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Fünfzehntes Kapitel

Unser Kolonialland und die große Aufgabe unsrer auswärtigen Politik

Wo liegt unser Kolonialland? Wo das Kolonialland der übervölkerten Länder des europäischen Kontinents? England hat seine ungeheuern Kolonien, wohin alljährlich Tausende seiner Kinder als Ansiedler abfließen, andre Tausende zu vorübergehendem Aufenthalt wandern. Mit den dort erbeuteten Reichtümern könnten, wenn aller sonstige Erwerb stockte, die Armen des Landes immer noch als Almosenempfänger erhalten werden, und obwohl dadurch das Leben des englischen Volks weder gesund und natürlich noch glücklich würde, so wäre es doch immerhin noch ein Leben. Aber wie steht es um unsern Kontinent? Außer Deutschland sind auch Belgien und Italien übervölkert, beide in noch höherm Grade als unser Reich. Das Schicksal dieser Nachbarländer darf uns nicht gleichgiltig sein, weil die Arbeitermassen, teils Arbeit suchend, teils bettelnd und vagabundirend, über die Grenzen hin und her fluten. Zwar herrscht in Belgien der Zug nach Frankreich vor, allein es wäre nicht unmöglich, daß die Franzosen ihre Grenze für fremde Arbeiter sperrten. Daß die künstliche Verminderung des Volkszuwachses nach französischem Muster noch weiter um sich greife, als sie jetzt schon herrscht, und auch bei uns allgemeine Volksgewohnheit werde, können wir, auch abgesehen von den Rücksichten auf Sittlichkeit, Gemütsleben und Gesundheit nicht wünschen. Denn so tief die Russen in moralischer Hinsicht stehen und so elend sie sein mögen, mit ihrer ungeheuern Zahl und ausgerüstet mit den Höllenmaschinen unsers chemischen Zeitalters könnten sie nach einem oder zwei Jahrzehnten sehr wohl daran denken, einen erfolgreichen Verwüstungs-, Raub- und Eroberungszug nach dem Westen zu unternehmen, und die hinter ihnen sitzenden Mongolen würden ihnen nachschwärmen; die Zeiten Tamerlans würden wiederkehren, aber mit Dynamit. So unzugänglich das europäische Gemütsleben den Mongolen bleibt, im technischen Fortschritt können sie es, sobald sie in die Konkurrenz eintreten, mit uns aufnehmen.

Gerade darin nun liegt das Heilmittel für alle unsre Nöte, daß wir diesem in den Russen- und Mongolenseelen lauernden Drange nach dem Westen zuvorkommen, indem wir den Zug unsrer Altvordern nach dem Osten wieder beleben. Gleichzeitig müssen mir Südamerika für Europa in Anspruch nehmen.

Politische Vorurteile, deren Entstehungsweise für unsern Zweck gleichgiltig ist, haben die ungeheuerliche Lüge Wesentlichen Anteil an dieser Lüge hat die im vorigen Kapitel beschriebne Unterjochung und Verdunkelung der Völker durch den modernen Staat. Wenn nur Beamten, Diplomaten, Soldaten da sind, so ist der moderne Abgott »Souveränität« fertig; ob das Volk, das dieser Abgott beherrscht, auf dem er thront und aus dem er seine Nahrung zieht, ein Lumpengesindel oder ein hochgebildetes Volk tüchtiger Männer und edler Frauen ist, das kommt weiter nicht in Betracht. erzeugt, daß Rußland ein dem unsern gleichberechtigter europäischer Staat sei, dem gegenüber das Gebot der Nichtintervention aufs strengste beobachtet werden müsse, während es doch weiter nichts ist, als was die Slawenländer östlich von Elbe und Inn für unsre Vorfahren gewesen sind: unser natürliches Kolonisationsgebiet. Wie für den einzelnen, so giebt es auch für die Völker keinen andern sittlich zu rechtfertigenden Anspruch auf Eigentum, als den durch Arbeit begründeten. Die Okkupation allein reicht nicht hin. Man denke sich zwei Ansiedlerfamilien auf eine wüste Insel verschlagen. Sie teilen sich in die Bodenfläche. Nach fünfzig Jahren ergiebt sich, daß für die eine der beiden Familien ihr Anteil trotz sorgfältigsten Anbaues nicht mehr hinreicht, weil sie zu zahlreich geworden ist, für die andre aber trotz ihrer geringen Kopfzahl der ihrige auch nicht, weil sie zu träg ist und unfähig, ihr fruchtbares Ackerland gehörig zu benutzen. Wäre es vernünftig, wenn die erste ruhig und geduldig forthungern wollte, anstatt auch im zweiten Anteil das Heft in die Hand zu nehmen, dessen unfähige Bevölkerung sich zu unterwerfen und so dafür zu sorgen, daß sämtliche Bewohner der Insel, die einen als Herren, die andern als Knechte, satt zu essen haben? Die Russen haben die sarmatische Ebene besetzt, deutsche Fürstenstämme, immer wieder ein frischer auf den in der russischen Barbarei absterbenden altern gepfropft, haben ihrem Staatswesen den äußerlichen Stempel des Europäertums aufgedrückt, der in einigen Hauptstädten, am Hofe, in der Bureaukratie und im Kriegsheere sichtbar wird; aus den unterjochten deutschen Kolonisten – auch die Polen haben einigen Zuschuß geliefert – hat diese deutsche Dynastie den Bedarf an Intelligenz bestritten, der erforderlich war, diese europäische Kulisse aufrecht zu erhalten; deutsche Einwanderer haben diesem Staate zu einer einheimischen, wenn auch noch lange nicht dem einheimischen Bedürfnis genügenden Industrie verholfen, aber aus sich heraus europäische Kultur zu erzeugen, oder auch nur die dargebotne Kultur sich völlig anzueignen, ist das Volk nicht imstande gewesen, und nicht einmal den eignen Boden etwa in der Weise auszunutzen, wie es das ebenfalls nach europäischem Begriff unzivilisirte, aber durchaus tüchtige bulgarische Bauernvolk thut, sind die Russen imstande. Die Fülle der in den letzten Jahren zu uns gedrungnen unzweifelhaft zuverlässigen Nachrichten über russische Zustände ist so groß, daß wir gar nicht nötig haben, die einzelnen Autoritäten anzuführen. Nur auf die Wirtschaftsbilder aus dem nördlichen Rußland von P. Seeberg (im Jahrgang 1892, Nr. 20-22 der Wochenschrift Ausland) möchte ich verweisen, weil der Verfasser außerordentlich günstig für Rußland gestimmt ist und sich gegen solche ereifert, die es unterschätzen. Besondres Gewicht lege ich auf folgenden Satz im Leitartikel von Nr. 127 der Schlesischen Zeitung: »Immer mehr geht der russische Großgrundbesitz in die Hände spekulativer Kaufleute über, während die Bauernschaft mit ganz vereinzelten Ausnahmen sich im tiefsten Elend befindet.« Das genannte Blatt unterhält nämlich nicht allein sehr enge Fühlung mit Rußland, sondern ist auch dermaßen russenfreundlich, daß, als vor einigen Jahren in einem andern Blatte der Scherz gemacht wurde, der politische Leiter der Schlesischen Zeitung sei in das russische Ministerium für Volksaufklärung berufen worden, ich diesen Scherz für Ernst genommen und ein volles Jahr lang geglaubt habe, bis mich ein Bekannter unter stürmischer Heiterkeit über den Thatbestand aufklärte. Alle Welt weiß es, daß der russische Bauer in Schnapsdusel und Müssiggang zu Grunde geht, daß, wenn er wirklich arbeitet, irgend ein unproduktiver Wucherer den Ertrag seiner Arbeit einheimst, daß er auf dem fruchtbarsten Boden verhungert und diesen Boden selbst durch Raubbau zu Grunde richtet; daß man die Wälder verwüstet, die Ströme versanden und versumpfen läßt, daß die Beamtenschaft spitzbübisch, bestechlich und unfähig ist, daß die Intelligenzen des Volks großenteils verzweifelte Nihilisten oder Utopisten sind, und daß die Regierung kein andres Heilmittel gegen die permanente Verschwörung kennt, als eine brutale Repression, deren Maßregeln an Barbarei alles überbieten, was aus ältern Despotenwirtschaften bekannt ist, und noch dazu nicht selten zur Unterdrückung und Beseitigung gerade der besten angewendet werden. Vor etwa dreißig Jahren las ich in den Grenzboten einmal Berichte eines russischen Verbannten, und darin stand ein Satz, den ich später noch einmal wörtlich aus dem Munde eines andern Verbannten als dessen eigne Erfahrung vernommen habe; er meinte, trotz aller körperlichen Leiden sei doch die Zeit, die er in Sibirien verlebt habe, eigentlich die glücklichste seines Lebens gewesen, denn es sei die einzige, wo er unter lauter edeln Menschen gelebt habe. Und zum Dank für alle Dienste, die wir Deutschen dem Zarentum geleistet haben, sperrt es unsern Industrieerzeugnissen und Auswanderern seine Grenze, drangsalirt und vertreibt es die deutschen Kolonisten, verfolgt es die evangelische Religion in den einzigen Provinzen des Ungeheuern Reiches, die sich, dank ihren paar hunderttausend evangelischen Deutschen, wirklicher europäischer Kultur erfreuen, und läßt es durch seine Presse unaufhörlich gegen Deutschland hetzen. Zwar haben die Altrussen eine Anzahl Musiker, Dichter und verdiente Gelehrte aufzuweisen, allein ein wenig Musik, Poesie und Gelehrsamkeit in den höhern Ständen ist noch lange keine Volksbildung. In den Grenzboten Jahrgang 1893, erstes Vierteljahr, S. 263 wird in einem Aufsätze, mit dessen Ausführungen ich im übrigen größtenteils übereinstimme, bemerkt, es sei bei uns »natürlich besonders die jüdische Presse, die den Haß gegen Rußland schürte«; es werde da über alles geschimpft: Staat, Kirche, Beamtentum, Heerwesen, Finanzen, Sitten, Gebräuche. Von Haß gegen Rußland ist nun bei mir nicht die Rede. Wie könnte man überhaupt ein Land hassen? Es handelt sich für mich bloß darum, ob die Eigenschaften des russischen Volks, die wirtschaftlichen Zustände Rußlands und die Natur des Landes uns Deutsche berechtigen, Rußland als geeignetes Kolonialgebiet zu betrachten. Die geographischen Verhältnisse nun, die wirtschaftlichen und Sittenzustände des russischen Volks, auf die ich meine bejahende Antwort stütze, sind notorisch. Sie sind von einer Menge patriotischer Russen ausführlich dargestellt worden, und es sind besonders Übersetzungen solcher Darstellungen in den Preußischen Jahrbüchern, aus denen ich meine Ansicht geschöpft habe; in jüdischen Zeitungen habe ich nur wenig Material gefunden. Russische Novellisten wie Tolstoi und Dostojewski schildern das Volk und seine Zustände nicht anders. Auch die Schilderung des russischen Soldaten im dritten Vierteljahr des Jahrgangs 1891 der Grenzboten, S. 481 nach Feuilletons des vom Fürsten Meschtscherski herausgegebenen Grashdanin stimmt genau damit. Wenn, wie der oben erwähnte Mitarbeiter der Grenzboten erzählt, der General Totleben durch die Urteile der deutschen Presse über Rußland in leidenschaftliche Erregung versetzt wird, so ist das das natürlichste von der Welt. Ein wackrer Mann liebt eben sein Vaterland, mag es beschaffen sein, wie es will, und ungünstige Urteile darüber verletzen ihn um so tiefer, je mehr er ihnen im tiefsten Innern Recht geben muß. Dazu kommt, daß er, als Deutscher, zu jenen Männern gehört, die ihre Lebenskraft der Aufgabe widmen, aus dem russischen Volke etwas zu machen, was es seiner Natur nach nicht werden kann; wie reizbar muß ein empfindender Mensch durch solche Sisyphusarbeit werden!

Das russische Volk ist unfähig, den geräumigen Boden, den es besetzt hält, zu kultiviren, wir brauchen diesen Boden und würden ihm, wenn mir ihn besäßen, binnen kurzem die reichlichsten Früchte abgewinnen. Wir leiden an Hypertrophie des Volksgehirns, haben einen Überschuß an Intelligenz, an Geistern, die zur Leitung andrer, zu nutzbringenden Unternehmungen befähigt sind, einen Überschuß, der, weil er nicht verwendet wird, daheim in sittlichen und politischen Eiter übergeht; die Russen dagegen brauchen intelligente, thatkräftige, ehrliche Leitung so notwendig wie das liebe Brot, ja erst solche Leitung würde ihnen ihr Brot sichern. Es giebt nicht zwei Völker auf der Erde, die einander gegenseitig so notwendig brauchten, so aufeinander angewiesen wären wie die Deutschen und die Russen; flössen aus Deutschland zehn Millionen Menschen nach Rußland ab, so wäre beiden Völkern geholfen: wir Deutschen hätten daheim Luft, draußen Spielraum für unsre Intelligenz, für unsre Unternehmungslust und Thatkraft, die Russen würden der Erziehung zur Arbeit und Mäßigkeit teilhaftig, und beide Völker hätten Brot in Fülle. Übrigens fällt die Grenze unsers östlichen und südöstlichen Kolonisationsgebietes keineswegs mit den Grenzen des europäischen Rußlands zusammen. Dahinter liegt das fruchtbare Südsibirien, liegen Kleinasien und Syrien, die unter römischer Herrschaft einen einzigen ungeheuern Garten bildeten Man lese die Schilderungen im fünften Bande von Mommsens römischer Geschichte.; deutschem Fleiße würde es gelingen, diesen Ländern die Blüte zurückzugeben, die türkischer Unverstand verwüstet hat. Wollen wir warten mit dem notwendigen Entschlusse, bis der Steppensand die russische Ackerkrume verschlungen hat und ein paar Millionen unsrer deutschen Brüder verhungert sind? Wollen wir fortfahren, die natürliche Expansionskraft und das gesunde Expansionsbedürfnis unsers Volks zu unterdrücken und in Krämpfe umzusetzen, die seine Eingeweide zerreißen? Wollen wir unsre Kanonen lieber zum Niederkartätschen unsrer beschäftigungslosen Arbeiter, unsrer deutschen Brüder verwenden als dazu, ihnen ein Arbeitsfeld und uns allen unermeßliche Reichtümer zu erobern? Was hält uns ab? Etwa die Ehrfurcht vor dem Zarentum und seiner Bureaukratie? Hat sich je ein wackeres Volk durch die Ehrfurcht vor irgend welcher Majestät abhalten lassen, sich zu holen, was es braucht und worauf es einen begründeten Anspruch hat? Haben sich unsre germanischen Altvordern durch ihre Ehrfurcht, die sie wirklich hegten, vor dem römischen Reich, das diese Ehrfurcht wirklich verdiente, abhalten lassen, ihre überzählige Jugend mit gewaffneter Hand über seine Grenzen zu schicken und Äcker zu fordern, auf die Gefahr hin, daß es dadurch von innen heraus aufgelöst werden könnte, wie es im Laufe der Zeit allerdings geschehen ist? Barbaren haben sich nicht gescheut, ein hochzivilisirtes und um die Kultur hochverdientes Reich aufzulösen, und wir sollten vor der notwendigen Expansion zurückschrecken, weil wir Kulturbringer durch unsre Kolonisationsarbeit möglicherweise ein Barbarenreich auflösen, dessen Bewohner uns großenteils als Befreier begrüßen würden, zuletzt auch die Altrussen, nachdem der unverständige Fanatismus verraucht sein wird, den man in ihnen anzufachen freilich nicht verfehlen wird? Oder sollte uns der Gedanke abhalten, daß das Zarentum der »altbewährte Träger monarchischer Traditionen« ist? Wir danken für einen Monarchismus, dessen Früchte der Meuchelmord und der Nihilismus sind.

Zugleich wäre dieser Entschluß das Mittel, mit der sozialen Spannung auch die politische zu lösen. Wie lange soll das Possenspiel noch dauern, mit dem sich die europäischen Völker in ihren eignen Augen herabsetzen, daß sie sich allesamt zu Tode rüsten, angeblich, um den Frieden aufrecht zu erhalten, den, wie sie ohne Ausnahme beteuern, keins von ihnen bedroht! Kriege können, so sagt man allgemein, heute nicht mehr für dynastische Interessen oder um kleine Länderfetzen, sondern nur noch für das bedrohte Lebensinteresse einer ganzen Nation geführt werden. Nun gut! Es giebt nur eine Nation in Europa, die durch ihr Lebensinteresse, nämlich durch die Unfähigkeit, ihre Bevölkerung zu ernähren, über kurz oder lang zum Kriege genötigt sein wird, das ist die deutsche, Die in gleicher Not befindlichen Völker Italiens und Belgiens sind zu schwach, an einen Eroberungskrieg denken zu können. und die einzige Seite, nach der hin sie sich ausdehnen kann, ist die Ostgrenze. Ist das einmal klar erkannt und ausgesprochen, so ist damit alle sonstige Kriegsgefahr beseitigt. Man hat wohl gesagt, Rußland habe das Bedürfnis, sich das Mittelmeer zu erschließen, allein das ist Unsinn. Das russische Volk bedarf zu seiner Existenz nur zweier Dinge: daß man ihm statt der Schnapsflasche Hacke, Pflug und Spaten in die Hand gebe, und daß man ihm statt der Knute eine verständige Leitung angedeihen lasse; beides könnten wir ihm bringen. Die Bedürfnisse, die sich das weltherrschaftslüsterne Zarentum und der verlumpte russische Adel einbilden mögen, gehen die Welt und die Völker nichts an. Also im Osten liegt freilich die Kriegsgefahr, aber nicht, weil Rußland das goldne Horn, sondern weil Deutschland den russischen Boden braucht.

Ist einmal die Ausdehnung nach Osten beschlossen, so ist damit zugleich die Kriegsgefahr im Westen beseitigt. Die angebliche Revanchelust der Franzosen ist, wenn wir von einigen Pariser Pflastertretern absehen, weiter nichts als die Maske der Furcht vor den Deutschen. Die Franzosen wissen, daß die deutsche Bevölkerung in ihren Grenzen nicht mehr Platz hat, daß sie über kurz oder lang die Grenzen überströmen muß, sie fürchten einen Eroberungs- und Beutekrieg, der leicht mit gänzlicher Zertretung und Vernichtung des französischen Volks endigen könnte, und darum rüsten sie in Todesangst und tragen sie ohne Murren die überschwere Last. Daß die Franzosen wirklich und im Ernste einen Revanchekrieg wollen könnten, ist psychologisch unmöglich. Der durchschnittliche Franzose ist ein Bauer oder Kleinbürger; ein sehr fleißiger, sehr ordentlicher, sehr sparsamer Mann, der an allen seinen Familiengliedern mit ganzem Herzen hängt und namentlich seinen Jungen vergöttert. Dabei ist er sehr sinnlich und weiß sich mit dem Raffinement, wie es alten klugen Kulturvölkern eigen ist, das Leben so angenehm zu machen, als es ihm seine Mittel erlauben. Daß dieser Mann einen Krieg wünschen sollte, in dem er selbst oder sein Junge die Haut zu Markte tragen müßte, der ihn um sein Behagen bringen, sein ganzes bischen Wohlstand vernichten, seinen mühsam gesammelten Sparpfennig verzehren, sein schmuckes Häuschen in Rauch aufgehen lassen kann, werden wir nicht eher glauben, als bis wir einen alten Gourmand kennen lernen, dem eine Kanonenkugel in die Magengegend besser schmeckt als eine Pastete. Und daß er sich freiwillig solchen Gefahren und solchem Elend aussetzen sollte, um seinem Staate Elsaß-Lothringen wieder zu erobern und Rache für Sedan oder gar für Sadowa zu nehmen, ist einfach Unsinn. Das französische Volk aber ist nichts andres als eine Gesamtheit von Menschen, unter denen die oben beschriebne Menschenart die ungeheure Mehrzahl bildet. Wenn man sagt, das Volk könne wohl auch wider seine bessere Einsicht und sogar wider seine Neigung von einer Leidenschaft hingerissen werden, so ist das eine ganz falsche Vorstellung. Die leidenschaftlichen Erregungen eines Volks gehen stets aus seinen Neigungen und Interessen hervor Die sogenannten Imponderabilien erscheinen nur denen imponderabel, die die Bevölkerungsschicht, an der sie hervortreten, nicht kennen. Wer das katholische Volk Preußens kannte, der wußte bei Erlaß der Maigesetze im voraus, daß mit denen nichts ausgerichtet sei, und wer die Unvereinbarkeit der Forderungen der in Volksschulfragen einander gegenüberstehenden vier Parteien kennt, der wußte lange vor dem Grafen Zedlitz, daß ein Volksschulgesetz in Preußen unmöglich ist. und 1870 war das französische Volk ganz in seinem Recht, wenn es den Krieg wünschte, um das mächtigere Preußen nicht noch mächtiger werden zu lassen; daß dieses damals schon zu mächtig für Frankreich geworden war, konnten die Franzosen nicht eher wissen, als bis sie ihre Schlage bekommen hatten. Seit dieser letzten Friedensstörung und zum Teil durch sie haben sich die Verhältnisse von Grund aus geändert. Dem Frankreich des ancien régime, d. h. da das Volk damals eine Null war, seinen ehrgeizigen Königen und Ministern, seinem ritterlichen Adel und seiner beutegierigen Soldateska war das Nachbarvolk durch seine Zerrissenheit sowie durch die Unbehilflichkeit und Ohnmacht seines Kaisertums beinahe wehrlos preisgegeben. Als dann die revolutionären Banden, teils durch die innern Verlegenheiten des Konvents, teils durch Hunger und Raubgier getrieben – denn die edle Frucht der Revolution, der neue französische Bauernstand, war damals noch nicht gereift – teils durch die verkehrte Diplomatie der Großmächte gereizt die Grenzen überfluteten, fanden sie in Deutschland noch dieselbe Lage vor. Ihre Niederlagen von 1813 bis 15 erklärten sich hinlänglich aus der Schwächung ihrer Wehrkraft durch die vorangehende zwanzigjährige Kriegsperiode und durch die Übermacht des gegen sie verbündeten Europas. Im Jahre 1870 hatten sie die ruhmvollen Erinnerungen des Krimkriegs und des Kriegs gegen Österreich vor Augen. Und persönlich fühlte sich der französische Philister von den Gefahren und Beschwerden des Kriegs wenig betroffen, da ja das Stellvertretungssystem noch herrschte und die Armee noch mehr ein Heer von Berufssoldaten, von Söldlingen, als ein Volksheer war. Durch die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht und durch die Erfahrungen des Jahres 1870 ist nun aber die Lage, wie gesagt, so von Grund aus verändert, daß die Franzosen wahnsinnig sein müßten, wenn sie es noch einmal mit Deutschland versuchen wollten, während alle ihre frühern kriegerischen Unternehmungen einschließlich der von 1870 nichts weniger als tollköpfig, sondern vor dem Richterstuhle der Klugheit zu rechtfertigen waren.

Das Revanchegeschrei widerspricht dieser Auffassung ganz und gar nicht und ist zudem das natürlichste von der Welt. Welches ehrliebende Volt wird denn nach einer Niederlage eingestehen: wir haben sie verdient? Namentlich wenn wir Deutschen alljährlich einmal von einer weithin vernehmlichen Stelle aus über die Grenze hinüberrufen: »ihr könnt nicht verzeihen und vergessen, nicht auf die Rache verzichten,« so antworten sie selbstverständlich: »natürlich nicht«; was aber nicht ausschließt, daß sie im Herzen mit Zähneklappern und Knieschlottern denken: »wenn uns nur um Gottes willen kein Anlaß zum Rachekriege gegeben würde!« Denken wir uns zwei Knaben, von denen einer ein Kampfhahn ist, und als der stärkere oder gewandtere den Kameraden oft geworfen hat. Eine Zeit lang haben sie ihre Kräfte nicht gemessen, und wie der Zänker eines Tags wieder anfängt, da zeigt sich, daß der andre mittlerweile an Kraft gewaltig zugenommen hat, und er giebt jenem einen Denkzettel, daß ihn wochenlang alle Glieder schmerzen. Wenn nun der kleine Zänker im Wachstum definitiv stehen bleibt, der andre aber augenscheinlich immer größer und stärker wird, so wird zwar jener, so oft er den gefährlichen Kameraden von einer gut gedeckten Stellung aus sieht, von weitem die Zunge herausstrecken und Nasen machen und rufen: »wart nur, ich werde es dir schon heimzahlen,« aber Ernst zu machen, und sich alle Knochen im Leibe zerschlagen zu lassen, wird er sich wohl hüten. Womit nicht gesagt sein soll, daß die Franzosen im allgemeinen Gassenjungenmanieren hätten. Gleich andern Deutschen hat auch der Verfasser des oben erwähnten Artikels im laufenden Jahrgange der Grenzboten, elftes Vierteljahr, S. 257 bei längerm Aufenthalt in Paris von Deutschenhaß nichts gespürt.

Und welcher Wahnsinn wäre es, wenn sich Deutschland und Frankreich, die beiden sozial noch gesündesten Großstaaten Europas, gegenseitig zerfleischen wollten, anstatt durch sorgliche Pflege und gegenseitige Unterstützung ihrer vortrefflichen konservativen Volkskräfte an der sozialen Wiedergeburt des Erdteils gemeinsam zu arbeiten! Frankreich hat den stärksten und blühendsten Handwerkerstand der Welt, und einen Bauernstand, der an Zahl nur dem österreichischen nachsteht, an Wohlstand und Unabhängigkeit aber dem mehrerer österreichischer Kronländer überlegen ist. In keinem Lande ist die Zahl der besitzlosen Lohnarbeiter und daher auch, trotz aller Großmäuligkeit der Pariser Sozialisten, die Gefahr eines sozialen Umsturzes so gering wie in Frankreich. Und je größer und allgemeiner verbreitet der Wohlstand, desto größer ist natürlich auch die Abneigung gegen jede kriegerische Verwicklung, die ihn gefährden konnte; nur darbende Völker sinnen auf Eroberung. Es ist also wahrscheinlich, daß, sobald Deutschland feierlich seine Absicht erklärt, seinem Expansionsbedürfnis nach Osten hin Luft zu machen, Frankreich aufatmen und unsre Bestrebungen nach dieser Richtung hin unterstützen wird. Die Franzosen haben um so mehr Veranlassung dazu, weil ja die Verwandlung ungeheurer teils wüster teils von armseligen hungernden Bauern oder Nomaden bewohnter Länderstrecken in blühende, eine wohlhabende, gebildete Bevölkerung nährende Gefilde seinen Absatzmarkt für Luxuswaren erweitern würde.

Die nächste Aufgabe unsrer Diplomatie wäre also, alle Staaten West- und Mitteleuropas zu einem gemeinsamen Unternehmen gegen Rußland zu vereinigen. Die Vorteile dieses Unternehmens sind so augenscheinlich, ja man darf sagen, seine Notwendigkeit ist so einleuchtend, daß wohl kein Volk ihm widerstreben würde; nur gewisse Gruppen der herrschenden Klassen, die bei dem jetzigen Zustande ihre Rechnung finden, würden heftig widersprechen. Und da sich die Diplomatie nur allzusehr von solchen Kreisen beeinflussen läßt, daher aus eigner Initiative sich nur schwer entschließen wird, diese Richtung einzuschlagen, so müßte ein Bund patriotischer Männer eine Volksbewegung dafür in ganz West- und Mitteleuropa organisiren. Sie würde sich rasch und gewaltig ausbreiten, denn der Verfasser dieses Buches steht mit seiner Ansicht durchaus nicht allein da, und die Zahl derer, die Rußland als unser natürliches Kolonisationsgebiet betrachten, ist schon jetzt sehr groß. An Rußland wäre dann im Namen der verbündeten Staaten Europas die Forderung zu stellen, daß es alle seine Einfuhrzölle aufhöbe, unbeschränkte Einwanderung gestattete, alle die Ansiedlung von Ausländern erschwerenden Bestimmungen aufhöbe und den Kolonisten das Recht der Selbstverwaltung einräumte. Die russische Grenze würde dann nur noch den Machtbereich des Zaren umschreiben aber für den Verkehr nicht mehr existiren. Es wäre nicht undenkbar, daß sich Rußland ohne Schwertstreich fügte. Wenn man sich erinnert, wie schwer es ihm vor fünfzehn Jahren geworden ist, mit den elendigen Türken fertig zu werden, obwohl ihm Rumänien half und eine aufrührerische türkische Provinz den Kriegsschauplatz abgab, wenn man bedenkt, daß es gegenwärtig weder Geld noch Kredit mehr hat, so muß man sich doch sagen, daß nur der Mut wahnsinniger Verzweiflung zum Widerstande gegen das verbündete Europa treiben könnte. Entschlösse es sich jedoch dazu, so würden damit die ungeheuern europäischen Kriegsrüstungen, die an sich betrachtet reine Tollheit sind, die größte Tollheit der ganzen Weltgeschichte (denn um empörte Arbeiter niederzuschießen, braucht man nicht den zehnten Teil soviel Soldaten und Kanonen), einen vernünftigen Zweck erhalten. Das deutsche Reich und Österreich würden als Bundesexekutoren ihre Landheere hineinführen, während die andern Mächte deren Operationen mit ihren Flotten zu unterstützen hätten. Schon heute fürchten die Russen, daß es einmal so kommen werde. Ein offiziöses Blatt, der Kiewljanin, hat jüngst diese Besorgnis vor dem »Drange nach dem Osten« zu beschwichtigen versucht, und seine Auslassungen, die zugleich als eine nach Westen hin gerichtete Warnung erscheinen, sind in den angesehensten russischen Zeitungen ohne Kommentar abgedruckt worden. Das Blatt räumt ein, daß die Deutschen, wenn die Einwanderung von der russischen Regierung nicht beschränkt würde, gern haufenweise nach Rußland auswandern würden, aber, sagt es, befürchten, daß dieser Drang das deutsche Reich zu einem Kriege gegen Rußland veranlassen werde, »heißt Geisterspuk treiben und nicht reale Politik. Warum sollten wir unserm Nachbar den schlimmsten Wahnsinn zutrauen? Und ein solcher wäre doch ein deutscher Angriff auf Rußland, nicht nur unter den gegenwärtig obwaltenden, sondern unter allen Umständen. Oder wer wüßte es nicht, daß man wohl eine russische Armee, aber nicht Dutzende von russischen Armeen vernichten kann, und daß mit einem jeden neuen Siege und mit einem jeden weitern Schritt ins Innere unsers Vaterlandes dem mutwilligen Angreifer neue und unberechenbare Gefahren erwachsen würden? Nein, das russische Volk ist für den Westen Europas genau so schrecklich, wie die Urgermanen es für das römische Reich waren und – man wird uns sicherlich in Ruhe lassen.« Es wäre thöricht, sich durch solche Großsprechereien schrecken zu lassen. Die Russen werden sich hüten, nach der Niederlage ihrer regulären Truppen Dutzende von neuen Armeen zu bilden! Ihre verlumpten Adlichen werden sehr froh sein, für ihre unverkäuflichen Güter zahlungsfähige Käufer und Pächter zu finden, und ihre verlumpten und verschuldeten Bauern werden von Herzen gern die Zinssklaverei, in der sie jetzt schmachten, mit einer milden Dienstbarkeit unter verständigen Wirtschaftsleitern vertauschen, von denen sie als Menschen behandelt werden würden und bei denen sie ihr Brot fänden. Der Vergleich mit den Germanen ist gut und spricht für uns. In ihm liegt das Eingeständnis, daß uns Rußland gegenübersteht wie die Barbarei der Zivilisation, und daß es nicht allein sittlich gerechtfertigt sondern Pflicht der Selbsterhaltung für die Träger der europäischen Kultur ist, dem Barbareneinfall zuvorzukommen. Nur steht in diesem Falle die Sache für die Zivilisation bedeutend günstiger als im vierten und fünften Jahrhundert nach Christus. Denn die versoffenen, schlappen Russen sind keine Germanen, und die verbündeten Staaten Deutschland und Österreich stellen eine ganz andre, innerlich unendlich gefestigtere Kriegsmacht dar als das römische Reich, das schon durch seine ungeheuer lange, auf allen Punkten dem Angriff offne Grenze in militärischer Hinsicht einem riesigen wehrlosen Weichtier glich.

Nach dieser nützlichen Verwendung der Landarmeeen wäre auch den Flotten eine Aufgabe zuzuteilen, diesen kostspieligen Flotten, die vor der Hand keinen andern Zweck haben, als Salutschüsse abzufeuern, tausend Mark der Knall, und die theoretisch ja gewiß sehr interessante Frage zu lösen, wer von beiden im Wettkampf schließlich Sieger bleiben wird, das Geschütz oder der Panzer. Freilich haben die deutschen Kriegsschiffe auch die Aufgabe, die Deutschen im Auslande und namentlich den deutschen Handel zu schützen, aber, was sie darin leisten, entspricht bei weitem nicht dem Aufwande. Die Flotten also hätten sich nach Südamerika zu verfügen, und die Regierungen von Rio de Janeiro, Montevideo und Buenos Ayres zu großartigen Landabtretungen in den klimatisch günstigsten Gegenden ihrer Staaten zu zwingen. Dorthin würden vorzugsweise Italiener, doch auch Deutsche wandern; die Kolonisationsgebiete wären national abzugrenzen. Geben die Yankees die Losung aus: Amerika für die Amerikaner! so müssen wir ihnen mit der Losung: Amerika für die Europäer! zuvorkommen. Aus Europa stammt die amerikanische Kultur, und die Abenteurer, die zuerst den großen Erdteil in Besitz genommen haben, sind nicht berechtigt, spätern Nachzüglern den Riegel vorzuschieben, während sie noch so viel Raum und Boden übrig haben. Sowohl in dem europäisch-asiatischen wie im südamerikanischen Ansiedlungsgebiet hätten die heimatlichen Regierungen der Kolonisten große Landstrecken als Reserven anzukaufen, damit sowohl für die Nachkommen der Kolonisten wie für spätere Einwanderer noch auf lange Zeit hinaus billiges Land verfügbar bliebe.

Wenn dieser Plan den bisherigen Anschauungen, Grundsätzen und Traditionen der preußischen Staatskunst schnurstracks zuwiderläuft, so liegt darin einerseits kein Tadel gegen diese Staatskunst, andrerseits kein Grund, den Urheber oder vielmehr nur Verkündiger dieses Planes der Überhebung zu zeihen. Ich habe im vorigen Kapitel hervorgehoben, daß die Gründung dieses deutschen Reiches, wie wir es jetzt haben, eine Notwendigkeit war fürs deutsche Volk, und denen, die dieses Notwendige vollbracht haben, bleibt ihr Ruhm ungeschmälert. Die Reichsgründung konnte nur auf der Grundlage der damaligen politischen Verhältnisse des Erdteils erfolgen, zu denen die Stellung Rußlands in dem mißtönenden europäischen »Konzert,« so falsch sie sein mochte, nun einmal thatsächlich gehörte. Von denen, die sich in jene alten Verhältnisse eingelebt und in ihnen gewirkt hatten, ist nicht zu verlangen, daß sie die völlig neue Lage begreifen. Am wenigsten ist zu verlangen, daß sie das soziale Element verstehen, das erst nach 1870 dazu getreten ist. Denn erst nach 1870 ist Deutschland ein getreideeinführendes, also übervölkertes Land geworden, erst nach 1870, und eben durch die Reichsgründung, haben die Konzentration des politischen Lebens und der Reichsverwaltung in Berlin, die Aufrüttelung von Volksmassen, die bisher ein unpolitisches Stillleben geführt hatten, durch stürmische politische Veränderungen, und die unaufhörlichen Verstärkungen der Kriegsmacht zusammengewirkt, die mehrfach beschriebne wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen und den Knoten zu schürzen. Wer jetzt im Greisenalter steht, mag immer noch jenes dünn bevölkerte Preußen Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms III. vor Augen haben, das mit Menschen zu füllen damals in der That als eine der wichtigsten Aufgaben der Staatskunst erschien. Von den erst seit 1870 brennend gewordnen sozialen Fragen mag der gar keine rechte Vorstellung haben, der den untern Volksklassen fernsteht und sich von deren Lage, Denkungsart, Empfindungsweise und Not vielleicht gar keinen Begriff machen kann. Er sieht nur die auffälligsten Symptome der sozialen Not: die Sozialdemokratie, die Arbeitseinstellungen, die Handelskrisen, die »Not der Landwirtschaft,« der man ratlos gegenübersteht. So kann denn auch, was man jetzt Sozialpolitik nennt, nur ein Kuriren auf Symptome sein. Man hält die Deutschen für eine »saturirte« Nation, während diese Nation im Begriff steht, vor Mangel toll zu werden, da sie zu intelligent und lebenskräftig ist, sich nach Slavenart auf die Ofenbank zu legen und den Hunger zu verschlafen. Kurz, die Situation ist so völlig neu, die Forderungen, die sie an die Regierung stellt, sind von denen der Situation vor 1870 so grundverschieden, die Verhältnisse, unter denen, und die Mittel, mit denen jene Forderungen zu erfüllen sind, weichen von dem ganzen politischen Rüstzeuge des ancien régime und der konstitutionellen Periode so gründlich ab, daß neue Männer nötig sein werden, diese neue große Aufgabe zu lösen.

Wie würden sich nach der Erschließung Rußlands und Vorderasiens die Dinge dort gestalten? Die Kolonistengruppen würden Republiken bilden unter der nominellen Oberhoheit des Zarentums und der Pforte. Die über jene weiten Länder zerstreuten deutschen Gemeinwesen würden unter den Schutz des deutschen Kaisers treten. So würden der ganze europäische Osten und Vorderasien zusammen ein gewaltiges deutsches Reich bilden, einen Schutzwall der europäischen Kultur gegen russische und mongolische Horden, das wahre Reich der echten Mitte. Wer dem deutschen Volke, dessen Vorfahren das Römerreich zertrümmert und schon einmal Europa beherrscht haben, diese Leistung nicht zutraut, der soll sich schämen und den deutschen Namen ablegen. Natürlich, die Jammergestalten in den Spinnfabriken und Gifthütten, in die wir sie eingesperrt haben, können Asien nicht erobern, aber die deutschen Bauern und Handwerker der Zukunft werden es können. Künstlichen Dünger brauchen die nicht mehr zu fabriziren, da dann jeder wieder den Boden, dessen Frucht er ißt, mit seinem eignen Dünger befruchtet, und wie Düngerfabriken so werden die übrigen Verkrüppelungsanstalten verschwinden. Unbegründet würde auch die Besorgnis sein, die deutschen Kolonisten könnten den Zusammenhang mit dem Vaterlande verlieren und verrusst oder vertürkt werden; solche Gefahr droht unsern Nachkommen bei den heutigen Verkehrsmitteln weit weniger, als sie vor Zeiten dem Häuflein Kolonisten im Baltenlande und in Siebenbürgen gedroht hat, die aber trotzdem deutsche Sprache, deutschen Sinn und deutsche Sitte bis auf den heutigen Tag rein bewahrt haben. Wenn sich heutzutage die Deutschen in Österreich und Preußen leicht slawisiren, so kommt das daher, weil Leute, denen die Bureaukratie die moralischen Knochen gebrochen hat und die in allen, sogar in Sachen ihrer eignen Muttersprache, einen Beschützer und Vormund brauchen, gar keine richtigen Deutschen mehr sind.

Ist erst der stolze deutsche Unabhängigkeitssinn wiedergekehrt, dann bedarf es auch keiner gewaltsamen Unterdrückung der zwischeninnewohnenden Slawen »zum Schutze des Deutschtums.« Als vor ein paar Jahren in der ganzen »nationalen« Presse über die angebliche »Bedrohung des Deutschtums« durch die zwei Millionen preußischer Polen gejammert wurde, habe ich mich im Namen meiner Landsleute aufrichtig geschämt und mich gewundert, daß nicht wenigstens die gesamte Generalität Protest gegen die Auffassung eingelegt hat, als ob auch nur die entfernteste Möglichkeit vorhanden wäre, daß zwei Millionen vom weichsten, unterwürfigsten und fügsamsten aller Slawenstämme so etwas wie eine Gefahr für das gewaltige deutsche Reich und seine achtundvierzig Millionen deutscher Bewohner bedeuten könnten. Nein, man kann Polen, Russen, Tataren ruhig in ihren eignen Sprachen reden, schreiben, drucken, beten und Schule halten lassen, es wird dem deutschen Charakter der Deutschen und der Festigkeit des deutschen Reiches so wenig schaden, wie es dem Römerreich geschadet hat, daß darin jedes Volk seinen heimischen Göttern dienen, seinen väterlichen Sitten nachleben und seine Muttersprache reden durfte. Im Gegenteil! Gerade die beständige Berührung mit Menschen andern Stammes weckt und kräftigt das Nationalgefühl. Die römische Nationalität freilich konnte auf die Dauer nicht unversehrt bleiben, weil sie, auf einen kleinen Stamm Mittelitaliens beschränkt, an Zahl viel zu schwach war, sich in der Vermischung mit so vielen andern Völkern nicht allmählich zu verlieren. Trotzdem ist die lateinische Sprache noch tausend Jahre nach dem Untergange des römischen Reiches die amtliche Sprache Europas geblieben. Das deutsche Volk aber zählt siebzig Millionen Angehörige auf dem Erdenrund! Erst wenn die zweckwidrigen gewaltsamen Germanisirungsmaßregeln eingestellt sein werden, wird jener friedliche, still aber kräftig wirkende Germanisirungsprozeß durch, die bloße Anziehungskraft unsrer überlegnen Kultur wieder beginnen, der im Mittelalter so viele Millionen Slawen in Deutsche verwandelt hat. Nachdem die Jesuiten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ganz Böhmen deutsch gemacht hatten, hat Kaiser Josef II. mit seinem stürmischen Eifer, die kümmerlichen Reste des Tschechentums vollends auszurotten, das tschechische Nationalbewußtsein wieder aufgeweckt und stark gemacht. Wenn in Österreich die Slawen, namentlich die energischen Tschechen, seit siebenundzwanzig Jahren den Deutschen gefährlich geworden sind, so kommt das, abgesehen von der eben erwähnten Vorarbeit des Kaisers Josef, daher, daß die österreichischen Deutschen der weichste unter den deutschen Stämmen sind, daß sie, losgetrennt von den Brüdern im neuen Reich, zu schwach an Zahl sind, das Völkergemisch ihres Kaiserstaates zu beherrschen, und daß sie in Klerikale, Nurdeutsche und judenfreundliche Liberale gespalten sind. Die Wiedervereinigung Österreichs mit uns Reichsdeutschen, wodurch die deutsche Macht erst kompakt und vollendet werden wird, gehört zu den Aufgaben, die unsre Enkel zu lösen haben werden. Daß das deutsche Reich in seiner jetzigen Gestalt nicht den geographischen Abschluß der politischen Entwicklung des deutschen Volks bilden kann, lehrt ein Blick auf die Karte. Es ist nicht Deutschland, sondern nur Großpreußen: gleich dem alten Kleinpreußen höchst unglücklich gestaltet – gleicht es doch einem Manne, dem das linke Bein in der Hüfte amputirt worden ist – und um seiner Existenz willen zu übermäßigen militärischen Anstrengungen gezwungen; zudem auch in wirtschaftlicher Beziehung, selbst abgesehen von der Übervölkerung, ohne engsten Anschluß an das amputirte Glied nicht lebensfähig; nur mit diesem zusammen konnte es allenfalls ein geschlossnes Wirtschaftsgebiet bilden.

Erst nach solcher Wiederherstellung kleinerer selbständiger Lebenskreise, die jedoch alle als Glieder eines gewaltigen Reiches vom Hochgefühl geschwellt und sich bewußt sind, mit Erfolg an großen würdigen Aufgaben zu arbeiten, wird der Deutsche wieder ein ζϖον πολιτικόν, lebendiges Glied eines Gemeinwesens werden, während er jetzt nur ein politischer Kannegießer und Schwätzer, oder ein konfessioneller Kampfhahn und Krakehler ist. Die Beseitigung der internationalen und der Revolutionsgefahr würde die allgemeine Abrüstung ermöglichen in der Weise, daß fortan kleine stehende Heere für etwaige auswärtige Verwendung mit Milizen, wirklichen Volksheeren nur für die Landesverteidigung verbunden würden.

Weiß jemand einen andern Vorschlag zur Lösung der europäischen Frage, so rücke er heraus damit! Weiß niemand einen andern, und kommt auch der meine nicht zur Ausführung, dann bleibt nichts übrig als sich pessimistischer Verzweiflung zu ergeben. Wehe dann unsern Nachkommen, und wohl dem kinderlosen Manne! Redensarten wie: es werde schon von selber wieder besser werden, und daß die Krise gleich frühern Krisen vorübergehen werde, sind Kindereien, die man mit Entrüstung zurückweisen muß: das Land, das uns fehlt, wächst uns nicht von selber zu!


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