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Siebzehntes Kapitel.
Der Mann vom Schwedensteig

Der Schwedensteig ist eine lange, dunkle Gasse, die sich hinter den großen Automobilfabriken hinzieht. Er führt vom Fluß aus eine Anhöhe hinauf und endet auf dem offenen, verkehrsreichen Platz im Altstadtviertel, der den Namen »Lausmarkt« führt. Den ganzen Weg hinauf liegt ein Laden neben dem anderen, und überall werden alte Möbel, Kleider, Schuhe, Küchengeschirr und allerhand gebrauchter Plunder feilgeboten. Ganze Zimmereinrichtungen sind auf dem Gehsteig ausgestellt, und in unendlichen Reihen hängen getragene Kleider, von Frack und Zylinder bis zu blauen Zwilchhosen und Arbeitskitteln. Auch ein paar Vogelhändler sind in der Gasse. In ihren Läden zwitschern Hunderte von grünen, roten und gelben Vögelchen. Die Drosseln schlagen und die Papageien stoßen heisere Schreie aus.

Klaus war nie im Leben in diese Gegend gekommen, und wenn er von den Vogelgeschäften absah, fand er, daß das eine recht unbehagliche Gasse war. Aber Tor schien hier ganz zu Hause zu sein. Wer war eigentlich Tor? dachte Klaus. Er hatte ja versucht, sich ein wenig danach zu erkundigen, aber Tor hatte immer angefangen von etwas anderem zu reden. Es blieb sich ja übrigens gleich, denn jedenfalls war er ein Prachtkerl. Vielleicht, daß seine Eltern arm waren und daß er sich genierte? Er, der wahrscheinlich eines schönen Tages Weltmeister der Schwergewichtsklasse wurde und vielfacher Millionär!

»Es ist besser, du gehst jetzt allein, Klaus,« sagte Tor, »hier kennt mich vielleicht wer!«

Klaus stutzte ein wenig, aber antwortete nur: » All right!« Während Tor das Berglein wieder hinunter schlenderte, ging Klaus weiter hinauf. Er gebrauchte seine Augen fleißig, blieb hier und dort stehen und nahm die ausgestellten Herrlichkeiten in Augenschein. Aus einem Haus kam ein alter Mann mit einem Käppchen herausgelaufen, rieb sich die Hände und fragte:

»Vielleicht eine Schlafzimmereinrichtung gefällig?«

»Nein, danke,« sagte Klaus. »Ich brauche für fünfzehn Öre grüne Seife!«

An einer anderen Stelle schnellte eine uralte Frau plötzlich wie der Hanswurst aus der Schachtel hinter einem ganzen Stoß von Lumpensäcken in die Höhe.

»Feine Laufteppiche! Nur zwei Kronen der Meter!«

»Nein, danke, ich suche eine Saloneinrichtung – aus Mahagoni,« antwortete Klaus und ging weiter. Das war wirklich eine spassige Gasse!

Dann fand er den Laden, von dem er vermutete, daß es der richtige sein mußte.

Über der Türe stand: »E. Simser, Kauf und Verkauf.« Und in einem kleinen Schaufenster waren allerlei Sachen ausgestellt – Operngläser, photographische Apparate, Porzellanfiguren, goldene Uhren und Ketten, Ringe, Silberkrüge und alte Gläser. Der Besitzer stand an den Türpfosten gelehnt und kaute an einer ausgegangenen Zigarre, während er gleichgültig über die Gasse hinsah. Er mochte wohl um die Sechzig herum sein und sah sehr kräftig aus. Klaus stellte sich ganz ruhig hin und bewunderte die Sachen in der Auslage. Da war unter anderem ein vergoldeter Spiegel mit einem Hirten und einer Hirtin auf der Spitze. Dieser Spiegel stand gerade so günstig, daß Klaus das Gesicht des Antiquitätenhändlers ganz deutlich darin sehen konnte. Die Nase war stark und krumm und hinter dem einen Ohr hatte er eine tüchtige Beule. Das hatte ja weiter nichts zu bedeuten, aber Klaus fand, daß der ganze Mann etwas Unheimliches an sich hatte und beschloß lieber gleich hineinzugehen.

Doch der Mann hielt ihn auf, indem er ganz gelassen ein Bein ausstreckte.

»Was willst du?«

»Na, was kaufen!«

»Bitte!« Der Mann zog das Bein zurück und Klaus trat ein. Der Mann folgte ihm und schloß die Türe.

»Willst du was Bestimmtes?« fragte Simser.

»Tja – hätten Sie nicht vielleicht zufällig eine gebrauchte Flaubertpistole zu verkaufen? Oder einen Revolver?«

Der Antiquitätenhändler sah ihn scharf an und erwiderte:

»Ich habe nicht die Lizenz, Schußwaffen zu verkaufen!«

»Na, dann halt nicht! So, so. – Aber es steht doch in der Zeitung, daß Sie dem Schwarzenwaldmörder einen Revolver verkauft haben!«

Simser zuckte zusammen.

»Geht das dich was an?« fragte er scharf. »Und außerdem hab ich doch nicht wissen können, daß er ein Mörder ist!«

»Nein, freilich nicht! Aber dem Moppel haben Sie doch auch einen Revolver verkauft!«

Klaus krümmte vor Spannung die Zehen nach innen. Wie würde das ausgehen?

Der Trödler sah Klaus blinzelnd an.

»Moppel? Wer ist denn das?«

»Das ist ein meiniger Freund. Ich bin heut früh freigekommen, aber im Gefängnis haben wir gar viel in der Klopfsprache dischkuriert. Er hat mir gesagt, ich soll gleich hergehen und dir sagen, wann also Spitzeln herkommen, sollst du ja nichts vom Revolver reden. Aber jetzt seh ich ja, daß du dir ohnehin nichts anmerken laßt, da kann der Moppel ganz ruhig sein.«

Der Antiquitätenhändler antwortete keine Silbe, er lehnte sich nur an den Ladentisch und fing an mit dem Zeigefingerknöchel auf die Glasplatte zu trommeln. Dabei rollte er immerzu den Zigarrenstummel im Mundwinkel hin und her.

Klaus spitzte die Ohren. Simser »telegraphierte!« Und das Wort, das er telegraphierte, war: »ytxxsi, ytxxsi!«

Einen solchen Glücksfall hätte Klaus sich nicht träumen lassen. Ohne eine Miene zu verziehen, trommelte er zurück: »leppom, leppom!«

Der Antiquitätenhändler drehte langsam den Kopf und sah Klaus an. Und Klaus lächelte vielsagend und blinzelte:

»Na?« fragte er. »Glaubst mir jetzt?«

»Ja. – Wegen was bist du denn gesessen?«

»Na, Raub! Kein Taschendieb bin ich nicht!«

»Wie heißt du denn?«

»Kaschmir Kaschmirson.«

Simser ließ den Zigarrenstummel fallen.

»Was sagst du?« flüsterte er heiser.

Klaus lachte:

»Ich sag, wenn jemand dich fragt, wer heut hier war, dann sag nur, der Zigeunerbub Kaschmir, dem Panther sein Neffe, und er ist gekommen, um dir zu drohen, daß du das zurücknehmen mußt, was du von dem Revolver gesagt hast!«

Simser hatte den Zigarrenstummel wieder aufgeklaubt und versuchte ihn anzuzünden.

»Du kennst ihn also, den Kaschmir?« fragte er beinahe flüsternd.

»Und ob ich ihn kenn, den Mistkerl! Ich bin doch nicht für nichts und wieder nichts ein Graubein. Schad nur, daß der Krischtian das Luder nicht gleich ganz umgebrungen hat!«

»Pst, nenn den Namen nicht so laut! – Hat der Moppel was vom Geld gesagt?«

»Ich hab ja gehört, wie er – den ich also nicht nennen soll – Tag für Tag wegen dem Geld gemahnt hat, aber wenn ich den Moppel danach gefragt hab, hat er nur zurückgeklopft: Halts Maul, Kaschkind!«

»Das schaut dem Biest schon ähnlich. Der will alles für sich allein haben. Und jetzt, wo er die Hasenschnauze so fein losgeworden ist, ist er ja der Einzige, der von dem Versteck was weiß. Aber das wird noch schön lang dauern, bis der herauskommt! Für diese letzte Gschichte kriegt er seine drei Jahr – mindestens.«

»Was hat er denn angestellt?« rutschte es Klaus heraus.

Der Trödler starrte den Knaben erstaunt an.

»Das weißt du gar nicht?«

Klaus überlegte blitzschnell und antwortete:

»Über die Sache hat er mir kein Wort erzählen wollen!«

»Aber du mußt doch noch andere von uns getroffen haben, die's dir erzählt haben!«

»Ja, wieso denn? Ich bin doch gleich vom Gefängnis hierher!«

»Aha. – Also, der Lump ist mit der Hasenschnauze in Kumpanie gegangen, um uns zu bemogeln, und ist mit der ganzen Beute von dem Kasseneinbruch bei den Vereinigten Banken – eine Viertelmillion, ist in der Zeitung gestanden – einfach durchgebrannt. Zehn Prozent wär auf die Zwei gekommen, abgesehen vom Arbeitslohn. Aber jetzt kriegt er einen Schmarrn! Der wird uns ganz brav das Versteck verraten müssen, wenn nicht – –.«

Der Trödler schnitt eine unheimliche Grimasse.

»Aber die Beweise, haben wir die Beweise?« fragte Klaus atemlos. Er fühlte das Herz heftig in der Brust hämmern.

Simser zog die Augenbrauen in die Höhe und sah Klaus verwundert an.

»Beweise?« fragte er. »Was für Beweise denn?«

»Die Beweise, daß der Moppel die Hasenschnauze abgemurkst hat!«

»Wer sagt denn, daß die Hasenschnauze tot ist?«

»Ja, aber, das ist er doch!«

»Nein, keine Spur. Der sitzt ganz gemächlich drüben in Stockholm.«

»Aber du hast doch gesagt, daß der Moppel ihn so fein losgeworden ist!«

» Das hab ich gesagt, ja. Er hat seinen Anteil von der Beute bekommen, hat ein Auto gestohlen und ist über die Grenze geflüchtet. Und dann ist der Moppel mit dem Rest allein in den Schwarzenwald hinauf.«

Klaus hatte einen ganz heißen Kopf bekommen. Er wußte ja, daß das eine aufgelegte Lüge war. Aber er traute sich nichts zu sagen. Murmelte nur:

»Aha, so ist das!«

Der Trödler zog eine neue Zigarre aus der Westentasche und zündete sie an.

»Was fängst du jetzt an?« fragte er in gleichgültigem Ton.

»Ja, was soll ein armer Teufel tun – wenn nicht stehlen?«

»Hm,« murmelte Simser.

»Hast vielleicht einen Tip für mich?« fragte Klaus.

»T–ja. Ich denk grad drüber nach – unsere Klopfsprache kennst du ja?«

»Das hast du doch mit deinen eigenen Ohren gehört!«

»Ja–a – das schon. Stimmt! – Vielleicht können wir dich morgen früh brauchen. Da wär ein Hunderter zu verdienen. Mindestens. Du weißt doch, wo der Doppel-Nelson wohnt?«

»Ja, das weiß ich ganz genau!«

»Ich werd ihm ein paar Worte schreiben, daß man dir die Sache übergibt.«

Simser trat an ein kleines Schreibpult und kritzelte einige Worte auf ein Stück Papier. Dann steckte er es in einen Umschlag, tropfte Lack auf den Brief und verschloß ihn mit seinem Siegelring.

»Da,« sagte er und reichte Klaus den Brief, »lauf damit, so geschwind du kannst, zum Doppel-Nelson und gib ihm das. Aber verlier's ja nicht! Der Brief ist gefährlicher als Dynamit. Und komm dann am Nachmittag wieder her, dann werd ich dir ein bissel anständigere Kleider verschaffen.«

»Dank schön,« sagte Klaus und reichte dem Antiquitätenhändler die Hand.

»Nix zu danken,« erwiderte Simser trocken.


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