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10. Kapitel – Verfolgungsjagd auf See

Das Letzte, was wir von unserer Insel sahen, waren die von unten rot beleuchteten Qualmwolken des brennenden Treibholzes …

Qualm, den der neckische Wind flüchtig zu einem riesigen Fragezeichen formte.

»Olaf, wir haben hier im Kutter in Zinkkästen stets so alles Mögliche in weiser Voraussicht verstaut gehabt … Ein anständiges Rettungsboot einer Millionärsjacht ist für alles gerüstet … Ich werde mal die Seitenkästen öffnen.«

Sie kauerte am Boden und suchte mit dem Bootshaken die lackierten Zinkkästen zu meistern. »Olaf! Ich bekomme das Schloß nicht auf!«

Ich nahm ihren Platz ein und schlug die Zinkbehälter auf. Ich fand all das, was weise Voraussicht in diesen Kästen verstaut hatte, und als ich Jane die Kleidungsstücke zuwarf, die sie sich wünschte, begriff ich mit einem Male, daß ich hier im Kutter den weißen Tropenzug trug, den ich dem Laternenmann abgenommen hatte, und Jane noch von ihrem Schwimmausflug zur Jacht her halbnackt war. Ich schämte mich dieses Kontrastes. Auf unserer Insel waren wir Kinder gewesen – Brüderlein, Schwesterlein – beide in Lumpen, die kaum unsere Blöße verdeckten – wir hatten im Wasser geplanscht, wir hatten uns in paradiesischer Unschuld von der prallen Sonne uns trocknen lassen …

Und jetzt brachte uns dieser Kutter mit seinem Benzingestank wieder zurück in die Zivilisation, wo sie die Herzogin war und ich der steckbrieflich gesuchte Flüchtling …

Der Wasserbehälter ganz vorn im Kutter war gut gefüllt. Ich untersuchte die Kästen – mit Dauerproviant – gefüllt! – Ich sah mir die Segelausrüstung an, ich fügte die Teile des Mastes zusammen, befestigte die Taue, Leinen, Segel – ich arbeitete, arbeitete, warf keinen Blick zum Heck, wo Jane Bellcastle wohl längst in einem hellen Leinenrock, in heller Bluse, Hut, Schuhen, Strümpfen am Steuer saß und … dem verlorenen Paradies nachtrauerte.

Dann ging ich zu ihr.

»Wenn das Segeltuch ausreicht, errichte mir vorn ein Zelt, Olaf. Ich … bin … müde …«

So fuhren wir diese Nacht gen Norden … Ziellos – gen Norden, irgendwohin über schäumende Wellentäler … wir drei – Jane, die im Zelt schlief, ich am Heck und Fennek der eingerollt neben mir lag und auch schlief.

Die Nacht war heiß und windig. Ein böiger Passat ließ das Segel knallen und klatschen, aber der Kutter machte auch ohne die Schraube gute Fahrt und spottete der weißen Wogenkämme, die hoch an seinem Bord emporleckten und mir nur selten feine Spritzer in das Gesicht stäubten.

Auch ein Kompaß mit einem Deckel war links in die Ruderbank eingelassen. Ich sah, daß die Nadel immer wieder scheinbar zu sehr nach Osten abwich, denn ich hatte mich zunächst lediglich nach den Gestirnen gerichtet. Zum Innehalten eines Kurses genügen sie ja. Es mußte also eine sehr starke Strömung uns abtreiben, eine jener vielen Strömungen, die das Fahrwasser in den Südseegruppen so gefährlich machen.

Der Wind schlief immer mehr ein. Wir gelangten in fast völlig stilles Wasser. Nur lange flache Wogen zogen dahin in die Unendlichkeit, ohne weiße Greisenköpfe – wie Peter Bolk einen gehabt hatte.

Ich ließ den Motor wieder laufen und beschlug die Segel. Nun sah ich das Leinwandzelt vorn ganz deutlich. Dort ruhte Jane. Sie hatte nichts dazu beigetragen, die beginnende Entfremdung zwischen uns zu beseitigen, sie war mit freundlichem »Gute Nacht« hinter dem Leinen verschwunden, aber der Ton ihrer Stimme hatte müde geklungen.

»Müde« – hatte sie selbst gesagt.

In halbwachem Dahindämmern, das doch auch wieder ein beschwingtes sich Vertiefen in vergangene Tage war, gedachte ich der Gefährten, die mir der Taifun entrissen hatte. Der Aufprall des Schoners auf irgendein Riff war mit so ungeheurer Gewalt erfolgt, daß die Astarte buchstäblich in der Mitte zerbrochen wurde wie eine armselige Schachtel durch einen Beilhieb. Ich hatte dabei das Bewußtsein verloren – daß meine Hand weiter in Fenneks Nackenfell verkrampft blieb, war ein Zufall. Wir beide waren mit dem Leben davongekommen – die Gefährten aber?! Gewiß, es bestand eine geringe Möglichkeit, daß die Wrackteile, nach dem die Ballaststücke aus dem Kühlraum herausgerutscht waren, weiter vom Sturm davongetragen wurden, denn die Astarte war ein hölzernes Schiff aus bestem Fichtenholz, und die beiden Hälften des Wracks mußten sich an der Oberfläche des Meeres gehalten haben, konnten sogar vereint davongetrieben sein, da die Taue, die wir über das Deck gezurrt hatten, neu und gut geteert und unzerreißbar waren.

Sollten die drei – Eversham, Hiruto und der Kanake – noch leben, so würden sie vielleicht – immer vielleicht – irgendein Gestade erreicht haben, und dann würde Evershams verbissene Energie nicht ruhen und nicht rasten und trotz allem abermals nach Malmotta suchen …

Es ist unerträglich heiß in dieser Flaute. Ich habe die weiße Jacke längst abgelegt. Die Luft muß wieder mit Elektrizität übersättigt sein, ich sehe zwar keine St.-Elms-Feuer, keine Leuchterscheinungen, aber ich spüre in den Nerven eine unerträgliche Spannung. Kein Vogel, kein Fisch ist sichtbar, die Wasserwüste ist leer, und das Gefühl der Einsamkeit bedrückt mich. Wer so viel in engster Verbundenheit mit der Natur gelebt hat wie ich, empfindet am deutlichsten, daß in unserer Seele ein unbekanntes, angezweifeltes, dunkles Gebiet verborgen liegt, das mit dem Hirn in innigstem Kontakt steht: das Unterbewußtsein.

Ich fühle eine neue Katastrophe, neue Aufregungen – und irgend etwas, das stärker ist als mein halbes Wachsein und mein auf anderes Dinge gerichtetes überwaches Grübeln, zwingt meinen Kopf zur Seite und meinen Körper zu einer halben Drehung. Im selben Moment geschieht zweierlei. Ich vernehme mit dem Gehör aus unbekannter Ferne ein Grollen und Brausen, das sofort wieder erstickt, und ich sehe mit sich weitenden Augen hinter uns eine langsam über das Meer gleitende Lichtbahn – einen leuchtenden suchenden Kegel, einen Scheinwerfer.

Die Jacht hat die Schraube doch wieder klar bekommen, und Malcolm Rizzard, der Meutererkapitän, will uns um jeden Preis erwischen, damit Jane ihm verrate, wo die erhofften Schätze zu finden seien.

Dabei weiß noch nicht einmal ich etwas über diese Schätze …

Nichts weiß ich.

Jane und ich haben keine Zeit gefunden, diese Frage zu erörtern. Ich kenne von dem ganzen Geheimnis wie bisher nur Stücke. Der bunte Gobelin ist unfertig geblieben.

… Sie wollen uns fangen, die da hinten, und sie werden uns fangen. Noch liegt die Jacht weit zurück, aber ihre Geschwindigkeit gestattet ihr, zu kreuzen und zu suchen …

Unser Kutter ist nur eine Schnecke mit seinem Hilfsmotor, und der Wind streikt.

Sie werden uns fangen. Sie haben den Kapitän damals ermordet, sie wollten Aristide morden, sie haben ihn nachher vom Schoner heimlich geholt, ihn und Peter Bolk … Sie hätten Eversham ermordet, aber den hatte Jane bereits von der Jacht verwiesen, weil er den »Diebstahl« nicht mitmachen wollte. Jane lag es an John Petersens geringer Hinterlassenschaft, und John war ihr Vater.

Sie werden uns fangen. Das bedeutet für mich und Mukki den sicheren Tod, für Jane neue Demütigungen …

Und doch werden sie uns nicht fangen. Ich werde Jane nicht wecken, ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, ihnen zu entkommen. Ich werde bis zum letzten Augenblick die Entscheidung hinausschieben und Jane dann fragen, ob sie mit mir sterben oder lebend in die Hände der Meuterer fallen will. Wir haben Waffen … Als erstes würde ich Fennek erschießen … Ich würde ihn noch ein letztes Mal streicheln und sein Köpfchen an meine Wange drücken und – ihn erlösen …

Ich würde Jane vorher noch sagen, daß ich sie liebe – nicht als Schwester – so liebe, wie ich keine einzige der Frauen geliebt habe, die meinen Weg kreuzten und die mir sonnige Tage und heiße Nächte schenkten und dann doch wieder – zum Glück – von mir gingen, angelockt von dem starken verlogenen Magnet, der da heißt Zivilisation!

Ich bin ganz ruhig bei alledem. Gewiß, ich hätte gewünscht, daß meine Pfade abseits des Alltags ein anderes Ende fänden. – Selbstmord?! – Er hat den bitteren Beigeschmack der Feigheit, sagen die Superschlauen hinter dem Schreibtisch und empören sich dagegen. – Narren. – Ich hatte einen Freund, einen Arzt, der aus einer erblich belasteten Familie stammte. Er fühlte den Wahnsinn nahen – als wir ihn tot im Walde fanden, waren die Sohlen seiner Stiefel poliert von den Tannenadeln des Bodens – so oft war er vor der Bank hin und her gegangen und hatte mit sich gerungen und – nicht feige sein wollen.

Versetzt euch einmal in den Seelenzustand eines solchen Unglücklichen, der keinen anderen Ausweg mehr findet, ihr kaltherzigen Pharisäer! – Feigheit?! Nie las ich etwas Dümmeres als das.

Ich werde sterben. Fennek auch.

Nicht ohne Gegenwehr werden wir scheiden. Ich habe hier zwei Repetierbüchsen im Kutter, zwei Pistolen. Es werden verschiedene von dem Gesindel, das sich da auf fremdem Eigentum jetzt die Herrschaft anmaßt und nur die eigenen Taschen füllen will, ins Gras beißen müssen. Meines Schusses war ich stets sicher. Und die da – Sauschützen. Ich weiß es. Es wird einige Kopflöcher geben, die nie mehr zuheilen, und …

Meine Gedankenkette zerreißt.

Wieder das Grollen, Brausen – noch stärker! Ein Gewitter? Ein Orkan?!

Der Nachthimmel ist klar, nur der Horizont schwimmt in milchigem Dunst.

Dann – seltsam – kommt eine einzelne Woge dahergerollt – eine, die gegen den Wind, gegen die anderen anrennt … Wie ein Wasserberg, durch einen Stoß aus den Tiefen des Ozeans geboren, vorwärtsgetrieben durch ebenso geheime Gewalten.

Der dunkelgrüne Berg rast uns entgegen, gegen seine Brüder. Schaumstreifen kennzeichnen seinen Weg, er überrennt alles, aber die Brüder, die sich ihm entgegenstemmen, hemmen seine Kraft – der Kutter schwebt empor – die Woge ist vorüber …

Ich blicke ihr nach.

Die Jacht und der Scheinwerfer sind aufgerückt. Vielleicht noch zehn Minuten, dann …

… soeben schwenkte ein Lichtstrahl herum.

Ich spüre bereits seine Helle …

Ob sie uns aufgespürt haben?!

Der gleißende Finger kehr zurück, bleibt in derselben Richtung – liegt auf dem Kutter mit seiner breiten Strahlenspitze …

Ein dumpfer Krach da … Der Kutter zittert. Dicht an der Bordwand schrammt ein Balken vorüber, ein Maststumpf – ein ganzes Wrack.

Jetzt muß der Wasserberg die Jacht erreicht haben … Er schüttelt sie … Der Scheinwerfer läßt von uns ab, und ich – ich schlage den Bootshaken in das Wrack …

»Jane!!«

Sie kommt.

Worte stolpern über die Zunge …

Jane begreift …

Jane schnürt das Bündel …

Ich binde das Ruder fest – ein Brett mit Jacke und Hut täuscht den Steuermann vor – mich …

Hinein ins Wasser …

Hin zum Maststumpf … Taue halten uns fest … Mukki heult …

Der Kutter eilt mit seinem falschen Steuermann weiter.

Uns treibt die Strömung abseits …

Der leuchtende Kegel ruht wieder auf dem Kutter …

Wir?!

… Wir … treiben …

Minuten darauf jagt der Star of London in der Ferne vorüber …

Wir?!

… Ich sage zu Jane mit bewegter Stimme:

»Jane, es ist das Wrack der Astarte! Da – schau hin, es sind zwei Wrackteile, durch Taue verbunden.«

Ich bin wieder auf dem Schoner.

Das Schicksal hat nicht gewollt, daß wir sterben.


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