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10. Kapitel

Die Königsgrille.

Harsts Voraussage, daß wir Anneliese und den Holländer in dem Havelhäuschen vorfinden würden, traf zu. Als das Polizeiauto dort hielt und Dippert, Gerty und wir beide ausstiegen, öffnete sich die Haustür und eine breite Lichtbahn fiel in den Garten, in der Tür standen Anni und der sympathische Amsteln Arm in Arm, und Gerty, den Harald inzwischen seelisch wieder aufgerichtet hatte, eilte freudig auf sein Kind zu und schloß es fest in seine Arme, wobei ihm die Tränen über die zerfurchten Wangen liefen.

In demselben Zimmer, in dem wir die schlafende Anni gestern nacht so mühsam geweckt hatten, saß heute ein froherer Kreis von Mitspielern bei dem Grillen-Fall beieinander und lauschte zunächst andächtig Amstelns kurzen Erklärungen.

Der Holländer war tatsächlich Kriminalbeamter und zwar Leiter des Fälscherdezernats. Bevor er jedoch auf Einzelheiten eingehen konnte, fiel Harst ihm höflich ins Wort und meinte, man könnte die Sache mit wenigen Sätzen abtun. »Die Fälschungen von Kunstwerken werden in Holland genau so schwer bestraft wie Banknotenfälschungen. Ich gebe zu, ich habe zunächst an letzteres gedacht, aber eins sprach dagegen. Ich hatte nichts vom Auftauchen größerer Mengen falscher Guldennoten gehört, dagegen wußte ich, daß aus dem Museum in Amsterdam vor zwei Jahren überaus wertvolle Radierungen in Menge gestohlen waren und bei amerikanischen Millionären wieder aufgetaucht sein sollten. Professor Gerty ist kein Vorwurf daraus zu machen, daß die Grillen ihn zwangen, in Buitenzoorg bei Amsterdam nach den Originalen Platten anzufertigen, die ein geschickter Drucker dann unter Verwendung alter Papiersorten für die Herstellung von tadellosen Fälschungen benutzte, für die sicherlich von Liebhabern Unsummen gezahlt wurden. Diese Fälscherwerkstatt existiert nicht mehr, denn nach Gertys Flucht aus Buitenzoorg hatte die Königsgrille diesen »Geschäftszweig« eingestellt und all ihre Grillen auf die Spur Gertys gehetzt, dessen Rache sie fürchtete. Professor Gerty wollte Saduzzi erschießen, und ich kann ihm das nicht verargen«, wandte Harst sich direkt an Kriminalrat Dippert, »denn wenn Sie erst die ganze Wahrheit kennen werden, dürften auch Sie einen Vergeltungsakt entschuldbar finden. – Was Amsteln betrifft, wäre nur noch zu sagen, daß er Gerty, den berühmten Radierer, der irgendwo in Holland sein sollte, hier in Berlin suchte, dabei Anneliese kennenlernte und nun alles daransetzte, Gerty von einer unüberlegten Rachetat zurückzuhalten. Und was schließlich die Königsgrille selbst angeht, muß ich hier nun meine ursprüngliche Behauptung zurücknehmen: Tonio Saduzzi ist nicht die Königsgrille!«

Zuerst folgte dieser überraschenden Richtigstellung allgemeines ungläubiges Schweigen.

Dann brachen die verschiedensten Fragen und Ausrufe wie ein Schlossenregen über den ehern-standhaften Harst herein.

»Und wenn Sie mich verhaften, Dippert«, wehrte er sehr kühl ab, »– es wäre die ungeheuerlichste Dummheit die wahre Königsgrille jetzt in ihrer trügerischen Sicherheit zu stören, denn vergessen Sie eins nicht, Dippert: Die Frau hat die zwei Millionen, den Bundesschatz der Stummen, im Besitz und ihn sicherlich so gut versteckt, daß niemand ihn fände!«

Gerty gestikulierte erregt mit den Händen und schrieb dann schnell auf ein Blatt Papier:

Wenn es nicht Saduzzi ist, dann ist's Miß Gracie Holderston, die Besitzerin des Modesalons »Holder«, denn in Buitenborg in unserer Werkstatt, wo alles nur Stumme arbeiteten, fand ich verschiedentlich unbenutzte Umschläge mit Firmenaufdruck des Modesalons, und einen davon steckte ich vor meiner Flucht, die ich als Stromer fortsetzte, zu mir und benutzte ihn für den ersten Brief an Anneliese nach meiner Ankunft hier in Berlin. – Ich behaupte auch nochmals: Ich habe nie an Zungenkrebs gelitten, die Königsgrille und Saduzzi wollten mich lediglich seelisch zermürben.

Harst schüttelte leicht den Kopf. »Lieber Herr Professor, Sie irren sich, auch Miß Holderston ist nicht die Königsgrille. Ich gebe zu: Es ist eine Frau, sogar eine sehr intelligente und geschickte Frau, nicht mehr ganz jung, trotzdem vielleicht für manchen ganz reizvoll ...«

»Für Saduzzi!«, sagte Amsteln im Tone tiefster Ueberzeugung.

»Auch das ist ein Irrtum«, erklärte Harald mit diskretem Gähnen. »Saduzzi machte sich nichts aus Weibern, Saduzzi ist ein in seinen ärztlichen Beruf fanatisch verliebter Frauenverächter.«

Dippert murmelte mißmutig: »Daraus soll ein anderer schlau werden!! – Harst, und wann darf ich der Königsgrille Handschellen anlegen?«

Harald gähnte weniger diskret.

»Wenn ich mich gründlich ausgeschlafen und das Versteck der beiden Millionen und der sonstigen Beute der klugen, leider aber unklugen Dame gefunden habe.« Dabei blieb's, und wir fuhren heim, – – ins Bett?!

Der arme Dispert hatte es schlechter, – er mußte doch noch alles in die Wege leiten, daß die zum Kongreß der Stummen eintreffenden und zur Grillen-Organisation gehörigen Leute rechtzeitig verhaftet würden. Harald hatte ihm hierfür einen liebenswürdigen Wink zur Erleichterung der richtigen Auswahl gegeben: »Wer nicht auf das Zirpen reagiert, ist harmlos. – Fangen Sie's aber geschickt an!« –

Ein Bewohner des Gartenhauses des Salon »Holder« beobachtete am frühen Morgen bei noch völliger Dunkelheit zwei fragwürdige Gestalten, die sich auf einer Feuerleiter unweit des Schlafzimmerfensters der Miß Holderston in sehr verdächtiger Weise bewegten.

Der aufgeregte Mann alarmierte das Ueberfallkommando und stürzte dann die Treppe hinab, um den Einbrechern mit einer schweren eisernen Müllschippe tollkühn den Weg nach der Straße zu verlegen.

Angesichts einer Pistole, die der eine der Strolche ihm wortlos unter die Nase hielt, verzichtete er auf eine Benutzung seiner eigenen Waffe und gestand angstschlotternd, daß er das Überfallkommando herbeigerufen habe.

»Sie sind verrückt!«, zischte ihn der Mann mit der Pistole ärgerlich an. »Kommen Sie mit und halten Sie nachher den Mund, sonst kann es Ihnen übler ergehen als uns.«

Der Polizeiwagen wurde von dem Stromer weit vor dem Salon Holder noch glücklich abgefaßt, und der tapfere Herr mit der Müllschippe riß den Mund sperrangelweit auf, als die Polizei die »Einbrecher« höflichst laufen ließ, nachdem sie sich anscheinend diskret legitimiert hatten.

Die Stromer schliefen nachher in einem behaglichen Hause in sauberen Betten und waren mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. –

Am nächsten Mittag gegen ein Uhr bediente Miß Holderston gerade persönlich eine bevorzugte Kundin und lehnte, imposant, elegant und vornehm wie immer, leicht an einem der Riesenschränke, die all die »Gedichte« aus Seide, Tüll, Spitzen und anderen Stoffen enthielten. Ihr längliches Gesicht war wie stets makellos geschminkt und gepudert und machte sie um fünfzehn Jahre jünger, ihre wundervolle aschblonde Perücke war ein Kunstwerk ersten Ranges, und ihre schlanke, große und doch volle Gestalt ließ jedes Mannequin vor Neid erblassen. Wenn man noch die raffinierte Einfachheit ihres Anzugs und die klassisch schönen schmalen Hände mit in Rechnung stellte, war diese Frau einfach fehlerfrei, – nur eins störte vielleicht: Die überpuderten starken Augenbrauen und der noch stärker überpuderte Anflug von Schnurrbart sowie die seltsamen dunklen Augen, in denen im Gegensatz zu der sonstigen vornehmen Ruhe der Bewegungen ein schwer zu deutendes Flirren und Glitzern funkelte und dazu eine Unrast des Blickes, der fast stechend erschien.

Durch die Drehtür vorn am Eingang waren soeben zwei Herren und ein junges Mädchen eingetreten. Miß Holderston bemerkte sie nicht, mehrere hohe Stehspiegel und behängte Modellpuppen – allerneueste Pariser Modelle – versperrten ihr die Aussicht.

Nach den drei Personen erschienen noch drei Herren.

Der Leser wird sich bereits sagen, wer es war, Gerty nebst Tochter und Amsteln, dann Dippert und wir beide.

Wer unsere Gesichter schärfer geprüft hätte, würde darin einen Ausdruck schlecht verhehlter äußerster Willensanspannung, eine hochgradige Erregung zu meistern, entdeckt haben.

Die bevorzugte Kundin verabschiedete sich, und Harst schritt auf Miß Holderston zu.

»Sie kennen mich, nicht wahr?«

»Bedaure ...«, – das klang unendlich gleichgültig.

»Könnten wir Sie allein sprechen? – Dort ist wohl Ihr Privatkontor ... Bitte ...«

Dippert hatte bereits die Tür geöffnet und heimlich geflüstert: »Kriminalpolizei! Gehorchen Sie!«

Gracie Holderston musterte uns hochmütig-erstaunt und gehorchte, setzte sich vor ihren Schreibtisch und spielte mit ihrer Lorgnette. Ihre so eigentümlich schillernden Augen hingen starr auf Harsts etwas zu ernsten, zu traurigen Zügen. – Wir anderen fieberten innerlich ...

»Sie wissen, weshalb wir kommen, Miß Holderston«, begann Harald etwas überstürzt, als ob er dieses Häßliche schnell beenden wollte. »Ja, Sie wissen es ... Sie fühlten sich in der verflossenen Nacht sehr sicher ... Ich bin nicht schlafen gegangen, sondern Schraut und ich haben auf einer Feuerleiter gestanden und in ein sonst tadellos verhängtes Fenster hineingeschaut ...«

»Nun – – und?!« ... Aber die Stimme der Miß klang etwas heiser.

»Wir haben nicht viel gesehen, nein, – immerhin konnte man daraus einige wertvolle Schlüsse ziehen. Doch bevor ich hierauf zu sprechen komme, will ich einer jungen englischen Aerztin gedenken, die vor fünfzehn Jahren aus einer englischen Irrenanstalt entfloh, wo sie für Lebenszeit bleiben sollte, weil sie, um Operationen vornehmen zu können, ihren Patienten oder Bekannten Zigaretten anbot, die chemisch von ihr präpariert waren, um an der Zungenspitze gewisse Rötungen und Geschwülste, scheinbar Krebs, hervorzurufen. Diese Aerztin hieß Holderston, sie war und ist zweifellos geisteskrank, sie täuschte nach ihrer Flucht Selbstmord durch Ertrinken vor, ging nach Italien, lebte als Mann und wurde berühmt, kam als Professor Tonio Saduzzi nach Berlin und führte hier ein raffiniertes Doppelleben ...«

Gracie Holderston lächelte und nickte. »Und die Beweise, Herr Harst?«

Harald blickte zu Boden. »Die Beweise? – – Dort steht ein Beweis. Miß Königsgrille: Professor Gerty, eines Ihrer Opfer – – leider. Und die weiteren Beweise sind folgende: Schraut und ich beobachteten Sie heute früh, als es noch dunkel war, wie Sie mit schwarzem Stoff, einer Schere und Kleister in Ihrem Schlafzimmer eifrigst tätig waren. Man hat mir nun so und so oft den Vorwurf gemacht, meine Schlußfolgerungen wären zumeist Glückssache, weil zu fantastisch. Und doch bin ich im Grunde ein sehr nüchterner Kopf und sagte mir heute früh, daß es doch eigentlich für eine Modistin kein besseres Versteck für Wertgegenstände gäbe als ...«

Er schwieg ... – er rief, und wir Männer sprangen rechtzeitig zu, bevor Miß Doktor Holderston noch die Gifttablette schlucken konnte ... – Handschellen knackten ... –

Miß Doktor lachte schrill ...

»... Als eine schwarze Modellpuppe, wollten Sie sagen, Herr Harst! Man schneidet den Rücken auf, tut alles Wertvolle hinein, überklebt den Schnitt unauffällig, und – – bitte, zerschneiden Sie doch meine Modellpuppen!!«

»Nicht alle, nur eine. – eine die dort im Laden steht und trotz des Parfüms des Modellkleides nach frischem Kleister riecht ...«

»Vorzüglich!«, sagte die Geisteskranke ganz ernsthaft. »Wenn ich Sie zum Verbündeten gehabt hätte, wäre die Königsgrille nie entdeckt worden. – Und – wie sind Sie eigentlich hinter das Geheimnis meiner Persönlichkeit gekommen, Herr Harst?«

Vielleicht wirkte nichts so erschütternd als die besonnene Ruhe dieser Irren und ihre rückhaltlose Anerkennung für Harsts erfolgreiches Vorgehen. Ihre Geisteskrankheit, das stellten die Fachärzte nachher fest, beschränkte sich in der Hauptsache auf eine wahre Operationsgier, auf maßlose Eitelkeit und Hang zum Wohlleben, wobei sie, was ihre Verschwendungssucht betraf, stets einen äußerst kultivierten Geschmack entwickelte.

Harald schaute die im Grunde recht bedauernswerte Frau im stillen, etwas geistesabwesendem Blicke an.

»Ihr Geheimnis?!«, sagte er zögernd, als ob es ihm widerstrebte, diese peinliche Unterredung fortzusetzen. »Ihr Geheimnis war in dem Moment entdeckt, als ich feststellte, daß Sie bei Anneliese Gerty hatten einbrechen und gerade den einen Briefumschlag mit Ihrem Firmenaufdruck hatten mitgehen ließen. Wahrscheinlich waren Sie selbst der Einbrecher ... Daß gerade der Umschlag der Kassette entnommen war, veranlaßte mich, durch einen Bekannten nach London an die Polizei telegrafieren zu lassen, ob dort eine Gracie Holderston, wahrscheinlich Aerztin, bekannt sei. – Ihr Doppelleben als Saduzzi und Holderston fand ich fast gleichzeitig mit dem Antworttelegramm aus London heraus. Ich sah Ihre Hände, als Sie den Vorsitz im Speisesaal Ihrer Villa führten, und es waren die Hände einer Frau. Daß Sie in Ihrer Filiale in Buitenzoorg unbenutzte Umschläge Ihres hiesigen Modesalons umherliegen ließen, die Herrn Professor Gerty in die Hände gerieten, war nur einer jener immer wieder bei Kranken Ihrer Art zu beobachtenden schweren Versager der im übrigen gesteigerten Intelligenz. – Leben Sie wohl, Miß Doktor Holderston ...«

»Gleichfalls. Herr Harst ...« Sie neigte genau so höflich den Kopf, wie er vor ihr verbeugt hatte.

Er winkte uns und überließ Dippert den Abtransport der Irren und die Sicherstellung der Wertpapiere und des Bargeldes einer gewiß nicht alltäglichen Verbrecherin.

Eine Stunde darauf läuteten wir beide an der Flurtür der Frau Mieze Menzel. Erst nach einigem Zögern ließ das hübsche Frauchen uns ein.

»Holen Sie Ihren Mann, liebe Frau Menzel«, meinte Harald sehr herzlich und sehr frisch. – An diesem Besuch hatte er seine Freude. – »Wir wissen, daß er ganz unerwartet heimgekehrt ist. – – Er schläft? Oh. dann wollen wir ihn nicht stören. Bestellen Sie ihm beste Grüße und sagen Sie ihm, daß die beiden einzigen Menschen, die den Schützen genau kennen, der in der verflossenen Nacht auf Professor Saduzzi feuerte und nur dessen goldene Uhr traf, so daß lediglich ein Ohnmachtsanfall die Folge war, bestimmt schweigen werden. – Fürchten Sie nichts, liebe Frau Menzel, der Schütze quittierte durch den Schuß über einige präparierte Zigaretten und über eine überflüssige Operation. Saduzzi ist eine Frau und geisteskrank und gemeingefährlich und wird den Rest ihres Lebens in einer Irrenanstalt zubringen.«

... Ein vor Glückseligkeit schluchzendes jungverheiratetes Frauchen drückte uns immer wieder die Hände.

*

Diese Art Grillen hatte hiermit für immer ausgezirpt ...


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