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Fünfzehntes Kapitel.
Der Kriegsrat

Ohne ein Wort zu sagen, ja ohne eine Miene zu verziehen, war Kaschmir dagesessen und hatte das Gespräch der Jungens angehört. Jetzt klingelte er plötzlich. Die Schwester kam herein, und kaum hatte sie sich in der Türe gezeigt, als Kaschmir kurz und befehlend sagte:

»Hol mir meine Kleider. Will ich auch aufstehen!«

Die Krankenpflegerin zog sich verblüfft zurück und kehrte nach ein paar Augenblicken mit dem Doktor wieder.

»Du willst aufstehen, Kaschmir?« fragte der Doktor genau so freundlich, als wenn er gefragt hätte: Du willst ins Feuer springen, mein Junge?

»Ja,« antwortete Kaschmir mit gerunzelter Stirn, »bin ich g'sund!«

Der Form halber begann der Doktor die Wunde des kleinen Zigeuners zu untersuchen, aber je weiter die Untersuchung fortschritt, einen desto erstaunteren Ausdruck nahm sein Gesicht an. Schließlich murmelte er:

»Es ist wirklich sonderbar, Schwester, aber die Wunde ist vollständig zugeheilt! Ich glaube wirklich, wir können dem Jungen erlauben, ein paar Stunden aufzubleiben! Holen Sie ihm nur seine Kleider, Schwester!«

Kaschmir lächelte heimtückisch. Zwei Minuten später war er damit beschäftigt, sich die Hosen anzuziehen. Die Krankenpflegerin schüttelte den Kopf und murmelte:

»Das geht nicht gut aus!« Und mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.

»Wir müssen Kriegsrat halten!« sagte Henrik. – »Wir haben keine Minute zu verlieren! Macht euch bereit zu notieren!«

»Möcht ich auch mit dabei sein,« sagte Kaschmir plötzlich.

Die Jungen wechselten blitzschnelle Blicke. Tor beugte sich vor und flüsterte:

»Um Gotteswillen nicht! Er ist doch der Neffe des Mörders!«

»Nicht des Mörders,« flüsterte Henrik zurück, »sondern des unschuldig Verdächtigten!«

»Aber ein Zigeuner ist er ja doch!« flüsterte Klaus.

Henrik dachte einen Augenblick nach, dann sagte er:

»Kaschmir, wir haben zuerst noch eine andere Sache zu verhandeln. Willst du nicht ein bißchen in den Garten gehen, wir rufen dich dann, wenn wir fertig sind!«

Kaschmir schnitt nur eine verächtliche Grimasse und ging.

»Seid ihr bereit zu notieren?« fragte Henrik. Er hatte sich wieder ins Bett gelegt und die Hände unter dem Nacken verschränkt. »Also – wir glauben folgendes zu wissen: erstens, daß Christian Nelson mit der Narbe, auch Doppel-Nelson genannt, der Anführer einer gefährlichen Verbrecherbande ist, die man unter dem Namen ›Die Graubeine‹ kennt. Du hast doch gesagt, daß er die Narbe hat, Klaus?«

»Mja, also das heißt nein,« antwortete Klaus ein bißchen verlegen, »eigentlich hab ich gar keine Zeit gehabt, darauf achtzugeben. Wenn ich ja gesagt habe, so war's, weil der Zigeunerbub mich danach gefragt hat. Um ihm den Gefallen zu tun, also!«

Henrik zog die Augenbrauen in die Höhe:

»Du hast also falsches Zeugnis abgelegt?«

»Aber geh! Zeugnis! Ich hab doch damals nichts andres gewußt, als daß er ein ganz gewöhnlicher Teppichklopfer ist! Aber von mir aus, ich geh gleich wieder zu ihm hinüber.«

»Nein, nein, das ist nicht notwendig. Die Narbe ist das x in der Gleichung – und jetzt haben wir die Gleichung gelöst. Also ist die Narbe da, ob du sie jetzt gesehen hast oder nicht, Klaus! Aber einen schwarzen Vollbart hat er also gehabt?«

»Schwärzer als Pech!«

»Und knochig ist er?«

»Eigentlich nur ein Knochenhaufen mit Haut und Kleidern drüber!«

»Schön, gehen wir weiter! Das war das Erste. Zweitens wissen wir, daß der Panther, der eigentlich Gibelhaus Benjàminson heißt, der Häuptling einer Zigeunerschar ist, die wir der Einfachheit halber das Panthervolk nennen wollen.«

»Feiner Name,« warf Tor ein.

»Panthervolk und Graubeine, das hört sich gut an,« sagte Klaus.

»Drittens wissen wir, daß das Panthervolk und die Graubeine seit fast zwanzig Jahren in einer Art von Krieg miteinander leben.«

»Gorillakrieg,« unterbrach Tor.

»Oder Vendetta,« sagte Klaus.

»Richtig. Vor vierzehn Jahren hat der Doppel-Nelson von einem Mitglied des Panthervolks einen Messerstich in die Schläfe bekommen. Das war oben auf dem Fileberg. Wenige Tage darauf wurde Kaschmirs Vater getötet aufgefunden, und das ganze Panthervolk war fest überzeugt, daß der Doppel-Nelson sich auf diese Weise gerächt habe! Aber ganz sicher ist es ja nicht. Christian Nelson zog damals als Hausierer mit der Hasenschnauze herum. Eine Wunde in der Schläfe ist eine gefährliche Sache, und es läßt sich ganz gut denken, daß er längere Zeit mit dieser Wunde liegen mußte und daß also vielleicht nicht er, sondern die Hasenschnauze – aber darüber werden wir noch später nachdenken! Wir müssen weitergehen. Kommt ihr mit?«

»Wir notieren, daß wir schon den Schreibkrampf haben!«

»Das ist recht! Jetzt kommen wir also zu der verhängnisvollen Nacht oben in den Schwarzenwäldern, der Nacht vom 26. auf den 27. Juni. Da hatten wir zuerst den höchst unerfreulichen Besuch vom Moppel und der Hasenschnauze.«

»Na, für sie war er noch unerfreulicher, glaub ich!« unterbrach Klaus.

»Die Hasenschnauze wird den Kinnhaken, den ich ihm damals verabreicht habe, nicht so bald vergessen!« sagte Tor stolz.

Henrik wurde ernst. Er hatte noch nicht Zeit gefunden, ihnen Kaschmirs Überzeugung, wer der Ermordete war, mitzuteilen.

»Es kann sein,« sagte er langsam, »daß die Hasenschnauze diesen Schlag schon vergessen hat! Aber darauf komme ich auch noch zurück – später. Schön! Kaum fünf Minuten nachdem wir, also das heißt ihr zwei, den Moppel und die Hasenschnauze wieder in den Wald gejagt habt, kommt ein Stein zur Türe hereingesaust, und kurz darauf sind die zwei Strolche wieder da. Sie pumpern an die Türe und flehen uns an, sie einzulassen. Durch eine Türspalte hab ich das Gesicht der Hasenschnauze erblickt. Ich sehe es noch heute ganz gräßlich und deutlich vor mir. Eine solche Todesangst kann man sich einfach nicht vorstellen. Und wie wir sie gefragt haben, warum sie den Stein geworfen haben, da haben sie gesagt: Das waren die Andern

»Und dann haben sie uns fünfzig Kronen geboten, wenn wir die Türe aufmachen,« sagte Tor.

»Ja, das beweist noch etwas, nämlich, daß sie Geld bei sich hatten, vielleicht ungeheuer viel Geld, denn bitte, fünfzig Kronen, das ist doch keine Kleinigkeit!«

»Es kann ja sein, daß es nur ein Bluff gewesen ist,« meinte Klaus.

»Das glaub ich nicht, und das werd ich euch noch später näher erklären! Aber wer waren die Andern

»Die Zigeuner selbstredend,« sagte Klaus, »denn das Panthervolk und die Graubeine liegen doch im Krieg miteinander!«

»Nein, die Zigeunerbande mit dem Panther an der Spitze ist ja erst eine Stunde später zu der Hütte gekommen. Und der Panther hat uns doch gefragt, wie sie ausgesehen haben, die zwei Falotten, die bei uns waren. Er hat gefragt, das erinnere ich mich ganz genau: War der eine ein knochiger Bursche mit einem kohlschwarzen Vollbart?«

»Christian Nelson!«

»Doppel-Nelson!«

»Ja natürlich! Wir wissen ja, daß er in dieser Nacht dort oben war, denn er hat doch dem Kaschmir ein Messer in die Brust gestoßen!«

»Augenblick, Augenblick,« unterbrach Tor. »Jetzt hab ich's! Natürlich war er das, der so furchtbar geschrien hat!«

»Wer?« fragte Henrik verwundert.

»Der Bub, von dem wir geglaubt haben, du bist es!«

Tor und Klaus nahmen sich jetzt die Worte aus dem Mund, um zu erklären, was sich, nachdem Henrik in den Fluß gefallen war, begeben hatte. Henrik hörte ihnen mit wachsendem Staunen zu. Das meiste von all dem war für ihn neu. Er war ja fast die ganze Zeit bewußtlos gewesen, bis er im Krankenhaus erwachte.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet,« murmelte er, »hört zu, Kinder! Jetzt haben wir ja auch den Beweis, daß es nicht die Polizei war, vor der der Moppel und die Hasenschnauze eine solche Heidenangst hatten! Denn die zwei Polizisten haben sich ja damals ein tüchtiges Stück unterhalb der Elchkalbshütte befunden!«

»Dann vielleicht vor der Gendarmerie?« meinte Klaus, »denn es hat ja in der Zeitung gestanden, daß der Gendarmeriepostenführer und seine Leute den Moppel arretiert haben!«

»Ja, aber jetzt habt ihr doch gerade erzählt, daß das Gendarmerieauto erst gleichzeitig mit uns zur Lystadbrücke gekommen ist. Wieviel Uhr kann es damals gewesen sein?«

»Das erinnere ich mich ganz genau,« sagte Tor, »es war halbzwei Uhr nachts.«

»Schön, also kann es auch nicht die Gendarmerie gewesen sein. Wenn wir also jetzt die Polizisten, die Gendarmerie und die Zigeuner ganz ausschalten –?«

»Er redet wie ein Buch,« flüsterte Klaus Tor zu.

»– so bleibt nur Christian Nelson übrig!«

»Aber der ist doch der Chef der Bande!«

»Spielt keine Rolle! Oder im Gegenteil, spielt eine sehr große Rolle! Sehen wir uns einmal die Botschaft des Doppel-Nelson an den Moppel an: Wo ist das Geld? Sag es! Morgen letzte Frist. Sonst erraten wir.«

»Ja, sag mir nur, was wollen denn die erraten?« fragte Tor und kraute sich hinter dem Ohr.

»Ja, das weiß ich nicht. Aber damit können wir uns später befassen. Das wichtigste ist jetzt die Frage, wo das Geld ist.«

»Welches Geld?«

»Es steht doch in der Zeitung, daß der Moppel ein berühmter Dynamiteinbrecher war, nach dem die Polizei gerade an diesem Tag gefahndet hat. Also können wir uns denken, daß dieser Moppel – und vielleicht auch die Hasenschnauze – einen großen Diebstahl begangen haben und mit dem Geld geflüchtet sind.«

»Ja, das tun ja alle Diebe, soviel ich weiß,« sagte Klaus.

»Wir dürfen aber nicht vergessen, daß das eine Verbrecherbande ist und Christian Nelson das allmächtige Oberhaupt. Selbstverständlich hätten sie teilen sollen! Und vielleicht hätte der Doppel-Nelson den Löwenanteil bekommen müssen.«

»Das hört sich gar nicht so übel an,« murmelte Tor bewundernd.

»Das werdet ihr bald merken,« fuhr Henrik in einem Ton fort, als wäre er der Chef der Kriminalpolizei in eigener Person, »paßt nur gut auf! Während der Moppel und die Hasenschnauze durch die geschlossene Tür mit uns unterhandeln, kommen die anderen hinzu, wir haben doch ganz deutlich zwei Stimmen gehört, eine grobe, polternde, die gebrüllt hat: ›Diebesgesindel! Schufte! Verräter!‹, und eine abscheulich schrille, piepsende Stimme, die kreischte: ›Heut ist bei uns das Pulver billig und die Gnade teuer!‹ Der erste war selbstverständlich Christian Nelson mit der Narbe!«

»Und der andere?« fragten Klaus und Tor gleichzeitig.

Henrik zögerte ein wenig mit der Antwort. Diesen Trumpf wollte er mit Nachdruck ausspielen.

Dann sagte er:

»Der andere – das war Marinius! Der Giftmischer.«


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