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Hans Thimig ist als Hugo Thimigs jüngster Sohn zu Wien am 23. Juli 1900 geboren, faßte bald darauf den endgültigen Entschluß, zum Theater zu gehen, behielt dies, aus mangelnder Sprachbeherrschung mehr noch als aus thimigscher Verschwiegenheit, bei sich, besuchte dann die Volksschule, dann das Gymnasium, machte seine ersten schauspielerischen Gehversuche in den sogenannten Cottagebodenkammerspielen der elterlichen Bodenkammer in Gemeinsamkeit mit Schulfreunden als primus inter pares, d. h. als Direktor, Regisseur und Protagonist, verschmähte den dramatischen Unterricht, nahm, heimlich, stimmtechnischen, kurze Zeit, in der Arnauschule und, wenn er die Geschwister in Berlin besuchte, bei George Armin. Trat am 2. Juli 1916 im Wiener Deutschen Volkstheater als Seppele in Schönherrs »Volk in Not« zum erstenmal auf, unter dem Namen Hans Werner. Und erhielt 1918 sein erstes Engagement, und zwar am Burgtheater.
Das ging so zu:
Eines Abends saßen zu Salzburg in einem der Keller Max Reinhardt, Hermann Bahr und Professor Alfred Roller um einen Tisch. Hermann Bahr, der damals die Leitung des Burgtheaters übernahm, entwickelte seine Pläne und sagte dann zu Reinhardt: »Und wissen Sie, wer der Erste sein wird, den ich Ihnen wegengagiere? Hermann Thimig.« Worauf 131 Reinhardt, sehr gelassen: »Den schlagen Sie sich aus dem Kopf! Sie kriegen ihn nie!« Da mischte sich Roller ins Gespräch und sagte: »Wozu der Streit? Es gibt ja noch einen Thimig, der Talent hat: den Hans.« »Her damit!« schrie Bahr, »ich engagiere ihn blind. Thimigs kann man blind engagieren«, und ließ sofort durch Max Devrient an den alten Thimig schreiben, mit einem regelrechten Antrag. Hofrat Thimig steckte den Brief zu sich und sagte dem Hans vorerst nichts davon. Im Sommer erst, als Vater und Sohn von Wildalpen aus gemeinsam eine Bergtour machten, auf einer Alm, nachdem sie einer Sau beim Ferkeln zugesehen hatten und sich von der Anstrengung bei einem Glas saurer Milch mit Schwarzbrot und Käse erlabten, zog der Alte mit den Worten: »Da hast du noch ein Dessert«, den Brief aus der Tasche und gab ihn dem überraschten Jungen. Und setzte, scheinheilig, hinzu: »Willst du denn wirklich zum Theater? Tja, das habe ich ja gar nicht gewußt.«
Der Racker hatte immer so seine geheimen Laster: während der Vater glaubte, daß er sich ausschließlich mit dem Ulrich in »Logik des Herzens«, seiner neuen Rolle, befasse, bereitete er sich heimlich, ohne Papas Wissen, als Externist eines Wiener Gymnasiums auf die Matura vor, und just am gleichen Tage, an dem er abends im Schloßtheater die Generalprobe seines ersten großen Erfolges hatte, bestand er vormittags das Abiturientenexamen, so daß er beim selben Frühstück dem überraschten Papa ein glänzendes Reifezeugnis und einstimmig lobende Kritiken in die Hand drücken konnte.
Sein Engagement am Burgtheater begann am 1. September 1918, sein erstes Auftreten, als Fischerknabe Jenny im »Tell«, fand am 15. Dezember statt. Von Bahr und Devrient engagiert, blieb er unter vier Direktionen: Albert Heine, Wildgans, Paulsen und Herterich und wurde 132 ausgezeichnet, durchweg in großen Rollen beschäftigt. Er blieb sechs Jahre lang am Burgtheater und kam dann, vom 1. September 1924 ab, ans Theater in der Josefstadt zu Max Reinhardt, der sich fast eifersüchtig darum bemühte, alle Thimigs beisammen zu haben. Auch Hans entzog sich dem Thimigschicksal nicht und hatte es nicht zu bereuen.
In all diesen Jahren, am Burgtheater und bei Reinhardt, spielt Hans eine Unmenge Rollen und Rollen der verschiedensten Art. Er ist ein unruhiger Geist: er gastiert, an den anderen Wiener Theatern, in der österreichischen Provinz, in Berlin, in der Tschechoslowakei mit einem eigenen Ensemble, er nimmt Teil an den Salzburger Festspielen (Florindo im »Diener zweier Herren«, Kosinsky in den »Räubern«), an Reinhardts Amerikagastspiel (als Camille Desmoulins in »Dantons Tod«). Ein Sucher, greift er immer wieder nach neuem, nach jeder neuen Art von Tätigkeit, versucht sich, neben dem Schauspielerischen, in der Operette, als Tänzer und Pantomimiker, im Film, im Vortrag, im Radio. Gibt mit Leidenschaft, Ausdauer und gutem Erfolg vielfachen Schauspielunterricht, erweist eine nicht gewöhnliche Regiebegabung. Und bleibt, nach diesen Jahren einer erfolgreichen Arbeit, mit einem kleinen runden Lebenswerk hinter sich, immer noch die Hoffnung auf die Zukunft, die große Aussicht. So ist nun einmal das Los der Jüngsten.
Auch sie werden mit den Jahren nicht jünger, aber sie bleiben die Jüngsten. Und ohne daß sie, daß andere etwas dafür können, ist ihr Weg zu sich selbst der weiteste.
Hans hat mit jedem der anderen Thimigs Wesentliches gemein. Mit dem Vater das Artistische: die tänzerische Leichtigkeit und Beredsamkeit des Körpers. Mit Hermann den knabenhaften Trotz. Am meisten mit der Schwester: die intellektuelle Nachdenklichkeit, Geistigkeit; die 133 Hemmungen der eigenen Schwere; die Einsamkeit. Aber er hat auch etwas, das ihm allein gehört: die Lyrik. Seine eigene Art von Lyrik: eine melancholisch umflorte, trüb umschattete Lyrik, die süße Lyrik der grundlosen Schwermut, wie sie nur ganz junge Menschen haben oder die, die immer ganz jung bleiben.
Diese Lyrik ist das Beste an ihm, und aus ihr holt er die Musik für seine Liebhaber, für die verliebten Prinzen und Dichter, die wohl seine eigensten Aufgaben sind.
So mußte ihm, in Bernard Shaws »Candida«, der Marchbanks gelingen, für dessen Cherubinfigur er alles mitbrachte, die vorlaute Knabenhaftigkeit neben der geistigen Anmut und Beweglichkeit, der man den Dichter glaubt, und vor allem die vielleicht unsinnliche, aber sinnlos verliebte und hilflose Schwermut des Jungen, den seine Weichheit hart und seine Schwäche stark macht.
So gelang ihm der Prinz. im »Kreidekreis«, den er mit einem ritterlich-zierlichen Anstand der Gebärde und der Haltung spielte, und wie von einer Wolke von Wohllaut und exotischer Poesie umflossen.
Im weiten Spielplan seiner Rollen fanden sich einige, die vor ihm sein Vater gespielt hat: so den Lanzelot, den Bellmaus, den Thomas Diafoirus im »Eingebildeten Kranken«, den Roland in »Goldfische«. Viele, die auch Hermann spielt: ebenfalls Lanzelot, Bellmaus, Thomas, dann den Leon in »Weh dem, der lügt«, den Michael Hellriegel, den Stani im »Schwierigen«. Und manche sogar, die auch Helene gespielt hat: außer dem Lanzelot den Georg im »Götz« und den Puck im »Sommernachtstraum«. Außerdem, über die Rollen der Thimigschen Familienerbschaft hinaus, alles das, was er allein gespielt hat: eine bunte Liste der verschiedenartigsten Aufgaben: jugendliche Helden wie den Edgar im »Lear« und den Kosinsky, jugendliche 134 Liebhaber wie den Florizel im »Wintermärchen«, den Lysander im »Sommernachtstraum«, den Jean im »Schattenfischer« von Sarment, jugendliche Charakterrollen wie den jüngsten Sohn in Unruhs »Geschlecht«, den jungen Priester Duke in »Überfahrt«, den Toni in »Peripherie«, den Frank in »Verbrecher«, jugendliche Bonvivants wie den Jack in »Bunbury«, den Simon in »Herr seines Herzens« von Raynal, den Henry in »Coeur-Bube«, den Bobby in »Fannys erstes Stück«, Komiker wie den Trinculo im »Sturm«, den Grumio in der »Widerspenstigen«, den Clarin in Calderons »Circe«, den Christopherl in Nestroys »Jux« und groteske Rollen wie den Tanzlehrer in Maughams »Victoria«. Und er spielte den Johannes in Max Mells »Apostelspiel« mit einer ganz seltsam geglückten Mischung einer realistisch wirklichkeitsnahen Darstellung des Bäurisch-Landstreicherischen mit einer jenseitigen Inbrunst und Hingerissenheit: eine Leistung, die in ihrer holzschnitthaften Echtheit von Zeichnung und Gefühl an Helene Thimigs Glauben in »Jedermann« erinnerte.
Das alles zusammen gibt das Bild einer starken schauspielerischen Potenz. Einer Potenz, die nicht mehr im Ringen steckt. Aber auch noch nicht in der Sicherheit einer erreichten Endgültigkeit. Sie ist auf einem guten Wege. Auf dem Wege zu einer guten Zukunft.
Jeder Schauspieler, der einmalig geworden ist, hat den Kampf mit seinem eigenen schauspielerischen Problem hinter sich. Dieser Kampf, dieses Problem ist keinem geschenkt worden. Aus seinem Problem erst und dessen Überwindung wächst die Einmaligkeit des Schauspielers. Auch in Hans Thimig sind schon alle Elemente da und deutlich und nebeneinander, die zur Einmaligkeit gehören. Aber erst nebeneinander. Noch nicht so, daß in jeder Verwandlung der ganze Mensch, der ganze Hans Thimig durchbricht. Schon 135 ist sein schauspielerisches Problem gestellt: der fruchtbare Widerspruch in seiner Natur, die zwischen Härte und Weichheit, zwischen Geistigkeit und Traumseligkeit, zwischen einer scharf charakteristischen Komik und der zerfließenden Weichheit einer naturgemäß konturlosen Lyrik schwingt. Keines dieser Elemente darf verschwinden; denn sie gehören alle zu ihm: aber erst in seiner Reife werden sie zu Einem geworden sein. Wie? das ist eben sein Problem. Und noch hat das Problem seine Lösung nicht gefunden, noch sind die Elemente seines schauspielerischen Wesens nicht zu ihrer endgültigen Einmaligkeit verschmolzen.
Mit anderen Worten: das Problem dieses liebenswürdigen Talents ist seine Jugend. Gott erhalte sie ihm möglichst lang! Das Problem kann warten. 136