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Der große Speisesaal der prunkvollen Villa hatte eine umlaufende Galerie, und der ganze Saal war festlich erleuchtet. Vier Kronleuchter und acht Wandleuchter spendeten eine blendende Helle, die alle Vorzüge des langen, getäfelten Raumes erkennen ließen. Modernste Holzarten waren hier verwendet worden, alles Kitschige fehlte, und doch war der Gesamteindruck irgendwie allzu gesucht und zu sehr auf raffinierte Schlichtheit abgestimmt.
Außer ein paar Klubecken mit Ledermöbeln und einem riesigen dunklen Büfett, auf dessen Auszügen Kristall, Schüsseln, Flaschen und Gläser blinkten, stand in der Mitte auf dunkelrotem Teppich nur ein schwerer, großer, unbedeckter Tisch, um den zwölf Männer saßen, einige davon sehr einfach gekleidet, andere in weggeschnittenen Röcken oder Smoking. Im reichgeschnitzten Präsidentenstuhl lehnte ein blasser bartloser Mann unbestimmbaren Alters mit dunkler Hornbrille, dünnem Kopfhaar, das nur an den Schläfen noch üppiger wuchs und über die zierlichen Ohren fiel, – sein geringer Schnurrbart war nur ein leichter Strich, und das Hervorstechendste an ihm waren seine langen, schmalen Hände, die soeben mit der Schnelligkeit und Sicherheit vollkommenster Beherrschung der Zeichensprache der Taubstummen den elf Beisitzern irgend etwas berichteten.
Harst und ich kauerten oben auf der Galerie hinter zwei an die Brüstung gekippten Lehnstühlen. Professor Saduzzi, ein großer Musikfreund, veranstaltete in diesem Saale für seinen Freundeskreis oft genug erlesene Konzerte.
Harsts Aufmerksamkeit galt jedoch, wie ich sehr bald merkte, weniger den Vorgängen im Saale als hier oben der Galerie, deren eine Seite uns gegenüber auf einen breiten Balkon mündete. Vier Glastüren verbanden Galerie und Balkon, und durch die eine Tür waren wir eingedrungen.
Je mehr die Zeit verrann, desto nervöser wurde Harst.
Er befürchtete irgend etwas, – Genaues wußte ich nicht, ich mußte es mir zusammenreimen, aber das stille Bild dort unten im Saale ließ keine geistige Sammlung zu. Das lautlose Gespräch des Vorstand des Bundes der Stummen mußte jeden Beobachter, der noch einer lebendigen Stimme sich erfreute, erschüttern. Auf dem Beratungstische lagen Aktenmappen, Papiere, Schreibunterlagen, und vor Saduzzi stand eine große Stahlkassette, die ganz neu zu sein schien.
Harsts Augen flogen unstät hin und her.
Von der Galerie führten an den Schmalseiten je eine Treppe in den Saal hinab, und auf der einen erschien jetzt wie hingezaubert die Gestalt eines Mannes im Radmantel, Künstlerhut und weißem Kragenschoner.
Es war die Treppe, die Saduzzis Platz gerade gegenüberlag.
Langsam, fast feierlich stieg Professor Albert Gerty die Stufen hinab. Die Leute am Tische bemerkten ihn erst, als er bereits den Saal erreicht hatte. Auch Saduzzi erblickte ihn nun, und seine lässige Gestalt straffte sich mit einem so jähen Ruck, als hätte er einen elektrischen Schlag empfangen, sein Gesicht wurde farblos wie ein ausgelaugtes Blatt, und die Hände krallten sich in die Sessellehnen, während die stieren Augen immer weiter aus den Höhlen zu treten schienen.
Gerty, dessen Arme und Hände von den sanft pendelnden Falten der Pelerine des Mantels verdeckt wurden, blieb am unteren Ende des Tisches stehen und schaute Saduzzi unverwandt an. Sein rechter Arm krümmte sich etwas. – – dann schrie eine schrille Mädchenstimme in die beklemmend« Stille hinein – – überlaut, in den Tönen wahnwitziger Angst:
»Vater, töte ihn nicht!!«
Kaum war dieses noch schriller betonte »Nicht!!« verhallt, als dorther, wo Gerty mit zurückschnellendem Kopf den ihm gegenüberliegenden Teil der Galerie mit etwas verkniffenen Augen absuchte, ein gedämpfter Schuß ebenso jählings erklang und der berühmte Operateur mit vorgeworfenen Händen über den Tisch taumelte, zurückfiel und seitwärts auf den Teppich rutschte.
In die wild aufflackernden heiseren, unverständlichen Schreckensrufe der elf stummen Beisitzer mischte sich ebenso unverständlich der scharfe Befehl einer harten Stimme, Stühle fielen drüben auf der Galerie um, flüchtig erschien ein Mädchenkopf, dann klirrte die von uns benutzte Glastür nach dem Balkon, und als ich mich etwas mehr aufrichten wollte, riß Harst mich nieder und flüsterte seltsam heiser und verstört:
»Das hatte ich nicht erwartet!! Das eine nicht!! Auf alles andere war ich vorbereitet. – – Schnell, – sie tragen Saduzzi hinaus ... Zur Seitentreppe!! Ich muß dabei sein!«
Professor Gerty und einer der Beisitzer hoben die reglose Gestalt Saduzzis empor ...
Gerty befand sich in einer unbeschreiblichen Erregung, in einem Geisteszustand, der an die letzte Stunde eines Delinquenten vor der Hinrichtung erinnerte ... All die übermenschliche Energie, die er aufgebracht hatte, eine nimmermüde Stimme in seinem Innern auszuschalten, all die schweren Seelenkämpfe, die dem Verzicht auf einen eisenharten Entschluß vorausgegangen waren und all die wortreiche Mühe seines Retters waren nun umsonst gewesen ...
Und diese nervenfolternde Angst Professor Gertys war nur zu begründet, denn ein Zufall wollte es, daß hier nun ein Mann unversehens im Saale auftauchte, der mit einem altertümlichen Leuchter in der Hand aus den oberen Stockwerken gekommen sein mußte.
Harst hielt mich zurück ...
»Dippert!! Sollte auch die Polizei hier bei der Arbeit sein?!«
Er lehnte sich über die Brüstung ...
Unten im Saal sagte eine kühle Stimme:
»Legen Sie Saduzzi dort auf das Ecksofa, Herr Professor Gerty! Sie kennen mich wohl noch: Kriminalrat Dippert ... – Ich glaube, ich habe hier einen recht guten Fang getan, nachdem Ihre Tochter beim Mieten des Havel-Häuschens so überaus vorsichtig zu Werke gegangen war und die verflossene Nacht mir höchst merkwürdige Dinge zeigte – genau wie dieser Abend!«
In Dipperts Ton lag bissigste Ironie ... – das war seine Charakterschwäche, alles, sogar einen Mord, nur mit der beißenden Lauge seines zweifellos überlegenen Geistes der notwendigen Ernsthaftigkeit zu entkleiden. – Er hatte zu Saduzzis intimeren Freundeskreis gehört, darüber waren wir sehr gut unterrichtet.
»Dja –«in kleiner Mord, nachdem man jahrelang Saduzzi erpreßt hat«, fügte er drohender hinzu. »Herr Professor Gerty, wollen Sie mir einmal Ihre Pistole zeigen? Nur heraus damit ...! Saduzzi können wir doch nicht mehr helfen, das sehe ich ... – Bitte, Ihre Waffe!«
Saduzzi lag auf dem Ecksofa, Gerty stand neben dem Tischchen ... Dippert dicht vor ihm ... Und wir beide, wir Inhaber von Logenplätzen im Theater, lehnten auf der Brüstung der Galerie und ließen uns nichts, aber auch gar nichts entgehen ... Dippert war nie unser wohlwollender Förderer gewesen, er war höflichablehnend, er mochte uns eben nicht. »Privatleute haben mit diesen Dingen nichts zu schaffen«, lautete sein unumstößliches Urteil über uns. Trotzdem oder gerade deshalb leistete er in seinem Fach hervorragendes und hatte schnell Karriere gemacht.
Gerty hielt ihm nun mit düsterem Blick eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer hin.
»Aha – – ganz modern!«, nickte Dippert und ließ den Patronenrahmen herausschnellen und roch an der Mündung.
Er stutzte merklich.
Von der Galerie her sagte eine sehr klare, beherrschte Stimme: »Hier sind zwei Zeugen, die genau wissen, Herr Rat, daß Professor Gerty nicht geschossen hat ... Der Schuß fiel hinter Gerty neben der Treppe. Schütze selbst blieb uns unsichtbar.«
Dippert blickte zu uns empor. »Die Stimme sollte ich kennen ... – Herr Harst?«
»Ja – zum Glück! Auch Schraut und ich haben einiges Interesse an der Villa hier, obwohl wir ...«
In diesem Moment erloschen sämtliche Lichter ... Die ganze elektrische Beleuchtung versagte, und die Kerzenstümpfchen, die in Dipperts uraltem Leuchter brannten, erhellten kaum einen Umkreis von einem Meter. Außerdem vernahmen wir klar und deutlich das ferne Zirpen einer Grille, und Harsts warnender Zuruf: »Beschützen Sie die Kassette, Dippert!« kam keine Sekunde zu früh.
Dippert, der im Berliner Präsidium seines raschen Zupackens wegen genau wie in der Unterwelt »Der Haifisch« genannt wurde, mochte wohl wissen, was die Kassette enthielt, warf den Leuchter zu Boden, riß seine Taschenlampe heraus und sprang vorwärts.
Als der Lichtkegel den langen Eichentisch streifte und auch unsere Lampen gleichzeitig aufblitzten, huschte eine windschnelle Gestalt zur nächsten Tür, – die Tür knallte zu, und die schwere Kassette, die der Dieb wieder fahren gelassen hatte, polterte zu Boden ... Sie war ihm bei der eiligen Flucht wohl doch zu hinderlich gewesen.
Gleich darauf mußten wir vor der Ueberfülle des jäh wieder aufflammenden Lichtes ungezählter Lampen die Augen schließen, blinzelten geblendet und tappten schnell in den Saal hinab, wo Professor Gerty nun völlig gebrochen in einem Sessel lehnte.
Harst trat auf Dippert zu, verneigte sich und sagte durchaus sachlich, indem er auf das Ecksofa deutete: »Ich bedaure, Sie darauf aufmerksam machen zu müssen, daß Ihnen der größte Schurke, den je die Erde zu tragen sich schämte, entflohen ist.«
... Das Ecksofa war leer.
Der »tote« Saduzzi hatte es vorgezogen, für immer zu verschwinden, obwohl nicht nur die Kriminalpolizei, sondern auch Schirmers Leute den Park besetzt hielten.
Dipperts peinlicher Schreck bei dieser Wendung der Dinge spiegelte sich deutlich in seiner sonst so beherrschten und energischen Miene wieder, und als nach einer Stunde jede Hoffnung zerrann, Saduzzis habhaft zu werden, begaben wir uns mit Gerty und zwei angesehenen Herren des Vorstandes in Saduzzis Herrenzimmer. Dippert trug die Kassette, die die Millionen der beiden Schenkungen in leicht realisierbaren Wertpapieren enthielt, und Harald stützte den etwas mitgenommenen Professor Gerty, der seltsam gleichgültig, übermüdet und erschöpft erschien.
»Was werfen Sie Saduzzi nun eigentlich vor, bester Harst?«, begann Dippert etwas kleinlaut.
»Körperverletzung, und vieles andere ..., – immerhin eine ganz nette Kollektion von Verbrechen«, meinte Harald nun auch recht ironisch. »Haben Sie schon einmal etwas von den Grillen gehört?!«, fügte er in einem Atem hinzu.
»Ja, – das ist natürlich Blech, Vagabundengeschwätz«, sagte Dippert geringschätzig.
Gerty war plötzlich aufgelebt, saß straffer da und nickte energisch und suchte durch Zeichen anzudeuten, dich diese »Grillen« existierten.
Harst, der jetzt tiefe Kerben um den Mund hatte, meinte mit allem Nachdruck: »Die Grillen sind vorhanden, sind eine Verbrecherorganisation von Stummen, und nur die sogenannte Königsgrille, ihr Oberhaupt, ist nicht stumm ... Es ist Professor Tonio Saduzzi, das größte Scheusal aller Zeiten ... Denn wer gesunden Menschen einredet, sie hätten Zungenkrebs, und ihnen die Zunge entfernt und dann die seelisch gänzlich Gebrochenen zu seinen Werkzeugen macht, ist schlimmer als ein Mörder, – und das hat Saduzzi bestimmt in zwei Fällen getan, die zu meiner Kenntnis gelangt sind.«
Dippert rührte sich nicht. Er war sehr blaß geworden. Er kannte Harst nur zu gut, er wußte, daß dieser niemals so schwere Anschuldigungen ohne genügendes Beweismaterial vorbringen würde.
Im übrigen ließ Harald ihm keine Zeit, irgendwie Fragen zu stellen.
»Bitte nehmen Sie die Kassette vom Schreibtisch und drehen Sie sie einmal um! Ich rieche schwarzen Eisenlack, und ich fürchte fast, daß Saduzzi, – – aha, da haben wir's ...!!«
Und bevor Dippert noch eingreifen konnte, hatte er einen bronzenen Briefbeschwerer vom Schreibtisch genommen und einen kräftigen Schlag auf den Stahlboden geführt, und der Stahlboden fiel nach innen, ließ sich herausheben, und ...
... und in der heute abend erst unter besonderen Vorsichtsmaßregeln von einer Bank nach Saduzzis Villa geschafften großen Kassette lagen nichts als alte Zeitungen ...
Dippert starrte in die Kassette hinein. »Harst, nur eins begreife ich nicht: Weshalb sollte die Kassette vorhin geraubt werden?!«
Ein unmerkliches Lächeln zuckte um Haralds Lippen. »Das alles war von der Königsgrille so befohlen. Es muß so sein, es ist so. Die Beleuchtung erlosch nach vorheriger genauer Vereinbarung, dann sollte im Dunkeln der Dieb erscheinen, sollte Saduzzi einen Stoß versetzen und mit der Kassette fliehen ... – Wer hätte dann Saduzzi verdächtigt?! Aber die Sache klappte nicht ... Jemand wollte Saduzzi erschießen, die Grillen hielten sich an ihre Befehle, und so kam die Tragikomödie zustande, die dem Bunde der Stummen trotzdem Millionen kostete ...«
Dippert dachte scharf nach. Dann nickte er kurz, schüttelte Harst kräftig die Hand und meinte anerkennend:
»Fabelhaft, daß Sie so flink aus dem Lackgeruch darauf schlossen, der Boden sei herausgesägt und nur wieder eingekittet!«
Harst kniff die Augen klein. »Keine Schmeicheleien! Ich will nur noch hinzufügen, daß die Kassette drei verschiedene Kunstschlösser hat und daß jeder der drei Herren des Vorstandes nur einen der Schlüssel besaß. Saduzzi mußte also den Boden aufsägen, – vielleicht war er sehr bewandert auf diesem Gebiet, was nicht ganz ausgeschlossen ist ...«
Ich dachte an Annelieses Kassette, aber ich hielt wohlweislich den Mund.