Walther Kabel
Die Antenne im fünften Stock
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5. Kapitel.
In der Blücherstraße

Sieglinde von Lauken saß um dieselbe Zeit im sogenannten Salon am Schreibtisch und schrieb folgendes mit spitzem Bleistift auf ein Quartblatt:

»Sehr geehrter Herr H.! Es ist jetzt ein Viertel vier Uhr morgens, und Sie sind noch immer nicht heimgekehrt. Ich hatte die Tür nach dem Flur nur angelehnt, damit ich Sie bestimmt hörte. Ich wollte Sie gern persönlich sprechen. Leider bin ich jetzt doch zu müde geworden, um noch länger aufbleiben zu können. – Ich sah Sie drüben . . . Ich habe dann auch ›gehört‹ – – Sie verstehen!! Ich stand am dunklen Fenster und beobachtete – – das Auto . . . Und sah beide Autos davonfahren. Ich habe in Gedanken alles miterlebt . . . Aber – ich beobachtete noch mehr . . . Zehn Minuten später (nach dem Verschwinden der beiden Kraftwagen) wollte ich gerade den Fensterplatz verlassen, als ›drüben‹ im Zimmer mit der Balkontür Licht eingeschaltet wurde. Ich erkannte Th. E. – ganz deutlich . . . Dann wurde das Zimmer wieder dunkel. Aber nach abermals fünf Minuten bemerkte ich, daß Th. E. an einem Tau, das wahrscheinlich an einem Ende einen eisernen Haken hatte, zum Dache emporkletterte. Das Tau befestigte er oben mit Hilfe der dünnen Eisenstangen für die Antenne. – Er hat das Dach mit einer Taschenlampe abgeleuchtet. Er schien nach Spuren zu suchen. Nach zehn Minuten kletterte er wieder hinab, entfernte das Tau und schloß die Balkontür. Etwa um halb drei trat er aus dem Hause und ging sehr eilig davon. – Herr H.! Sie werden mich nicht falsch beurteilen, wenn ich Sie hier nochmals bitte, alles zu tun, damit jeder Verdacht von Th. E. genommen wird. Ich bin vielleicht nur eine mäßige Menschenkennerin, und doch habe ich das bestimmte Gefühl, daß Th. E. unmöglich zu etwas Schlechtem fähig ist . . . Wer ihn auch nur ein einziges Mal gesprochen hat, wer diese todestraurigen Augen gesehen hat, der weiß, daß er nur ein Unglücklicher ist . . . – Hoffentlich kann ich Sie gleich morgen früh sehen . . . Mama geht um neun Uhr die Stickereien wegtragen. Dann kommt sie vor zwölf nicht heim. – Bis dahin bleibe ich Ihre im voraus dankbare S . . .« – –

Nochmals überlas sie das Geschriebene . . . Und errötete vor sich selbst . . .

Harst würde ahnen, daß sie Eriksen liebte, daß hier – Liebe auf den ersten Blick ein Mädchenherz jetzt qualvoll ängstigte . . .

Liebe und Leid . . .? Beides war über die heitere, frische Sigi gekommen . . .

Und Sieglinde seufzte schmerzlich, erhob sich und schlich in den Flur, schob den zum Röllchen zusammengedrehten Zettel in das Schlüsselloch . . .

Dann entkleidete sie sich langsam . . .

Ihre Gedanken waren bei Thomas Eriksen . . .

Und ein paar Tränlein rannen plötzlich über Sigis Wangen . . .

Liebe und – Leid . . .

Und gerade ihr mußte das Schicksal diese Herzensprüfungen aufbürden – gerade ihr, die bisher so achtlos an allen Männern vorübergegangen war, die kaum eine Backfischschwärmerei gehabt hatte . . . –

Sie konnte nicht einschlafen . . .

Sie horchte nur immer, ob Herr Haberlein nicht heimkehrte . . .

Der war jetzt ihr einziger Trost . . . Der würde die Wahrheit an den Tag bringen . . .

Und dann erbarmte sich doch der Schlummer mitleidig dieses jungen Geschöpfs, das, im Glanze aufgewachsen, jetzt so tapfer den Kampf mit dem harten Dasein führte.

Liebe und Leid . . .

Kein Tröster erschien – kein Haberlein . . .

Es wurde zehn Uhr vormittags – elf Uhr . . .

Noch immer steckte das Papierröllchen im Schlüsselloch . . .

Da hielt Sigi es vor verzehrender Ungeduld doch nicht länger aus . . .

Sie eilte hinab in den nahen Zigarrenladen, telephonierte . . .

An Harst . . .

Aber nur eine feine, etwas zittrige Damenstimme meldete sich . . . »Mein Sohn ist nicht zu Hause – ist – verreist!«

Sigi wußte: Das konnte nur Harsts Mutter sein!

Und mit raschem Entschluß fragte sie: »Darf ich Sie besuchen, gnädige Frau? Ich habe so sehr dringend mit Ihnen zu sprechen . . . Mein Name ist Sieglinde von Lauken, Luitpoldstraße 32 . . .«

Frau Harst schien überrascht. »Habe ich richtig verstanden? von Lauken?« rief sie hastig . . .

»Ja . . . Bei uns wohnt ein Herr Haberlein, gnädige Frau . . .«

»Ah – Sie wissen also . . .

»Ja . . . Herr Haberlein hat mir selbst gestern abend – Einiges mitgeteilt . . .«

»Gut denn . . . Ich erwarte Sie . . .« –

Sieglinde kehrte eilends in die mütterliche Wohnung zurück, steckte Geld zu sich und legte für die Mama einen Zettel auf den Tisch im Eßzimmer. Sie müsse eine dringende Besorgung erledigen und würde gegen halb eins wieder daheim sein.

Nachdem sie dann noch das Papierröllchen mit einer spitzen Nadel wieder aus dem Schlüsselloch entfernt hatte, verließ sie das Haus und fuhr mit der Straßenbahn nach Schmargendorf.

In ihrer trüben, angstvollen Stimmung empfand sie diesen warmen klaren Februartag, der so gar nichts Winterliches an sich hatte und bereits den nahenden Frühling ahnen ließ, wie etwas Lästiges, wie etwas, das sie nur doppelt an ihre Seelennot erinnerte.

Und als sie dann in der Blücherstraße vor dem freundlichen alten Hause stand, in dem der berühmte Detektiv in so seltener Harmonie mit seiner Mutter, seinem Freunde und der alten Köchin Mathilde zusammenlebte, – als sie im Vorgarten wirklich schon die Krokusse blühen sah und die Sträucher mit grünen Blattknospen gleichfalls das Lied des Frühlings verkündeten, da befiel sie plötzlich eine große Mutlosigkeit und Verlegenheit . . .

Was – – wollte sie eigentlich hier bei der fremden Dame?! Nur nach Harald Harst sich erkundigen?!

Sollte sie etwa auch Frau Harst anvertrauen, daß sie sich auf den ersten Blick in einen Mann verliebt hatte, der nun in eine so dunkle tragische Angelegenheit verwickelt war?!

Sie zauderte immer noch . . .

Ihr Blick überflog die blanken Fenster . . .

Sollte sie wirklich eintreten?! Sollte sie dann vielleicht, wenn sie der alten Dame gegenübersaß, mit aller Deutlichkeit spüren, daß dieser Besuch eine gedankenlose Uebereilung gewesen?!

In diesem Moment war Sigi von Lauken ganz gegen ihre sonstige Art feige . . .

Sie – ging weiter . . .

Immer schneller – schneller . . .

Als ob sie fürchtete, es könnte sie jemand zurückrufen . . .

Die Straße war leer . . .

Und nur ein einzelner Herr kam Sigi auf dieser Seite entgegen – ein Herr im graubraunen Ulster . . .

Sieglinde beachtete ihn nicht . . .

Und – schaute jetzt nur flüchtig auf – ganz flüchtig.

Helle Röte schoß ihr in die Wangen . . . Ihre Füße waren wie gelähmt . . .

Sie stand – regte sich nicht, starrte den Herrn an . . .

Gerade jetzt diese Begegnung – gerade jetzt . . .! Und – hier in der Blücherstraße – keine fünfzig Meter vom Harstschen Hause entfernt . . .

Thomas Eriksen hatte Sieglinde jetzt erkannt . . .

Seine dunklen, melancholischen Augen weiteten sich. Ein Strahl von Freude leuchtete ebenso jäh in ihnen auf . . .

Er grüßte, trat näher . . .

»Gnädiges Fräulein, sehe ich Sie also doch wieder?!« sagte er in seinem fließenden, wenn auch etwas scharf akzentuierten Deutsch.

Er streckte ihr die Hand hin . . .

»Sie wollten mir damals im Konzertsaal Ihren Namen und Ihre Wohnung durchaus nicht nennen . . . Jetzt entgehen Sir mir nicht, gnädiges Fräulein . . .

Er lächelte ein wenig – ein liebes, harmloses Lächeln . . .

Sieglinde konnte nicht anders, nahm seine Hand . . .

Und jetzt war sie nicht feige . . . Jetzt wollte sie Gewißheit haben . . .

»Ich wohne Ihnen in der Luitpoldstraße gegenüber, Herr Eriksen,« sagte sie fast zu laut.

Und da – wurde sein Blick mit einem Schlage anders: traurig, forschend, verschleiert . . .

Sie zog ihre Hand zurück . . .

Er aber fragte langsam: »Woher kennen Sie meinen Namen, gnädiges Fräulein?«

»Ich hörte ihn zufällig . . .«

Er schaute sie seltsam prüfend an . . .

»Zufällig – so, so . . .« – Er murmelte es mehr. Er schien nachzudenken, zu überlegen . . .

»Sie haben mich also wohl dort oben im fünften Stock gesehen?« fügte er dann hinzu.

»Häufiger . . . Auch abends . . . Ich bin auch Radioverehrerin . . .«

Sein Gesicht verzerrte sich – nur für Sekunden . . .

Dann blieb nur ein müdes weltschmerzliches Männerantlitz nach diesem erschreckenden Wechsel des Ausdrucks zurück . . .

Sigi war hart. Sigi bohrte weiter . . .

»Ihre Antenne ist sehr praktisch, Herr Eriksen . . .«

Er nickte nur, seufzte unmerklich . . .

»Ihre Sendeversuche sind jetzt sogar in der Zeitung erwähnt, Herr Eriksen . . .«

Und – da raffte er sich auf . . .

»Gnädiges Fräulein, sprechen wir besser von etwas anderem . . . – Gestatten Sie, daß ich Sie begleite . . .? Ich – möchte Sie einiges – fragen . . .«

Seine Stimme klang ganz anders. Es war das angenehme, aber kräftige Organ eines Mannes, dessen Tatwille mit einem Male alle Bedenken zurückgestellt hatte.

»Bitte,« sagte Sigi nur . . .

Dann gingen sie weiter die Blücherstraße hinab . . . Vorbei an den langen hohen Holzzäunen der Bau- und Kohlenlager . . . Und mit ihnen wandelten ihre Schatten – immer auf dem Holzzaun entlanggleitend, scharf umrissen in dieser Sonnenhelle . . .

Eine Weile schwieg der Mann neben Sigi . . .

Es – wanderten ja auch noch andere Schatten mit ihnen – Schatten, die unsichtbar und doch drohend sich zwischen ihnen hochreckten.

Eriksen sagte unvermittelt: »Weshalb erwähnten Sie gerade die Antenne, gnädiges Fräulein? Sie verfolgten damit doch einen bestimmten Zweck. – Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antwort . . .«

Er schaute Sigi von der Seite an . . .

»Weil – weil ich – Ihre Stimme erkannt habe, Herr Eriksen,« erwiderte Sieglinde überstürzt. »Sie besitzen einen Sender . . . Sie werden das nicht leugnen . . .«

Eriksen blieb wieder eine Weile stumm . . .

Dann:

»Was haben Sie gehört, gnädiges Fräulein?«

»Den Streit – die Frauenstimme – die Drohung, die Ihnen galt . . .«

Er seufzte jetzt – ohne Scheu . . .

Murmelte:

»Ja – es ist ein – Verhängnis . . .«

»Was ist ein Verhängnis?«

»Alles – alles . . . Und am schlimmsten, daß man nichts einem anderen anvertrauen darf . . . Jedenfalls nur einem Menschen, der unbedingt schweigen würde . . . Und das – täte er . . .«

Sigi horchte auf . . .

Sie war nicht begriffsstutzig . . . – Eriksen hier in der Blücherstraße . . .!! Mit diesem »Er« konnte nur Harst gemeint sein . . .!

Und als ihr dies durch den Kopf schoß, stieg eine jubelnde Freude in ihr empor . . .

Wenn Eriksen etwa Harst hatte aufsuchen wollen, dann mußte er ja ein gutes Gewissen haben . . .!

Sigi blieb stehen . . .

Dicht vor ihm stand sie . . .

»Herr Eriksen, wollten Sie zu Herrn Harst?«

Jetzt fuhr er doch leicht zusammen . . .

»Kennen Sie den – Detektiv?« rief er verwirrt.

»Ja . . .«

»Und – Sie waren jetzt bei ihm? Weshalb?«

»Ich war nicht bei ihm, Herr Eriksen . . . Aber – gehen Sie zu ihm, rate ich Ihnen . . . Harst ist das, was man einen Gentleman nennt . . .«

»Ja – das weiß ich . . .« – Er sprach's ganz leise vor sich hin – grüblerisch und beunruhigt . . . »Aber auch er wird uns kaum helfen können . . . Außerdem würde er sich auch Gefahren aussetzen, die ich nicht verantworten könnte . . .«

Sigi von Lauken nahm jetzt all ihren Mut zusammen.

»Herr Eriksen, es handelt sich um die ermordete Frau, nicht wahr?! Um die Dame, die der Frau Lizzia Douglas so ähnlich sieht . . .«

Abermals wich er wie erschrocken zurück . . . Abermals wurde sein Blick mißtrauisch und verschlossen . . .

»Oh – Sie sind ja sehr gut unterrichtet, gnädiges Fräulein . . .« Das klang bitter und vorwurfsvoll.

»Gehen Sie zu Harst!« sagte Sigi bittend. »Gehen Sie . . .! Er wird Ihnen helfen . . . Allerdings – jetzt ist er nicht zu Hause . . .«

Thomas Eriksens Mund zeigte harte Falten . . .

»So . . . so – nicht zu Hause . . .! Also auch das wissen Sie . . .!« – Er stieß es hervor wie eine Anklage. »Auch das . . .!! Wer sind Sie eigentlich?! – Gnädiges Fräulein, ich – kann mir nicht denken,« – seine Stimme wurde wieder weich – »daß Sie – etwa im Auftrage des Detektivs mich beobachtet haben. Oh – seien Sie mir dieser Bemerkung wegen nicht böse. Wenn Sie ahnen würden, was seit Monaten auf mir lastet . . ., – – ein Verhängnis, etwas nicht Greifbares – ein unheimlicher Spuk . . .«

Sigi erblaßte, so trostlos klangen diese Sätze . . .

Und Eriksens sah's, griff plötzlich nach ihrer Hand . . .

»Sie – sind gut . . . Ich fühle es . . . Sie haben Mitleid mit mir . . . – Wo ist Harst?«

»Ich weiß es nicht . . .«

»War – Harst etwa auf dem Dach über meiner Wohnung?«

»Ja . . .«

»Also – ist er hinter uns her . . .

»Der Ausdruck trifft nicht zu. Ihr – Sender interessierte ihn, Ihre Buchstabendepeschen . . .«

»Ah – so gut kennen sie ihn . . .

»Seit gestern, Herr Eriksen . . . Das ist die Wahrheit . . .«

»Ich glaube Ihnen!« – Er sann wieder vor sich hin. »Ich will doch erst mit Lizzia sprechen . . . Sie ist krank, die Aermste . . .«

»Und – wer ist's?« – Sigi hielt den Atem an . . .

»Meine Schwägerin, die Witwe meines verstorbenen Bruders . . .«

»Und – die andere?«

»Ihre Zwillingsschwester Mary Douglas . . .«

»Sie drohte Ihnen . . .

»Ja . . .«

»Sie sprach von einem Geheimbund . . .«

»Leider . . .«

»Und diesem Bunde haben Sie angehört, Herr Eriksen . . .

»Als unreifer Student – drüben in Amerika . . .«

»Oh – sagen Sie mir doch alles . . . Ich flehe Sie an . . .«

Er hatte ihre zitternde Hand noch in der seinen . . .

Seine Augen leuchteten wieder auf . . .

»Sie – fürchten für mich, Fräulein Sieglinde . . .?« meinte er unendlich weich . . .

Sigi von Lauken erwiderte ehrlich: »Ja! Unser Gespräch während der Konzertpausen damals habe ich nicht vergessen können. Man trifft so selten Menschen, die einem auf den ersten Blick sympathisch sind. Ich – bin ja kein Kind mehr . . . Das Leben hat mich hart angepackt . . . Mein Vater war Minister in einem kleinen thüringischen Staate . . . Nach dem Umsturz stellte man ihn vor Gericht . . . Er starb in der Untersuchungshaft – aus Verzweiflung, weil er seine Unschuld nicht beweisen konnte . . . Meiner Mutter wurde jeder Anspruch auf Pension abgesprochen . . . Da war ich es, die – den Kopf oben behielt, Herr Eriksen . . . Wer solches durchgemacht hat, verachtet alle Redensarten . . . Ja – ich habe für Sie gefürchtet, habe Sie sogar kurze Zeit im Verdacht gehabt . . .«

»Des – Mordes wegen?«

»Ja . . . – kurze Zeit . . .«

»Jetzt wissen Sie wohl, daß ich einer solchen Tat nicht fähig bin . . .«

»Ich weiß es . . .«

»Dann – – wollen wir gemeinsam zu Herrn Harst gehen, Fräulein Sieglinde. Er wohnt doch mit seiner Mutter zusammen . . . Die wird vielleicht sagen können, wo wir ihn antreffen . . .«

»Versuchen wir es . . .« – Sigi schritt neben ihm her . . .

Und es war ihr, als ob sie diesen Mann seit Jahren kannte . . .

Jetzt freute sie sich über die frühen Frühlingslüfte . . . Jetzt – würde alles gut werden . . .

 


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