabkleid. Versprich's!«

»Ich verspreche es.«

»Dann hab' Dank und leb' wohl, Vater.«

»Schlaf wohl, meine kleine Eidechse.«

»Und keinen unserer Priester, keinen, mein Kind?« fragte die Mutter leise, in deren Herzen angesichts des Todes der Glaube der Kinderjahre aufflammte.

»Wenn du willst«, erwiderte das junge Mädchen gleichgültig, die Gedanken weitab auf unerforschten Fahrwassern.

Wieder kräuselte sich das Schweigen, wie der Rauch einer Opferkerze, durch den modrigen Hinterraum.

»Wenn ich tot bin – leg' die Rosen mit in den Sarg!«

Nur Schluchzen.

»Du wirst es nicht vergessen?«

»Gewiß nicht, Gertrude.«

Leise weinte die Mutter: Um das scheidende Kind, den verlorenen Glauben, den fremden Sarg, den sich das Fleisch ihres Fleisches zuletzt wünschte, um den Gatten, der draußen im Vorraum langsam auf- und abschritt und ebensowenig wie seine weiße Frau ahnte, daß sich das Kind den Sarg gewünscht hatte, damit die Rosen, die sie mitgenommen, jahrhundertelang unverwest gegen ihre Stirne, ihre entstellten Wangen liegen konnten.

»Sag ihm ...«

»Wem, mein Kind?«

»Dem Mann ... mit den Rosen ...«

»Was ... was soll ich ihm sagen, Land Shieh Hutse?«

Die brechenden Augen baten; die lallende Stimme durchschnitt gedämpft die erste Morgenstille –

»Nie vergessen ...«

Die Finger schlossen sich – fester und fester – um die Stengel der Rosen.

Irgendwo krähte ein Hahn.

Shien Chang streckte den Kopf zur Türe herein und fragte mit den Augen.

»Sie ist – heimgegangen ...« sagte tonlos die blonde Frau und stürzte neben dem Lager zusammen.

Nur das Laub um die Rosen knisterte wie von unsichtbaren Fingern gestreift.


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