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Achtes Kapitel.

Hosea sorgte stets für Ueberraschungen.

Wie sollte ich ahnen, daß er Bruchstück schon kannte?! Ich jedenfalls hatte den Lehrer noch nicht persönlich kennengelernt.

Die beiden schüttelten sich kräftig die Hand, Hosea stellte mich vor und sagte dann:

»Hoffentlich sind Sie heute morgen noch zur Zeit nach der Schule gekommen, Herr Lehrer?«

»Gewiß, gewiß. – Aber – nennen Sie mich doch bei Namen, nicht mit dem Titel, Herr Garblig.«

»Unmöglich! Wenn ich Bruchstück sage, denke ich stets an etwas Unfertiges, Halbes! Und Sie habe ich als ganzen Mann schätzen gelernt.«

»Oh, sehr liebenswürdig. – Wann darf ich Ihnen also dort drüben in den Bergen ein paar wirklich malerische Punkte für Ihr Skizzenbuch zeigen?«

Aus dem weiteren Gespräch entnahm ich, daß Hosea den ahnungslosen Schulmeister einfach schon um halb acht heute früh besucht und ihn gebeten hatte, – als wahrscheinlich recht ortskundig! –, ihm Motive für Winterlandschaften zu vermitteln.

»Wie war das eigentlich damals mit dem Gespenst, Herr Lehrer?« fragte er dann ganz unvermittelt.

Bruchstück schaute ihn verwirrt an und wurde rot.

»Oh – erinnern Sie mich nicht an diese – diese Blamage!« meinte er. »Ich schäme mich zu sehr, wenn ich daran denke, zu sehr! Ich, ein gebildeter Mann, ein kräftiger Mann, – ich reiße vor etwas aus, das doch nur ein als Gespenst herausgeputztes Wesen von Fleisch und Blut sein konnte! Ich muß mich von dem Herrn Major erst zur Vernunft bringen lassen! – Ich wünschte, der »Geist« begegnete mir nochmals! Er sollte es dann gut haben –!«

»Ob es eine Niete war, Phantasiemörder?« fragte Hosea mich jetzt, was ihm einen sehr erstaunten Blick des Lehrers eintrug.

Dann verabschiedete er sich von Bruchstück. Ich tat ein gleiches, wurde aber noch zurückgehalten.

»Herr Malwa, ich möchte mir so gern einen Hund anschaffen, – hätten Sie etwas als Hausbesitzer dagegen?«

»Durchaus nicht. Meinetwegen gleich ein halbes Dutzend.«

»Oh – das freut mich, das freut mich.«

»Weshalb glaubten Sie, mein Freund würde Ihnen den Hund verbieten?« fragte Hosea.

»Nun, weil Fräulein Löckner doch auch – hm, ja, – und solche Abneigungen sind oft erblich. – Freilich, ich glaube, da steckte noch jemand anderes dahinter, der die Schmutzerei auf den Treppen fürchtete – durch Hundepfoten, bei Regenwetter, – Frau Hähnchen, die doch hier die Hausmeisterin spielt. Ich kann's ihr nicht verdenken, aber –« Sein Gesicht wurde plötzlich finster. Der Major, mit dem Tesching im Arm, hatte den Garten betreten. Bruchstück fürchtete für seine Lieblinge –

Als wir oben in meiner Wohnung anlangten, war der Mittagstisch schon gedeckt. – Ich hatte keinen Hunger.

»Was ist's mit der Stange, Hosea«?« fragte ich, während er sich über das Essen hermachte.

»Daran brannte in jener Nacht, als mich die Polizei aufgriff und mitnahm, eine winzige Laterne, – also ein Signal! Und zwar so, daß der Lichtschein nur von der Anhöhe aus zu sehen war, wo wir heute standen.«

Auch das noch! Ein Signal! – Mein Haus enthüllte immer mehr Seltsamkeiten –!

Nach Tisch verabschiedete Hosea sich. Er habe in Palmburg zu tun. – Ich selbst ging dann in den Vorgarten und sah mir den Schneemann an, der jetzt eine rote Mohrrübe als Nase und Kohlenstückchen als Augen und Mund hatte. Bald gesellte sich Frau Sauerbier zu mir, eine dünne Hopfenstange, früh verblüht, mit harten Zügen und müden Augen. Sie fragte, ob sie ihre Nichte für einige Zeit zu sich nehmen dürfe, die in Palmburg das Konservatorium besuchen wolle. Ich hatte nichts dagegen. – Frau Sauerbier entpuppte sich als Klatschbase. So erzählte sie mir, Lore Hähnchen sei wohl nur deswegen nach Dresden geschickt worden, weil sie sich in den »schönen« Merling verliebt habe, während ihre Eltern es mindestens auf einen Assessor abgesehen hätten.

Während wir noch so in der Sonne vor der Haustür standen, fuhr draußen ein Taxameter vor. Der Gaul dampfte. Ein Herr kletterte aus dem Innern etwas mühsam heraus. Der Kutscher legte dem Pferde die Decke über und schlug sich die Arme knallend um die Brust, um sich zu erwärmen.

Der korpulente, kleine Herr kam auf das Haus zu. Er sah sehr gemütlich aus, so etwas nach Provinz in der Kleidung. Sein rundes Gesicht, umrahmt von einem rötlichen Haarwald, wirkte etwas komisch. Die Nase war bläulich, bläulich auch die Wangenpartien rechts und links des gewaltigen Gesichtserkers. Als er vor mir dann den Schlapphut lüftete, erschrak ich über seine häßliche Kopfform. Die rötlichen Haare waren ihm tief in die Stirn gewachsen, gescheitelt und mit Pomade festgelegt, so daß die Stirn dadurch noch niedriger erschien.

»Schellhorn,« stellte er sich vor. »Hier soll ja wohl eine Wohnung zu vermieten sein.«

Ich erschrak, – nur deswegen, weil Wehrhut vielleicht wirklich noch zurückkehrte. – Na – dann war's schließlich noch immer Zeit genug, mit ihm sich zu vergleichen.

Ich stieg mit Herrn Schellhorn die Treppe empor. Er sagte mir, er sei Chemiker und Erfinder.

Während wir die Räume der Wohnung des Kanzleirats durchgingen, fand sich Frau Guste ein – triumphierend, daß die Anzeige so bald gewirkt hatte. – Schellhorn hatte viel zu bemängeln, aber die Meisterin wußte alle seine Bedenken zu zerstreuen. Er mietete schließlich die Wohnung, obwohl ich mich sehr zurückhaltend zeigte und ihm nicht verschwieg, was hier vor kurzem vorgefallen war.

Nachher wurde in meiner Wohnung der Vertrag schriftlich abgeschlossen, wobei ich noch mehr über meinen neuen Mieter erfuhr. Er kam aus Breslau, war Junggeselle und wählte nur deshalb Palmburg zum neuen Wohnsitz, weil er mit den hiesigen chemischen Fabriken Geschäftsbeziehungen anzuknüpfen gedachte. – Mir war der Herr Dr. phil. Schellhorn nicht sehr sympathisch. Er war ein ziemlich eingebildeter Schwätzer, fast ein männliches Seitenstück zu der Sauerbier-Hopfenstange. Wie er Hosea zusagen würde, darauf war ich wirklich gespannt.

Der Menümaler kehrte erst recht spät heim, gegen acht Uhr abends. Ich saß bei Hähnchens, als er erschien, wo ich mit Meister Gottlieb tiefgründige Gespräche über alles mögliche geführt hatte.

Nach dem Abendessen erklärte Hosea der den Tisch abräumenden Meisterin, er würde heute sehr früh zu Bett gehen. Sie möchte ihm noch eine Kanne Tee nach oben schicken durch den Fritz. Er fühle sich gar nicht wohl und müsse sich stark erkältet haben.

Als der ehemalige Gymnasiast dann mit dem Tee sich bei uns meldete, gab es für mich eine neue Ueberraschung.

Hosea, der am Ofen im Wohnzimmer stand, sagte zu mir, der ich am Tische saß und Zeitung las:

»Willst Du gern den Absender der Chiffre-Botschaft kennenlernen?«

Fritz Weigand stellte gerade das Tablett auf den Tisch. Der Deckel des Teekännchens klapperte laut. Der Junge hätte die ganze Bescherung beinahe fallen lassen.

Dann rief Hosea halblaut »Fritz!« und zwang den Lehrling so, ihn anzusehen.

»Ich war heute nachmittag sowohl bei Deinem Vater als auch bei Deinem früheren Direktor und Deinem Klassenlehrer,« begann er. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich es durchsetze, Dir die Wiederaufnahme des Schulbesuchs zu ermöglichen. Nur verlange ich, daß Du uns gegenüber ganz aufrichtig bist. – Du hast meinem Freunde Malwa den Zettel mit den griechischen Buchstaben unten in der Werkstatt in die Tasche geschoben, als Malwa dem Meister und Dir beim Ausbessern der Geldschranktür zuschaute. – Woher stammt Deine Kenntnis von der Verbindung zwischen den beiden Wohnungen? Und weshalb wähltest Du diesen geheimen Weg, diese Tatsache Malwa mitzuteilen? – Im übrigen hast Du Deine Sache mit der Geheimschrift recht gut gemacht. Die Entzifferung wäre mir schwer geworden, wenn ich nicht unter den Buchstaben das mit einer Nadel leicht in das Papier eingeritzte Schema entdeckt hätte, wie die Buchstaben geordnet werden müßten.«

Der freundliche Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Der hübsche, schlanke Junge berichtete ohne Scheu folgendes: Bald nach Herrn Wehrhuts Einzug hätte dieser ihn gebeten, ihm unauffällig mal einen Zentrumbohrer mit recht langem Bohrer für kurze Zeit zu besorgen, aber nicht weiter darüber zu sprechen. Er hatte dem Herrn Kanzleirat diese Bitte auch erfüllt und war so mit dem sonst sehr zurückhaltenden Mitbewohner näher bekannt geworden, für den er in der freien Zeit dann auch gelegentlich einige Gänge erledigt hatte. Nur auf diese Weise hatte er sich dann auch in den Zimmern hin und wieder genauer umsehen können, und dies mehr aus Neugier als in einer bestimmten Absicht. Eines Nachmittags war er in dem Schlafzimmer, wo er den einen Fensterriegel wieder festschrauben sollte, allein gewesen, als er hinter einem Schränkchen das Schrillen einer Glocke gehört hatte. So entdeckte er die geheime Telephonleitung, die nach unten zu Marvilles führte. Er hatte dem Herrn Wehrhut nichts von dem Glockenzeichen gesagt, sondern das Zimmer verlassen, da seine Arbeit ohnehin beendet war. In der Erkenntnis, daß der Kanzleirat diese Einrichtung geheim gehalten wissen wollte, hatte er niemandem davon etwas erzählt, bis dann eben der Mord an Wehrhut auch ihm bekannt geworden war. Da hatte er es für seine Pflicht erachtet, wenigstens dem neuen Hausbesitzer hiervon Mitteilung zu machen. Den Totenkopf über den Buchstaben und die Geheimschrift selbst habe er lediglich deswegen benutzt, um nicht selbst in die Sache mit hineinverwickelt zu werden, dann auch, weil es ihm Spaß gemacht habe, der Benachrichtigung einen möglichst geheimnisvollen Anstrich zu geben. –

Hosea klopfte Fritz Weigand jetzt lachend auf die Schulter.

»Du hast sicherlich viel Detektivgeschichten verschlungen, mein Junge! Daher der Totenkopf – so als Geheimzeichen einer unheimlichen Bande, – wie?! – Na, ich kann das verstehen! Du brauchst auch keine Angst zu haben, wir werden Dich nicht verraten. – Sag' mal, Fritz, – kannst Du uns vielleicht noch etwas über Wehrhut mitteilen, – irgend etwas, das Du nur allein weißt? – Besinne Dich mal.«

Der schlanke, intelligente Junge wurde verlegen.

»Sie werden vielleicht schlecht von mir denken, Herr Garblig,« erwiderte er zögernd. »Aber – man hat doch sein Vergnügen daran –«

»Hm – wohl am Spionieren, Detektivspielen, – wie?!«

Fritz nickte. Und dann behauptete er, auch Fräulein Löckner hätte mit dem Herrn Kanzleirat viel verkehrt. In Marvilles Wohnung wären die drei häufiger zusammengekommen, aber stets in aller Heimlichkeit. Nach außen hätten sie dagegen immer so getan, als bestünden keinerlei Beziehungen zwischen ihnen.

Er gab auch für seine Behauptungen allerlei Beweise an, die sämtlich schwerwiegend genug waren, um die Person Wehrhuts urplötzlich in ein ganz besonderes Licht zu rücken.

Nachdem der Junge dann gegangen, sagte Hosea sofort zu mir: »Findest Du nicht auch, Phantasiemörder, daß dieser Kanzleirat uns recht viel zu raten aufgibt?! Ich möchte nur um alles in der Welt wissen, was er eigentlich mit Deiner Tante und Marville zu tun hatte?! Er ist aus Berlin nach Palmburg gekommen, und zwar erst vor etwa sechs Wochen, während Hermine Löckner und der Rentier mit der hübschen Tochter bereits viele Jahre Palmburger Bürger sind. Welche gemeinsamen Interessen verbanden die drei? Und schließlich: was mag Merling als vierter in diesem Bunde für eine Rolle gespielt haben?! – Ach, Erwin, – manchmal ist das Leben fast zu schön, selbst für meinen Geschmack, der ich doch die Schönheiten lediglich nach dem Maße des Ungewöhnlichen beurteile!«

Ich merkte, daß Hosea in mitteilsamer Stimmung war. Das mußte ausgenutzt werden.

»Dieses Maß des Ungewöhnlichen vermag ich ja leider nicht so wie Du richtig einzuschätzen,« meinte ich. »Dazu überschaue ich die Ereignisse denn doch zu wenig. – Ueberhaupt: wenn Du mir mal in vernünftiger Weise meine Fragen beantworten würdest, könnte dabei nur für die Sache Ersprießliches herauskommen. Eine kritische Aussprache klärt manches. Man lernt wichtiges von unwichtigem trennen, lernt auch eine vielleicht vorgefaßte Meinung abändern.«

»Sehr richtig, Kind. Auch ohne diesen geistigen Rippenstoß hätte ich heute mit Dir zusammen große Musterung der Geschehnisse und unserer Feststellungen abgehalten. – Nur eins mußt Du dabei mit in Kauf nehmen: in der Kürze steckt die Würze! – Nur keine überflüssigen Redensarten! – Also bitte: frage!«

»Du bist mir mit Hilfe Mikowskis sehr schnell gefolgt. Du sagtest: um mich zu schützen. – Wie konntest Du wissen, daß dies vielleicht nötig sein würde?«

»Ich hoffte, um diese kleine Beichte herumzukommen,« erwiderte er zögernd. »Na – es hat nicht sollen sein! – Ich habe Deine Tante Hermine persönlich gekannt, auch dieses Haus war mir nicht fremd.«

Wäre eine Bombe neben mir explodiert, – die Wirkung hätte nicht großer sein können als die dieser Eröffnung.

Ich schnellte empor. Ich brachte nur stotternd heraus:

»Persönlich –? Und auch das Haus –?«

»Behalte Platz, Erwin. – Die Erklärung ist so einfach. Du erzähltest mir mal von dem Haß, der Euch trennte. Dir ging es bald darauf hundsjämmerlich. Besinne Dich – damals, als Du im Krankenhaus lagst und die Aerzte Entkräftung festgestellt hatten. – Da bin ich hier nach Palmburg gefahren. Die Reise war sehr interessant. Ich hatte wie immer keinen Heller Geld, und der Kommißbock war irgendwo im Manöver. Ich fuhr also als Begleitmann mit einem Viehtransport mit, gegen vier Mark Tagelohn. Und genau vier Tage war der Güterzug unterwegs. Aus jener Zeit stammen meine Tierstudien. – Deine Tante entpuppte sich als eine weltkluge Dame. An meinem Strolchkostüm nahm sie keinen Anstoß. Sie lud mich sogar zum Mittagessen ein. Aber Geld für Dich war trotzdem nicht loszueisen. Sie sagte: »Es schadet niemandem etwas, wenn er sich unter Entbehrungen aufwärtsbringen muß. Nur schwache Charaktere gehen im Daseinskampf zu Grunde.« – Nachdem dieser Gegenstand dann erledigt war, kam eine allgemeine Unterhaltung in Fluß. So erfuhr ich auch von den geheimnisvollen Tönen, von dem Gespenst im Gemüsegarten, auch manches über die Hausbewohner. Deine Tante wollte mir dann die Rückreise bezahlen. Ich lehnte ab, und wir schieden meines »ganz unangebrachten Stolzes« wegen etwas in Unfrieden voneinander. – Dann kamst Du an den Stammtisch während jenes Schneesturms, zeigtest die amtliche Benachrichtigung, daß Du das Erbe antreten solltest. Du ahntest nicht, welche Aufregungen Deiner warteten. Ich meine den Spuk – Ich kannte Dich zur Genüge, wußte, wie sehr Du vor allem Geheimnisvollen sofort Nervenanfälle bekommst. Als Du gegangen warst, besprach ich mit dem Kommißbock das Nötige. Ein Zufall führte dann auch Mikowski in unsere Kneipe. So traf ich hier ein, fand schlimmeres vor, als ich vermuten konnte. Ich sah, drüben beim Krämer verkleidet im Laden stehend, Dich barhäuptig nach dem Schutzmann rennen. Dieser Vorgang war für mich der Beweis, daß nicht nur der Spuk Dein seelisches Gleichgewicht gestört haben konnte. Was ich an jenem ersten Tage noch erlebte, der mit meiner Verhaftung endete, weißt Du. Dann holtest Du mich aus dem Hotel Polizeigewahrsam ab. Und nun ging die Jagd los. – Du hast mir haarklein geschildert, was hier vorgefallen ist, wie Du auf Deinem neuen Besitz empfangen wurdest. – Zunächst der Fall Wehrhut. Dieses Attentat hat seine großen Eigentümlichkeiten. Suchen wir uns die Ereignisse auf Grund dessen, was wir bestimmt wissen, logisch wiederherzustellen. – Du hörst, in der ersten Etage stehend, in der zweiten das vorsichtige Oeffnen einer Tür, zweimaliges Dielenknarren, Läuten einer Flurglocke, einen Schuß, abermals zweimaliges Dielenknarren; Folgerung: eine Person kam aus Deiner Wohnung, ging auf die Tür Wehrhuts zu, trat dabei auf zwei knarrende Dielen, läutete bei dem Kanzleirat an, der wahrscheinlich beim Anblick dieser Person zurückwich, die dann sofort die Waffe hob, feuerte und, ohne die Tür einzuklinken, sich schnell wieder über die knarrenden Dielen in Deine Wohnung zurückzog. – Du siehst, Erwin, wie wichtig derartige Kleinigkeiten wie das Knarren der Dielen werden können.«

»Famos, Hosea, – famos!« lobte ich. »Nur weiter! Du bist so schön im Zuge!«

»Erledigen wir nunmehr die Frage,« fuhr der Menümaler fort, indem er sich geschickt ein Kognakgläschen bis zum Rande füllte, »wer diese Person gewesen sein kann, die aus Deiner Wohnung kam und hier auch wieder Zuflucht suchte. – Gehen wir die Mieter der Reihe nach durch. – Hähnchens scheiden aus. Er hielt Mittagsschlaf, sie befand sich in Deiner Begleitung. Die drei Lehrlinge kommen auch nicht in Betracht. – Dann Sauerbiers. Die ganze Familie war um den Kaffeetisch versammelt, – also auch Strich drunter! – Weiter Marvilles – Hier schaut die Sache schon anders aus. Weshalb, weißt Du. Das Interesse der Tochter für den Briefkasten – angeblich! Denn die letzte Postbestellung lag mehrere Stunden zurück –, ihre Teilnahme für Dich, den ohne Kopfbedeckung nach dem Schutzmann Davoneilenden, und manches andere gestatten uns, hinter Marvilles ein Fragezeichen zu machen. – Nun zur dritten Etage – zu Majors! Scheiden ebenfalls aus. – Schließlich die Bewohner der beiden Mansardengelegenheiten. Ueber Bruchstück kann ich mich noch nicht äußern. Merling, der Maler, verdient wieder ein dickes Fragezeichen. – Treffen wir die engere Auswahl! Sie beschränkt sich auf Marville und Merling. Letzterer wurde von Dir nach der Tat am Fenster von Wehrhuts Wohnung gesehen. Er kann also nicht der sein, der über die knarrenden Dielen hin- und zurückschritt. Bleibt der schlanke, vornehme Rentier übrig. Und den, mein lieber Erwin, sehen wir nun bereits geradezu in eine Wolke von bösen Verdachtsmomenten eingehüllt. Daß er Kletterübungen am Blitzableiter, die in Deiner Küche enden, unternommen hat, beweisen die Abdrücke seiner Gummiabsätze auf dem Fensterkopf. Er kann also sehr gut, bewaffnet mit einem zu Deiner Flurtür passenden Schlüssel und einem Revolver, damals den Kanzleirat niedergeknallt haben und wieder in Deine und von da in seine Wohnung zurückgekehrt sein. Auf ihn als den Täter deuten auch andere Vorgänge hin: das Verhalten seiner Tochter, die Du antrafst, wie sie lauschend vor ihrer Flurtür stand und die Dir dann vom Fenster aus nachblickte; ferner die Geschichte mit dem Schränkchen, auf die ich nachher noch zurückkomme. In dem Schränkchen wurde Wehrhut eben aus dem Hause geschafft. – Mithin: Percy Marville erscheint hinreichend verdächtig, den Kanzleirat niedergeschossen zu haben. – Du gibst mir doch hierin recht?«

»Vollkommen!«

»Schade. Ich hätte mehr von Dir erwartet. Du bist gedankenträge. Denkst Du denn gar nicht daran, daß diese Theorie, die ich da soeben entwickelt habe, verschiedene faule Stellen hat –?! – Du hast heute vormittag die Vernehmung Marvilles hier bei Dir mitangehört. Machte er auf Dich den Eindruck eines Menschen, dessen Gewissen schwer belastet ist?«

»Nein! Auf keinen Fall! Nie und nimmer traue ich ihm einen Mord zu.«

»Ich auch nicht. Und auch Märker ist unsicher geworden. Ich war heute nachmittag bei ihm. Ich habe ihm auch die Geschichte von den knarrenden Dielen erzählt. Trotzdem erklärte er wie wir, Marville könnte der Täter nicht sein, oder seine ganze Menschenkenntnis wäre keinen Pfifferling wert. – Ich meine, wenn drei Leute, die sich den frischen Luftzug des Lebens wie wir haben tüchtig um die Nase wehen lassen, sich einig sind, daß Marville fraglos ein ernstes Geheimnis zu bewahren, aber keine Mordtat zu verheimlichen habe, so darf man darüber nicht ohne weiteres hinweggehen, besonders, wenn erwiesen ist, daß zwischen dem Rentier und dem Kanzleirat recht enge Beziehungen bestanden haben müssen und daß beider Wohnungen zwecks Austausch schneller Mitteilungen noch eine eigene telephonische Verbindung gehabt haben. Weiter erleidet meine Theorie von vorhin auch dadurch noch einen tüchtigen Stoß, dass Marvilles Tochter, die doch offenbar in das Geheimnis miteingeweiht ist, die Verhaftung des Vaters sehr gefaßt hinnahm und daß sowohl der Rentier als auch Merling betonten, sie verweigerten nur vorläufig alle Angaben über jene Ereignisse. Und schließlich läßt sich auch die Schränkchengeschichte bei näherem Zusehen mehr als Entlastungs-, denn als Belastungsbeweis für Marville auffassen. – Ich bin heute nachmittag mit Märker nochmals in jenem Fremdenheim Teubler gewesen, wo jener Herr August Herbst, Aufkäufer der Münchener Kunsthandlung, gewohnt hat, – hm ja, genau so lange gewohnt hat, wie der Kanzleirat hier in Deinem Hause, das heißt, seit dem ersten Januar. Die Vermutung liegt also nahe, daß Herbst und Wehrhut sich gekannt haben. Hier hakte ich hinter, forschte heute die Teublerschen Dienstboten aus und erfuhr so, daß Wehrhut den Herbst recht oft besucht hat. Sie waren sogar so intim miteinander, daß Herbst befohlen hatte, den Kanzleirat selbst in seiner Abwesenheit in sein Zimmer einzulassen. – Dieses Zimmer haben wir, Märker und ich, uns gleichfalls angesehen. Sogar sehr genau. Auch das Schränkchen und die drei Kunstgegenstände, die angeblich darin verpackt waren. – Das Zimmer liegt abseits von den übrigen und hat einen besonderen Eingang vom Treppenflur. Herbst legte großen Wert darauf, gerade diesen Raum zu erhalten, – natürlich, um unbemerkt ein- und ausgehen zu können. – Nun zu dem Schränkchen. Es ist fraglos venezianische Arbeit, aus Ebenholz, reich verziert und bildet einen einzigen Behälter von etwa 1,25 Meter Höhe und Breite und 75 Zentimeter Tiefe. Ein Mensch hat darin also zusammengeduckt ganz bequem Platz.

– Ließ sich nun irgendwie nachweisen, daß die Kunstgegenstände damals nicht zusammen mit dem Schränkchen in das Zimmer Nr. 1 der Pension Teubler gelangt waren? – Ja! – Auf einem großen Kleiderspind mit Spiegeltür standen drei Holzkisten, die etwa vor zwei Wochen bereits für Herbst durch einen Dienstmann abgegeben worden waren. Ihre Größe brachte mich auf den Gedanken, daß die beiden Büsten und die Statue darin verpackt gewesen sein könnten. Jetzt waren die Kisten leer, die Deckel aber trotzdem fest aufgenagelt. Das Stubenmädchen behauptete nun, vor kurzem wären die Kisten noch ganz sicher gefüllt gewesen, und zwar hätte ihr Herr Herbst gelegentlich gesagt, jede enthielte einen sehr wertvollen Gegenstand. – Außer den drei antiken Kunstgegenständen, die in dem Ebenholzschränkchen noch eingewickelt lagen, war in dem Zimmer jedoch von derlei Sachen nichts weiter vorhanden. – Du siehst, lieber Erwin, wir kamen dem Schwindel immer mehr auf die Spur! – Ich nahm mir also nochmals das Schränkchen vor, hob die beiden sehr oberflächlich in Zeitungspapier eingewickelten Büsten und die Statue heraus und besichtigte den Boden. Und da fand ich Kratzer, die nur von den Hacken eines Menschen herrühren konnten, der sitzend in dem Schränkchen transportiert worden war! Auch die Art der Umhüllung der Kunstgegenstände war im übrigen völlig unzureichend und nur ausgeführt, um die ganze Sache glaubwürdiger erscheinen zu lassen. – Mit einem Wort: es hätte gar nicht mehr der Aufstöberung jenes Dienstmannes, der seinerzeit die drei Kisten gebracht hatte, bedurft, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß Marville gelogen hatte! Der Dienstmann besann sich zu allem Ueberfluß sehr genau auf diesen einen Auftrag und erklärte, er hätte die drei Kisten aus dem sogenannten Spukhaus aus Bäckershagen abgeholt, und sie wären recht schwer gewesen. – Jetzt darfst Du wieder »famos – famos!« rufen, Phantasiemörder –!«


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