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4. Kapitel

Was Anneliese weiß und was sie nicht weiß.

Es war kurz nach zwei Uhr morgens, als an der Vordertür des kleinen Häuschens an der Havel sanft geläutet wurde.

Durch die Fensterläden schimmerte noch Licht, aber selbst als Harst energischer auf den Klingelknopf drückte, rührte und regte sich nichts.

»Im Grunde weiter nicht sonderbar«, sagte Harald leise. »Freiwillig hätte sie ihn nicht fortgelassen! Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich das Grillen-Signal gab!!«

In dem überaus dürftigen, aber peinlich sauberen Zimmer brannte eine elektrische Tischlampe mit hellem Schirm, und neben dem Tische in der Sofaecke kauerte die fest schlafende Anneliese Gerty.

Sie atmete tief und regelmäßig, aber das Teeglas vor ihr zeigte einen milchigen Bodensatz.

»Gerty hat seinem Kinde ein Schlafmittel heimlich in den Tee gemischt«, sagte Harald mitfühlend und beugte sich über den beschriebenen Briefbogen, der neben dem Teeglas lag.

Mein Liebling,

es hilft alles nichts, – ich darf Dich nicht in mein Unglück mit hineinziehen ... Ich darf Dich auch nie wiedersehen – nie!! Ich verdiene Deine rührende Kindesliebe nicht! Mag die Welt weiter denken, ich lebte in Holland!

Verzeihe mir, mein Liebling, – es wäre zwecklos gegen das Verhängnis anzukämpfen.

In Liebe und Dankbarkeit

Dein unseliger
Vater.

Vertraue niemandem! Auch diesem Amsteln nicht. Die Holländer haben mir am schlimmsten zugesetzt!

Der Briefbogen zeigte noch frische Tränenspuren, und die Handschrift war zittrig und unbeholfen.

Anneliese Gerty, der Harald zwei Tassen stärksten Kaffees eingelöffelt hatte, saß totenbleich mit weiten, starren Augen in der Sofaecke, Harst hielt ihre Hände in den seinen und sprach liebevoll auf sie ein. aber seine Worte schienen ihr Ohr nicht zu erreichen.

Sie hatte vorhin nach dem Erwachen den kurzen Abschiedsbrief ihres Vaters gelesen und dazu ohne eine Träne leise geäußert: »Ich wußte, daß es so kommen würde ...«

Sie war wie innerlich erfroren, und ihr Leid mußte unendlich groß sein, daß es die Grenzen des Erträglichen überstieg.

Es gibt einen Schmerz, der keine Tränen kennt, und es gibt auch eine Angst, die schließlich nichts, gar nichts mehr fürchtet und zur unendlichen Gleichgültigkeit wird – gegen alles!

Anneliese Gertys Beichte ließ uns bereits ahnen, mit welcher Art Hauptgegner wir es hier zu tun hatten.

Harst gab seine Bemühungen nicht auf, das Mädchen aus ihrer seelischen Erstarrung zu wecken. Vielleicht ist er gerade in solchen Stunden, wo der seine, intelligente, spürende und fantasievolle Geist dem schlichten, mitempfindenden Menschen weicht, als Charakter am allergrößten.

Kurz, – das Unmögliche gelang, und nach einer jäh hervorbrechenden Flut von Tränen ruhte Annelieses Köpfchen vertrauensvoll an seiner Brust, und der Mann mit den scharfen Zügen und den silbergrauen Schläfen, der dieses verängstigte Kind auf dem Schoße hielt, erinnerte mich an den andern Harst, der einst den Wunsch geäußert hatte, einer Allerärmsten beistehen zu können, – dann würde er Fred Steens Tod verwinden.

Ich will hier mit meinen Worten das Wichtigste wiedergeben, – mag der Leser sich Annelieses eingestreute Ausbrüche des Schmerzes und der Verzweiflung selbst hinzuergänzen. Es wird ihm nicht schwer werden.

– Professor Albert Gerty, Porträtmaler und Radierer, war stets ein sehr starker Raucher gewesen. Vor etwa zwei Jahren merkte er, daß sich an seiner Zungenspitze eine Geschwulst bildete. Er konsultierte einen Arzt, der ihn zu Professor Saduzzi schickte. Dieser berühmte Krebsforscher stellte Zungenkrebs fest, und der tief bedauernswerte, völlig fassungslose Künstler ließ sich operieren, verlor so die Sprache, da die ganze Zunge entfernt werden mußte, verschwieg sein Unglück vor aller Welt, verbarg sich in der Einsamkeit, wurde menschenscheu, seine Einnahmequellen versiegten, die Not meldete sich, und eines Tages verschwand er und hinterließ seinem Kinde nur ein paar Zeilen, daß er »auswärts« Arbeit gefunden habe. Es kamen Briefe von ihm, die zumeist in Emden aufgegeben waren, auch Geld, so daß Anneliese nie Not litt. Sie schrieb ihm auch postlagernd Antwort nach Emden, und dann – ein Jahr war verflossen – hörten alle diese Lebenszeichen Gertys auf, der für die Welt, so hatte Anneliese ausgestreut – in Holland lebte.

Monate gingen hin, – Gerty meldete sich nicht mehr. Da er Anneliese anbefohlen hatte, selbst für den Fall seines längeren Schweigens nicht etwa die Polizei zu verständigen, verhielt sie sich trotz all ihrer Besorgnis still. Dann traf plötzlich ein Schreiben von ihm ein, daß in Berlin aufgegeben war und daß seltsamerweise in dem mit Firmenaufdruck versehenen Umschlag des Modesalons »Holder, Berlin Kurfürstendamm 342«, steckte. – Der Brief befahl Anneliese, heimlich ein Häuschen zu mieten und weiteres abzuwarten. – Vor fünf Tagen dann ein neuer Brief von Gerty: Befehle für die Nacht vom 12. zum 13. Oktober! – Anneliese, hieß es darin, solle ein Auto mieten, solle sich für alle Fälle Handschuhe, die mit starker Leuchtfarbe getränkt sein müßten, ebenso eine kleine Handrakete beschaffen und ihn am Ausgang des Dorfes Dachsberg bei Potsdam erwarten.

Was weiter geschah, ist zum Teil bekannt.

Das Mädchen gehorchte wörtlich, aber der so heiß Ersehnte erschien nicht.

Anneliese stand hinter einem Chausseebaum, daß Auto auf einem Seitenwege. Da endlich Schritte auf der Chaussee: Ein Landstreicher und ein gut gekleideter Herr kamen dicht an ihr vorüber, und die schrille Stimme des Eleganten sagte gerade: »Gerty, Sie sind frei, wenn Sie noch das Eine für mich tun!«

Das Mädchen folgte den beiden bis zum Gasthof »Eldorado«, und hier schlich der Elegante zuerst ins Haus, dann nach fünf Minuten auch Gerty; der Elegante trat schnell ins Freie, warf etwas unvorsichtig die Haustür zu. – doch der Professor ward nicht mehr sichtbar.

Anneliese, durch das Leid und die Aufregungen der einsamen Jahre ungewöhnlich gestählt und zu allem entschlossen, umschlich das Haus, sah droben bei uns Lichtschein, schleppte eine Leiter herbei, und – – es folgten jene Ereignisse, die ich bereits geschildert habe. – Als das Mädchen schließlich den Vater glücklich im Auto untergebracht hatte, war sie ebenso erfreut über die Wiedervereinigung wie entsetzt über seine Verwahrlosung. In dem Häuschen mußte er sofort ein Bad nehmen, frisch« Wasch« und gute Kleidung anlegen,– – aber, obwohl Anneliese längst die Fingersprache beherrschte und ihn bat, etwas mitteilsamer zu werden, verharrte er zumeist in dumpfem Brüten, und – – das Mädchen erfuhr nichts ...

Dann vernahm sie heute nacht das Zirpen der Grille vor dem Fenster, – Harsts gutgemeintes und doch verfehltes Warnungszeichen.

Auch Gerty hörte es ...

Der Professor erbleichte, sein frisch rasiertes Gesicht rötete sich im Nu, verzerrte sich, – – eine fast bestialische Wut loderte in seinen Augen, – – nachher beruhigte er sich wieder, und das Ende war seine Flucht ... in den alten stinkenden Lumpen ...!

Die neuen Kleider lagen im Badezimmer.

Und ... Anneliese schlief, sollte schlafen.

Wir hatten sie geweckt ...

Neue Tränen flossen, und erst als unser Schützling abermals sich beruhigt hatte, fragte Harald scheinbar nur ablenkend: »Zeigen Sie mir die beiden Briefe, Kind. – Ich werde Ihren Vater retten oder ... selbst dabei zu Grunde gehen!«

Anneliese Gerty konnte sein Gesicht nicht beobachten, als er diese Worte sprach, deren Ton einem feierlichen Schwur glich.

Ich sah seine Züge, und selten verrieten sie eine so gefährliche, ernstgemeinte Todesdrohung wie damals.


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