Arthur Kahane
Die Thimigs
Arthur Kahane

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II. Bürgerlichkeit und Dämonie

Bürgerlichkeit und Dämonie scheinen tiefe und unvereinbare Gegensätze.

Es gibt Leute, für die der Bürger das gelungene Musterexemplar der Menschheit ist. Es sind nicht die Schlechtesten unter diesen Leuten.

Es gibt Leute, für die der Bürger der Ausbund aller Komik ist. Und auch unter ihnen sind nicht die Schlechtesten.

13 Aber dämonisch, nein – dämonisch ist der Bürger nicht. Dämonisch sehen ihn weder seine Lober noch seine Verspotter.

Wenn man die beiden Begriffe Bürgerlichkeit und Dämonie definieren müßte, könnte man sie nicht besser als durcheinander definieren: Bürgerlichkeit ist das Undämonische schlechthin, Dämonie ist Unbürgerlichkeit schlechthin.

Vieles hat sich in der Welt geändert, der Bürger nicht. Das liegt in seiner Natur, daß er sich nicht ändert und mit ihm der Begriff sich nicht ändert, den er der Welt von sich beigebracht hat. Durch allen Wandel der Zeiten und der Geschichte, der fortwährend wechselnden Machtgruppierungen und wirtschaftlichen Verhältnisse steht der Begriff, steht die Figur des Bürgers fest auf seinen beiden Beinen, auf seinen Grundsätzen, auf seinem Besitze. Der Besitz wackelt manchmal, die Figur nicht. Zwischen dem mittelalterlichen Zunft- und Innungsmeister und dem patrizischen Handelsherrn der Hansa, zwischen dem Stadtbürger, der seinen kleinen Handel oder sein Gewerbe betrieb, und dem merkantilistischen Großexporteur, zwischen dem kleinbürgerlichen Gewerbetreibenden und dem kapitalistischen Fabrikanten und Maschinenbesitzer, zwischen dem Bourgeois und Rentner und dem Großindustriellen und Trustmagnaten mögen die gewaltigsten Besitzverschiedenheiten herrschen, aber das Bürgerliche ist ihnen allen gemeinsam, und der bürgerliche Mensch bleibt derselbe. Und bürgerlich sein heißt, in seinem Lebensgange, in seinen Lebensformen, in seinem gesellschaftlichen Dürfen und Müssen, in seinen Begriffen von Standesehre, Sitte und Sittlichkeit von den allgemeinen Anschauungen seiner Schicht ein für allemal bestimmt sein.

Dämonisch sein heißt: einen Dämon in sich spüren, dem 14 man folgen muß, ob man will oder nicht; nur auf das Gesetz in der eigenen Brust hören.

Bürgerlich sein heißt: auf dem Platz treu ausharren, auf den Einen Zufall der Geburt, Elternwille, Familientradition, Kastenkonvention hingestellt hat; heißt: in der ererbten, anerzogenen, überkommenen Enge verharren. Es gibt auch eine überseeische Enge.

Dämonisch sein heißt: Selbstbestimmung und Selbsterfüllung, Sehnsucht nach Weite und Freiheit.

Der bürgerliche Mensch ist tüchtig, fleißig, solide. Ehre dem Ehre gebührt! Er ist sicher der nützlichere Staatsbürger.

Er meidet das Übermaß in allen Dingen. Er kann es, da er das Messen und Zählen heraushat. Er kennt nicht den Überschwang der Gefühle und der grenzenüberfliegenden Gedanken. Dafür hat er das breite, behäglich-behäbige Ruhen im wohlverdienten Genuß, das dem dämonisch Getriebenen versagt ist.

Der bürgerliche Mensch steht auf und zu seinem Besitze, der ihm Mitte und Sinn seines Lebens ist. Davon pflegt der Dämon in der Brust zu schweigen.

Der bürgerliche Mensch hat einen vorgeschriebenen Lebensweg. Der dämonische Mensch hat ein Schicksal.

Der bürgerliche Mensch strebt nach Glück. Schicksal ist selten Glück.

Auch der bürgerliche Mensch erlebt Mißgeschick und Unglücksfälle. Aber sie kommen ihm von außen. Den schmerzlichsten Kampf, den dämonischen Kampf mit der eigenen Seele kennt er nicht.

Der bürgerliche Mensch ist, und mit Recht, sehr mit sich selber zufrieden. Ein Zustand, der dem dämonischen Menschen auch im höchsten Taumel der schöpferischen Seligkeit nicht gegeben ist. Weil ihn immer noch ein Übersichhinaus lockt.

15 Dem bürgerlichen Menschen hängt der bürgerliche Himmel voller Geigen. Für den dämonischen Menschen ist sein Weg zum Himmel mit Höllen gepflastert, von denen der brave, ehrbare Bürger nichts ahnt. Die kleinen Sünden und Seitensprünge seiner Ehrbarkeit verzeiht er sich nachsichtig.

Zwei Welten stehen einander gegenüber, die einander auszuschließen scheinen, wie Weite der Luft und der Meere und Stubenenge, wie das Große und das Kleine einander ausschließen, und zwischen denen keine Brücke des Verstehenkönnens führt.

Und wenn es, in den großen Zeiten des Bürgertums, auch Bürger eines großen Formats gegeben hat, so waren es solche, die innerlich längst die Enge der Bürgerlichkeit gesprengt hatten und bloß die bürgerliche Form beibehielten, um sie mit ihrer großen, ihrer dämonischen Menschlichkeit zu füllen. Das klassische Bildungsideal der Selbstgestaltung war die stärkste Überwindung der Bürgerlichkeit. Alle Revolutionen, auch die geistigen, sind von Deklassierten gemacht. Alle dämonischen Menschen sind Deklassierte. Auch wer imstande ist, sich geistig von seiner Schicht loszulösen und den Bürger in sich zu überwinden, ist ein Deklassierter und hat seinem Dämon gehorcht.

Grade das Nebeneinander und Gegeneinander unvereinbarster Gegensätze kann Spannungen und Reibungen erzeugen, in deren Atmosphäre alles, was an Geheimnis, Kraft und Trieb auf dem Urgrund jeder Seele, auch der bürgerlichsten, schläft, gefährlich geweckt und ans Tageslicht emporgetrieben wird. Blitze, die nicht zur Entladung kommen, sind die gefährlichsten.

Wie wäre es denkbar, daß in der langjährigen Geschichte einer so ungeheuren Menschenklasse, wie sie das Bürgertum darstellt, um so vieles stärker es auch als andere Klassen von seiner spezifischen Natur und der ihm innewohnenden 16 Kraft des Beharrens eingedämmt und auf sich beschränkt erscheint, nicht alles vorkommt, jedes menschliche und geistige Phänomen, das irgendwo sonst vorkommt?

Und so gibt es auch etwas wie eine bürgerliche Dämonie.

Dämonie trägt sich innerlich, nicht auf dem Gesichte. Nicht alle Deklassierten sehen deklassiert aus, ziehen sich deklassiert an und haben deklassierte Manieren.

Deklassierte des Bürgertums sind die geistigen Begründer des Sozialismus und die Führer des Proletariats geworden.

Aus den Deklassierten des Bürgertums rekrutiert sich die künstlerische Bohême.

Die Deklassierten des Bürgertums strömen zum Theater.

 


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