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Hosea konnte nicht weitersprechen.
Gottlieb Hähnchens jammervolles Weinen füllte das Zimmer mit Tönen, die einem die Nerven vibrieren machten. Er hatte die Hände vor das Gesicht gelegt, und sein Körper bäumte und wand sich unter dem Ansturm trostloser Gedanken.
Dann rief er – heiser, fast heulend:
»Ich will zu meinem Kinde, – ich will –«
»Nein«, sagte Hosea ernst. »Sie werden Lore wohl nicht mehr wiedersehen, – nie mehr!«
»Ah – tot – tot?!« brüllte er auf.
»Nein – nur für ihre Eltern gestorben!«
Er verstand sofort. Und wie von einem Keulenschlag getroffen, zuckte er zusammen – Und wie ein Irrer sprach er tonlos vor sich hin:
»Für sie taten wir alles – nur für sie, unsere Einzige! Sie sollte hoch hinaus über uns, sollte reich sein, einen vornehmen Mann heiraten – Alles – alles – für sie! – Und nun – nun – gestorben für uns, ihre Eltern, – ge–storben –«
Kraftlos saß er auf seinem Stuhl, stierte ins Leere –
Und Hosea begann wieder:
»Vorhin, als man hier auf mich und Marx wartete, sind wir beide in den unterirdischen Räumen gewesen und haben durch den Schacht nachher den Flur hier betreten. Wir haben in einem Schrank nicht nur für 50 000 Mark Wertpapiere, die fraglos Fräulein Löckner gehörten, gefunden, sondern noch andere wertvolle Diebesbeute, so auch das gestern aus dem gesprengten Tresor der landwirtschaftlichen Darlehnskasse geraubte Geld. – Frau Hähnchen hat dann Verdacht geschöpft, als wir uns hier nicht blicken ließen. Sie kam in ihre Wohnung und – lief den dort postierten Kriminalbeamten in die Arme. Sie ist bereits unterwegs nach dem Polizeipräsidium. – Nun noch zu dem Morde an Hermine Löckner. Ich bin darauf gekommen, in welcher Weise er ausgeführt sein kann, als der Geist damals das Gaslicht dadurch auslöschte, daß er den Haupthahn im Flur schloß, alsbald aber wieder öffnete. Malwa wurde damals durch das Summen des nunmehr ausströmenden Gases hierauf aufmerksam. – Dies gab mir einen Fingerzeig. An jenem Abend, als Hermine Löckner vor ihrem »Selbstmord« noch Gäste bei sich hatte, hat die Aufwartefrau bedient. Sie sitzt dort und wird meine Angaben bestätigen. Ich erfuhr von ihr, daß damals viel süße Schnäpse getrunken worden seien, wie ja überhaupt Tante Hermine einem guten Tropfen nicht abgeneigt war. – Die Gäste und die Aufwartefrau gingen gegen elf Uhr. Fräulein Löckner ist dann, nachdem sie sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatte, infolge des Alkoholgenusses noch angekleidet auf dem Diwan eingeschlafen, während das Gas brannte. Ein Zufall mag Hähnchen gerade da durch den Schacht in die Wohnung geführt haben. Er wird das tiefe Atmen des schlafenden alten Fräuleins gehört haben, hat den Haupthahn umgedreht, so daß die Flammen der Krone im Schlafzimmer ausgingen, hat den Hahn wieder anders gestellt, – und der Mord war geschehen, das Gas strömte aus den offenen Hähnen aus, füllte die Schlafstube, erstickte das Opfer – Gottlieb Hähnchen, habe ich recht?«
»Ja!«
Es war ein klares, festes Ja. – Und der Mörder stand jetzt auf, sagte:
»Ich gebe alles zu! Alles hat sich so zugetragen, wie Herr Garblig es hier ausgeführt hat – alles – alles, nicht nur dieser – Mord – Das Haubengespenst sollte die Leute nachts von der Ruine fernhalten, dasselbe bezweckten die Tellereisen am Tage, die ich in dem Gemäuer aufstellte. Die unheimlichen Geräusche entstanden durch das Kreischen der Stahlbearbeitungsmaschinen, deren Töne sich durch den Gang bis unter das Haus fortpflanzten. Und den Geist der Tante spielte ich vor Bruchstück, um das Attentat auf Wehrhut vorzubereiten, um diesen Mord in einer Verkleidung begehen zu können, die jeden, der mir zufällig begegnete, verscheuchte. Meine Frau war eingeweiht. Sie hat Herrn Malwa damals so lange in der ersten Etage festgehalten, bis oben der Schuß fiel. So sollte alles in ein möglichst geheimnisvolles Dunkel gehüllt werden – Ich werde nichts leugnen – nichts, denn ich habe mein Kind verloren, für das ich sündigte, für das wir sündigten – aus Elternehrgeiz, aus Liebe –«
Er weinte wieder, wurde nun abgeführt, folgte seiner Frau ins Polizeigefängnis.
Das Drama hier in meinem Wohnzimmer war zu Ende –
Und doch ergriff Hosea nochmals das Wort.
»Ich möchte noch eins hinzufügen,« sagte er. »Wenn diese Entlarvung des verbrecherischen Paares so gut geglückt ist, so haben wir das in der Hauptsache dem stillen Wirken unserer Kriminalpolizei zu verdanken. Ich war eigentlich nur deren ausführendes Werkzeug, handelte stets nach vorheriger Verabredung mit Kommissar Märker. – So, meine Herrschaften, nun wollen wir auseinandergehen, wollen daran denken: Wo viel Liebe, da ist auch viel Vergebung! – Und was Hähnchens getan haben, war – zu viel Liebe!«
Mittags waren wir drei Freunde und der Detektiv Marx zu Marvilles eingeladen; außer uns wurde noch Merling gebeten, der aber dankend ablehnen mußte, da Baltings ihn bereits mit Beschlag belegt hatten. –
Marville erklärte, sofort mit Doris und Lore, wenn es der Zustand der letzteren erlaube, verreisen zu wollen – nach irgendeinem Winterkurort der Schweiz. –
Das Leben mischt seine Karten gar wunderbar –
Gerade jetzt hörten wir draußen im Flur die Telephonglocke schrillen.
Marville eilte hinaus. Als er zurückkehrte, schien er mir eine Schattierung bleicher.
»Das Ehepaar hat sich im Polizeigefängnis vergiftet,« sagte er leise. »Kommissar Märker war am Apparat. Er meinte, vielleicht wäre dies eine annehmbare, wenn auch gewaltsame und für die Tochter recht erschütternde Lösung.«
Eine ganze Weile herrschte nachdenkliches Schweigen.
»Eine schwere Aufgabe, dies Lore mitzuteilen,« sagte Marville dann. »Armes Kind, – auf Dein Leben werden diese Ereignisse schwer zu bannende Schatten werfen.«
Hosea schaute Marville in herzlicher Zuneigung an.
»Eine bessere neue Heimat als hier bei Ihnen konnte Lore kaum finden. Wo so viel wahre Herzensgüte wohnt, wird auch diese vom Sturm des Lebens zerzauste Blüte sich wiederaufrichten.«
Doris streckte Hosea jetzt die Hand hin.
»Sie möchten stets nur bei anderen anerkennen, was sie selbst in weit höherem Maße besitzen: Herzensgüte! – Weshalb so viele Menschen nur so ängstlich ihr wahres Gesicht zu verbergen trachten, – ich meine nicht die schlechten, sondern gerade die guten?! – Weshalb nur?!«
Marx, der sich schon wieder in den eigentlichen Herrn Marx zurückverwandelt hatte, lächelte fein.
»Es lebt sich weit bequemer mit ein paar Gesichtern, gnädiges Fräulein! Auch interessanter!« meinte er.
Die tiefere Bedeutung dieser Bemerkung verstand ich damals noch nicht, – erst zwei Monate später wurde sie mir klar.
Da ich hier lediglich das habe erzählen wollen, was das Haus des Hasses an Geheimnissen barg und wie diese aufgeklärt wurden, könnte ich bereits schließen. Immerhin will ich noch ganz kurz erwähnen, daß Marvilles mit Lore wirklich in die Schweiz reisten, daß auch Hosea und Borwin nur noch wenige Tage blieben und ich dann ganz allein war in dem alten Haus, allein mit meinen Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit und meiner Sehnsucht nach Doris, der ich erst nur jeden vierten Tag, schließlich täglich zweimal lange Briefe schickte. Auch Doris verbrauchte recht viel Briefpapier und ich durfte wohl annehmen, daß ich zu Marvilles bald in noch engere Beziehungen treten würde.
Hosea beschränkte sich auf kurze Postkarten im Depeschenstil. Borwin dagegen, der sehr bald den Abschied genommen hatte und nun ausschließlich dichtender Kommißbock a. D. geworden war, war fleißiger. Von ihm erfuhr ich, daß Hosea bereits wieder etwas gefunden hatte, das seinem Hange für das Außergewöhnliche entsprach, und einen in den Zeitungen viel erörterten Diebstahl wichtiger politischer Dokumente aufzuklären suchte.
Zum Osterfeste hatte ich die lieben Kerle aber wieder bei mir, konnte mich ihnen jedoch nicht viel widmen, da Marvilles inzwischen zurückgekehrt waren und ich mir alle Mühe gab, baldigst ein paar Verlobungsringe kaufen zu dürfen.
Lore Hähnchen – ihr standen die dunklen Kleider und der stille Ernst in Miene und Wesen vorzüglich! – und Hosea kamen mir bald stark verdächtig vor.
Und – wirklich: Ostern brachte einen »Rekord« an Verlobungen, wie Major von Balting sagte.
Vier Brautpaare –! Das alte Haus schmunzelte! Die Geister, die jetzt in seinen Mauern ihr Wesen trieben, ließ es sich gern gefallen.
Als die Verlobungsanzeigen entworfen wurden, kam für mich die große Ueberraschung! (Marvilles und Lore waren schon eingeweiht!)
Wir saßen in Marvilles Arbeitszimmer. Hosea reichte mir das Blatt, auf dem er seinen Entwurf gemacht hatte: »Die Verlobung seines Mündels Eleonore Hähnchen mit –«
Und dann: nicht Hosea Garblig stand da, sondern – Hans Gorski – Gerichtsassessor a. D. Hans Gorski –
Die Phrase paßt wieder vorzüglich: Mir fiel es wie Schuppen von den Augen –! Ich dachte an Borwins Bemerkung über Doppelgänger, an die des Detektivs Marx über »das interessantere Leben mit ein paar Gesichtern –!«
Ich starrte auf das Blatt – Doris schmiegte sich an mich, sagte –:
»Marx wußte damals sehr bald, wer der Menümaler eigentlich war – Und Dich hätte doch das Monokel auf die richtige Spur bringen müssen –«
Ich nickte. »Allerdings – Er trug es mit einer Fertigkeit, die mich in Erstaunen setzte –«
Die Sache wurde nicht weiter erörtert, denn die »oberen« Brautpaare, Merling und Irmgard, Borwin und Asta kamen und holten uns zum gemeinsamen Spaziergang ab –
Es ging hinaus in den lachenden Sonnenschein des Frühlingstages –
Ende.