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Drittes Kapitel

Wie weit wird Marx durch den bisherigen Gang der wirtschaftlichen Entwicklung gerechtfertigt?

Das theoretische System des modernen Sozialismus – mit diesem Satze beginnt der dritte Abschnitt von Wolfs Buch –, ist das von Karl Marx in seinem Buch »Das Kapital« niedergelegte. Hier wird von Marx der Nachweis angetreten, daß der Kapitalist Ausbeuter ist, dem Arbeiter das gesamte Produkt der Volkswirtschaft gebührt, wenn es aber nicht an ihn gelangt, dies an der Einrichtung des Kapitals als Privatkapitals statt als Gesellschaftskapitals liegt. Und es wird ferner gezeigt, wie die vielen kleinen und mittlern Kapitalien allmählich aufgesogen werden, bis die Konzentration des Kapitals so weit gediehen ist, daß der Umschlag unvermeidlich ist und »die Expropriateure von den Expropriirten expropriirt werden,« nach dem Spruche des Propheten Jesaja, dessen Buch, nebenbei bemerkt, sich beinahe so gut wie das »Kapital« zur Arbeiterbibel eignen würde: »Wehe dir, du Räuber, deiner Zeit wirst du selbst den Räubern zur Beute fallen.« Die Werttheorie des großen Sozialistenpapstes, die sich in einer schwierigen Algebra verliert, mag wahr sein oder nicht, darauf kommt wenig an; aber die beiden angeführten Kernpunkte bleiben das wesentliche und wirkungskräftige seiner Lehre. Wir brauchen sie nicht so ausführlich darzulegen, wie es Wolf thut Dem übrigens seine sozialistischen Kritiker, wie Bernstein in Nr. 16 und 17 der »Neuen Zeit,« vorwerfen, er habe den Inhalt der Sozialistenbibel nicht allein ungenau dargestellt, sondern stellenweise auch gröblich mißverstanden und sogar gefälscht. weil sie ja allgemein bekannt sind. Nun ist es zwar kein Fehler der Methode, wenn sich Wolf mit seiner Widerlegung auf Marx beschränkt, weil in dessen Widerlegung, falls sie gelingt, die der andern Sozialisten schon mit vollzogen ist, und weil ohne ihn, wie Wolf ganz richtig ausführt, die deutsche Sozialdemokratie nicht geworden wäre, was sie ist. Aber die Wahrheit hätte doch wohl gefordert, wenigstens zu erwähnen, daß auch Rodbertus, der freilich auf ganz andern Wegen dazu gelangte, der Hauptsache nach denselben Gedankenfaden ausgesponnen hat wie Marx. Er ist nicht so bekannt geworden wie dieser, ja bis zu seinem Tode so gut wie unbekannt geblieben, weil er für einen Leserkreis schrieb, der nicht wie der von Marx an der Verbreitung, sondern an der Unterdrückung dieser Lehren ein Interesse hatte. Und die Wahrheit gebietet außerdem anzuführen, daß die konservativen Parteien Deutschlands und Österreichs seit 30 Jahren ihre Politik auf dieselben beiden Sätze oder wenigstens auf den zweiten gründen. Denn während sie allerdings die Leiden der untersten Klasse meist zu verhüllen suchen, klagen sie unausgesetzt über die Zerreibung des Mittelstandes, über die Aufsaugung des Handwerkerstandes durch die Großindustrie, sowie des Kleinhandels durch Versandgeschäfte und Konsumvereine und über die erdrückenden Fesseln der Schuldknechtschaft, in die das städtische Kapital den ländlichen Grundbesitz geschlagen habe. Von der Voraussetzung dieses Zustands sind alle Gesetzvorschläge der Konservativen ausgegangen, deren Tendenz im Antisemitismus, dieser »Sozialdemokratie der dummen Kerls« (die ethische Seite der Judenfeindschaft lassen wir aus dem Spiele), ihre schärfste Spitze hervorgetrieben hat. Gelingt der Nachweis, daß die vielbeklagte Aufsaugung der mittlern Vermögen durch das Großkapital eine leere Einbildung sei, dann ist nicht allein die Sozialdemokratie, sondern auch die Politik der konservativen Parteien in Deutschland und Österreich entweder eine große Narrheit oder ein frecher Humbug und abscheulicher Volksbetrug. Da jedoch die Möglichkeit, daß so große Massen gebildeter Männer sich entweder durch leere Einbildungen äffen oder Betrügerbanden bilden sollten, vollkommen ausgeschlossen, andrerseits aber auch Professor Wolf über den Verdacht der Narrheit und des Betrugs erhaben ist, so steht es, wie bei allen solchen großen Gegensätzen, von vornherein fest, daß beide Parteien Recht haben müssen, und es kommt nur darauf an, den Punkt anzugeben, bis zu dem eine jede Recht hat. Dieser Punkt läßt sich im vorliegenden Falle mit wunderbarer Genauigkeit angeben, er ist für England wenigstens das Jahr 1850.

Marx hat die Wahrnehmung gemacht, daß mit der Auflösung der Feudalwirtschaft in England die Lage der untern Klassen immer schlechter wurde, während sich in den obern kolossale Reichtümer anhäuften. In den vierziger Jahren, wo er mit seinem Freunde Engels die Verhältnisse des Inselreichs zu studiren begann, war der Gegensatz zwischen Proletarierelend und Nabobismus für jeden Menschenfreund wie für jeden englischen Patrioten schlechthin unerträglich geworden, und die Konzentration des englischen Nationalvermögens in einigen hundert Familien schien unmittelbar bevorzustehen. Als strenger Hegelianer, der Marx war, sagte er sich nun: England ist das fortgeschrittenste Land der Welt, demnach der Typus für alle andern Länder. Sie alle werden denselben Prozeß durchmachen, und dieser Prozeß wird sich bis zu jener äußersten Möglichkeit durchsetzen, wo er nicht mehr weiter kann und in sein Gegenteil umschlagen muß.

Aber es kam anders. Lange bevor sein auf diese Wahrnehmungen gegründetes Hauptwerk vollendet war, und wenige Jahre, nachdem Engels sein kleines Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England veröffentlicht hatte, trat eine Besserung ein, die auch von Engels in der soeben erschienenen neuen Auflage des genannten Buches anerkannt wird. Der zunehmende englische Nationalreichtum kam fortan aus Ursachen, die wir später noch erörtern werden, auch den mittlern und untern Klassen zu gute; anstatt vollends aufgerieben zu werden, feierte der Mittelstand seine Auferstehung, oder besser gesagt, zu einigem Ersatz für den untergegangnen alten Mittelstand bildete sich ein neuer. Dieser Periode entnimmt nun Wolf seinen statistischen Nachweis und zieht daraus den ganz richtigen Schluß: Also hat Marx Unrecht!

Nämlich mit der Verallgemeinerung seiner Wahrnehmungen; aber daß es Wolf unterläßt, anzugeben, wie weit diese Wahrnehmungen richtig waren, und aus diesen richtigen Wahrnehmungen die Folgerung zu ziehen, darin hat er selbst wieder Unrecht. Und sein Unrecht ist größer als das des Gegners, den er bekämpft, weil er, so viel an ihm ist, den Nutzen zu nichte macht, den der Gegner trotz seiner Irrtümer gestiftet hat. Wenn nämlich die ökonomische Geschichte Englands in den drei Jahrhunderten von 1550 bis 1850 auch nicht in dem Sinne typisch ist, daß die Dinge überall auf Erden und unter allen Umständen so verlaufen müssen, bleibt sie doch vorbildlich in dem Sinne, daß unter gewissen Umständen dasselbe Unheil unabwendbar ist, und diese Umstände, die wir später angeben werden, bestehen nicht allein abgeschwächt in England fort, sondern sie bedrohen auch die Völker des europäischen Festlands, ja sogar schon die Amerikaner. Es ist demnach von der größten Wichtigkeit, daß man die ökonomische Geschichte Englands in den bezeichneten drei Jahrhunderten und die Ursachen der in dieser Periode stetig ärger werdenden Besitzverschiebung genau kenne, denn nur bei solcher genauen Kenntnis dürfen die übrigen Völker, dürfen vor allen wir Deutschen ähnlichem Unheil vorzubeugen hoffen. Indem nun Wolf diese hochwichtige Periode der englischen Geschichte nur sehr kurz und oberflächlich abfertigt und weder von der Größe des Unheils einen Begriff giebt noch seine Ursachen aufdeckt, machte er sich zum Mitschuldigen jenes Teils der »deutschen Wissenschaft,« die diesen ungeheuer wichtigen Abschnitt der Menschheitsgeschichte dem deutschen Publikum bisher einfach unterschlagen hat.

Also, um es kurz zusammenzufassen: Marx hat mit seiner Darstellung der englischen Zustände Recht für die Zeit von 1550 bis 1850. Wolf hat Recht für die Zeit von 1850 bis 1890, und solche Sozialisten, die, wie Schippel, nachzuweisen suchen, daß es auch in diesem letzten Zeitabschnitt noch stetig schlimmer geworden sei, geben wir ihm preis. Aber Wolf hat Unrecht, indem er seine Augen der Bedeutung jener unheilvollen dreihundert Jahre verschließt und es unterläßt, seine Leser darüber zu belehren. Wir wollen diese seine Versäumnis gut machen, vorher aber seine Statistik des heutigen englischen Volksvermögens, seines Wachstums und seiner Verteilung ein wenig kritisiren.

Er übertreibt nämlich ganz bedeutend die um die Mitte unsers Jahrhunderts unstreitig eingetretene Besserung. Nur an einigen der von ihm mitgeteilten Zahlenreihen wollen wir das klar machen. Das britische Nationalvermögen wird von verschiednen Statistikern folgendermaßen angegeben:

  Jahr      
für England allein 1600 auf 100 Mill Pfd..St.
" 1720   370 "
" 1750   500 "
" 1800   1500 "
Großbritannien 1800   1750 "
für Großbritannien und Irland 1812   2700 "
" 1845   4000 "
" 1885   10000 "

Im allgemeinen ist nun über das Wachstum aller Volksvermögen zu bemerken, daß es bei allen gesunden Völkern nicht allein mit dem Wachstum der Bevölkerung gleichen Schritt halten, sondern diesem voraneilen muß. Das Stammvermögen jedes Menschen besteht aus ihm selber, seiner eignen Leibes- und Geisteskraft und dem Stück Erde, das er mittelbar oder unmittelbar bearbeitet; aus der Wechselwirkung von Menschenkraft und Zeugungskraft des Erdbodens gehen alle materiellen Güter hervor. Mit jedem neugebornen Menschen tritt also eine neue güterschaffende Kraft ins Dasein, deren Leistungen mindestens dem Bedarf dieses Menschen entsprechen. Da aber die Produktivität durch die Arbeitsteilung gesteigert wird, so ist es klar, daß zwei verständig zusammenwirkende Menschen nicht doppelt so viel als einer, sondern vielleicht viermal so viel schaffen müssen. Wenn demnach die Bevölkerung in arithmetischer Progression wächst, so wird die Gütermasse etwa in geometrischer steigen, womit selbstverständlich das Verhältnis beider Zunahmen zu einander nicht genau, sondern nur ungefähr angegeben werden soll. Die Anwendung der Maschine, die nach der vorgeführten Tabelle das englische Volksvermögen in 30 Jahren (von 1750 bis 1800) verdreifacht haben soll, ist nur ein besondrer Fall der Wirksamkeit dieses Gesetzes, da ja mit der Arbeitsteilung die Verbesserung der Werkzeuge Hand in Hand geht, denn nur in dem Maße, als sich zuerst einzelne Personen und dann ganze Berufsstände ausschließlich der Herstellung von Werkzeugen widmen, können diese immer vollkommner werden. Wie man sieht, ist das hier aufgestellte Gesetz die Umkehrung des malthusischen. Es wird sich später zeigen, wie bei zunehmender Volksdichtigkeit seine Giltigkeit von dem malthusischen immer mehr gehemmt und schließlich überwunden wird.

An sich also, abgesehen von dem malthusischen Gesetze und andern Umständen, würden die oben angeführten Ziffern gar nichts überraschendes haben, sondern nur eben das natürliche Wachstum des Reichtums bei einem gesunden Volke darstellen; ja das Wachstum würde sogar in den 45 Jahren von 1800 bis 1845, verglichen mit dem von 1750 bis 1800 viel zu schwach und in der Zeit von da bis heute noch nicht genügend erscheinen, da nach dem aufgestellten Gesetze, nachdem einmal die Verdreifachung binnen 50 Jahren erreicht worden war, die nächsten halben Jahrhunderte bei stetig wachsender Bevölkerung, wenn auch nicht die Verneunfachung u. s. w., so doch wenigstens die Vervierfachung und Verfünffachung hätten bringen müssen. Auch erscheint die letzte Zahl in der Reihe, trotz ihrer ungeheuern Größe, für das reichste Volk der Welt immer noch klein genug. Denn 10 000 Millionen Pfund ergeben bei beinahe 40 Millionen Einwohnern nur wenig über 250 Pfund oder 5 000 Mark auf den Kopf und 25 000 Mark auf die Familie. 25 000 Mark ist bei uns ein kleines Bauerngut von 50 Morgen wert. Gäbe es also keine reichen Leute im Inselstaate und wäre das Volksvermögen gleichmäßig verteilt, so würden die Briten ein Volk von lauter Kleinbauern sein.

Aber, was das schlimmste ist, jene Zahlen trügen. Zunächst hat Wolf selbst schon bemerkt, daß seit 1600 der Geldwert stark gesunken sei, daß vor 300 Jahren ein Pfund weit mehr wert gewesen sei als jetzt, die Zunahme, in Geld ausgedrückt, demnach viel geringer sei, als sie den Zahlen nach scheint. Dann aber ist es die Frage, wie weit man den Zahlen trauen darf. Da wir das statistische Rohmaterial nicht kennen, aus dem Wolfs Gewährsmann Giffen (der Präsident der statistischen Gesellschaft) die Vermögen für die Jahre 1845 bis 1885 berechnet hat, so hegen wir starke Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit. Roscher hat es für nötig gehalten, das Selbstverständliche In der dem neuen Steuergesetzentwurf beigegebnen Berechnung des preußischen Volksvermögens ist das beobachtet worden. ausdrücklich zu betonen, daß bei Berechnung eines Volksvermögens nicht etwa der Wert der Landgüter und daneben auch noch der Wert der darauf ruhenden Hypotheken, als Kapitalvermögen der Rentner, angesetzt werden dürfe, weil das ja einen und denselben Gegenstand doppelt zählen hieße. Wenn auf einem Gute, das 100 000 Thaler wert ist, 50 000 Thaler Hypotheken ruhen, so sind nicht 150 000 Thaler Vermögen vorhanden, sondern nur 100 000, da der Wert der Hypothek einzig und allein in ihrem Pfandobjekt besteht. Entweder also müssen bei der Berechnung des Volksvermögens vom Grundstückwert alle Schulden oder vom Vermögen der Rentner alle Hypotheken abgezogen werden. Bei der großen Unwissenheit selbst hochgestellter Männer in volkswirtschaftlichen Dingen, bei der Neigung der Staatsmänner, die Lage des Volkes möglichst glänzend darzustellen, einer Neigung, der die Hilfsarbeiter zu schmeicheln verstehen, und bei der Unmöglichkeit, die Bestandteile der eingeschätzten Rentnervermögen zu ermitteln, ist es sehr unwahrscheinlich, daß bei Giffens Berechnungen solche Doppelzählungen gänzlich vermieden worden sein sollten. Hypothekarische Verschuldung kennt zwar das englische Recht nicht; allein wenn die Einkünfte eines Landlords wegen persönlicher Schulden sequestrirt sind, so findet ganz dieselbe Besitzteilung statt wie beim deutschen mit Hypotheken belasteten Grundbesitz. Sodann möchten wir darauf wetten, daß die größtenteils im Lande untergebrachte englische Staatsschuld als Vermögen gerechnet worden ist. Die Schuldscheine befinden sich doch im Besitz von Kapitalisten und bilden einen Teil von deren Vermögen. Aber wie nicht alles Volksvermögen Privatvermögen, so ist auch nicht alles Privatvermögen Volksvermögen. Nur so weit die Staatsschuld durch Domänen, Eisenbahnen u. dergl. Besitzstücke gedeckt ist, kann sie als Vermögen gerechnet, darf aber wieder nicht doppelt angeschlagen werden, einmal im Pfandobjekt und einmal im Vermögen der Kapitalisten, die die Schuldtitel besitzen. Entweder also ist z. B. der Wert der Bahn und ihres rollenden und sonstigen Materials oder die Summe ihrer Aktien zu rechnen, nicht beides. Das gilt natürlich auch für die Privatbahnen; Staatsbahnen giebt es ja wohl in England überhaupt nicht. Die ungedeckte Staatsschuld dagegen ist in keinem Sinne Vermögen, sondern sie verleiht nur jedem Inhaber von Staatsschuldscheinen das Anrecht auf einen Anteil am jährlichen Steuerertrage, führt also nur einen Teil des Volkseinkommens aus den Taschen der einen Steuerzahler in die der andern über, ohne das Volksvermögen zu vermehren. Die Staatsschuldscheine des eignen Staats gehören also zwar zum Vermögen der Rentner, dürfen aber bei Berechnung des Volksvermögens nicht mitgezählt werden. Wohl aber die Schuldverschreibungen fremder Staaten, die ja einen Anspruch auf das Vermögen andrer Völker verleihen und einen Teil ihres Arbeitsertrages ins Land bringen.

Aber selbst wenn die Berechner des englischen Nationalvermögens in allen diesen Dingen die sorgfältigste Unterscheidung geübt hätten, würden die angeführten Zahlen noch täuschen, weil doch die Häuser, Fabriken und Maschinen ganz gewiß zum vollen Taxwert angesetzt sind. Aber dieser Taxwert überschreitet stets den wirklichen Wert. Denken wir an die Millionenbauern der Berliner Vororte und nehmen wir an, einem solchen sei sein Grundstück, das bei landwirtschaftlicher Nutzung 30 000 Mark wert war, mit drei Millionen Mark bezahlt worden; für 80 Morgen Baugrund wäre das ja wohl in Berlin eher zu wenig als zu viel. Dieser Mann erscheint also von jetzt ab in der Steuerrolle als Besitzer von drei Millionen, und wer das Nationalvermögen berechnet, der wird nach diesem Kauf drei Millionen mehr anzusetzen finden als vorher. Ist aber dadurch, daß eine Spekulantengesellschaft dem Bauer jene Geldsumme bezahlt hat, das Volksvermögen wirklich um drei Millionen größer geworden? Auch nicht um einen Stecknadelknopf! Im Gegenteil! Dem Volke entgehen Feldfrüchte und Erzeugnisse der Viehzucht im Werte von jährlich mindestens 3 000 Mark. So viel oder so wenig Gebrauchsgüter und Annehmlichkeiten ein Mensch oder ein Volk alljährlich hat, so reich oder so arm ist er oder es, hat der alte Adam Smith gesagt, und dabei bleibt es; jeder andre Begriff von Vermögen oder Reichtum ist unsinnig. Eine Vermehrung der Gebrauchsgüter tritt erst ein, wenn der neue Baugrund mit Häusern bedeckt wird. Allein die Zinsen des Grundstückswerts, die von den Bewohnern dieser Häuser aufgebracht werden müssen, bleiben ein stehender Abzug am Einkommen dieser Bewohner zu Gunsten der Spekulanten und des Millionenbauers, ein Abzug, der einen volkswirtschaftlichen Nachteil bildet, und der in alle Ewigkeit weder zu einer Vermehrung des Volksvermögens führen noch selbst eine solche werden kann. Die Wohnungen, die auf dem neuen Baugrunde errichtet werden, hätten im Laufe der Zeit mit zunehmender Bevölkerung so wie so entstehen müssen, hätten aber, wenn die Leutchen auf dem Lande geblieben wären, keine Erhöhung des Bodenpreises zur Folge gehabt und nicht den falschen Schein einer Vergrößerung des Nationalvermögens über den Gebäudewert hinaus erzeugt. Ja der wirkliche Wert der neuen Häuser würde sogar größer gewesen sein, als der der Berliner Mietkasernen, selbst wenn diese besser sein sollten als gutsherrliche Tagelöhnerhäuser, weil Arbeiterwohnungen auf dem Lande immer gesünder sind als großstädtische, nicht an sich, sondern infolge des Umstandes, daß ihre Bewohner von März bis zum Oktober den ganzen Tag im Freien zubringen. Bedenkt man nun, daß einige englische Landlords den größten Teil ihrer ungeheuern Einkünfte aus der Hausmiete der Londoner Lumpenviertel ziehen, so mag man darnach den Wert dieses Teiles der großen Privatvermögen fürs Volksvermögen ermessen. Außerdem aber ist der Gebäudewert in Wirklichkeit stets geringer als der gleich hoch geschätzte Wert eines Ackergrundstücks. Die Nutzungswerte von Acker, Weide und Forst sind die einzigen unzerstörbaren oder nur durch ein Naturereignis zerstörbaren Werte, die einzigen, die bei zunehmender Bevölkerung niemals sinken, nur steigen können, die einzigen daher auch, die niemals ihren Tauschwert verlieren können. Schon bei den unterirdischen Bodenschätzen ist das nicht mehr ganz der Fall. Möchten die Kohlenlager Englands auch unerschöpflich sein, mit jeder Klafter, die der Stollen tiefer ins Erdinnere hinabsinkt oder sich unterm Meere fortwühlt, nähert er sich der Grenze, wo die Möglichkeit der Ausbeutung aufhört, und ist diese Grenze erreicht, so sind alle mineralischen Schätze, die jenseits von ihr liegen, für das Volksvermögen nicht mehr vorhanden. Was die Häuser anlangt, so sinkt namentlich bei den leichten modernen Bauten ihr Wert von Jahr zu Jahr und wird nach einigen Jahrzehnten der Abnutzung gleich Null. Eine Maschine, die heute 1 000 Mark gilt, ist morgen nur noch als altes Eisen verkäuflich, wenn über Nacht eine neue bessere Maschine erfunden wird, die dem Fabrikanten die Fortbenutzung der alten unmöglich macht. Eine Fabrik muß auf den Abbruch verkauft werden, sobald der Industriezweig eingeht, für den sie errichtet war.

Weit überzeugender als diese Kapitalstatistik, deren wirklicher Wert nach dem Gesagten schlechterdings nicht zu ermitteln ist, würde die von Wolf gelieferte Konsumstatistik wirken – denn eben in der Masse der verfügbaren Verbrauchsgüter besteht der wirkliche Reichtum des Volkes –, wenn sie genaue und erfreuliche Auskunft gäbe über die in den letzten Jahren verbrauchte Masse von Brot und Fleisch. Sie giebt aber nur Auskunft über die enorme Steigerung des Verbrauchs seit 1850, die als Folge der allgemein anerkannten Besserung der Lage des Volks seit jener Zeit selbstverständlich ist, und über die Menge der eingeführten Güter. Bei den exotischen, wie Kaffee und Thee, fällt diese nun zwar mit der Menge der verbrauchten zusammen, nicht aber bei den Brotfrüchten und Viehprodukten. Bei den erstern bedeutet die gewaltige Zunahme der Einfuhr noch keine entsprechende Vermehrung des Verbrauchs, weil man ja weiß, daß der Körnerbau in England stetig zurückgeht. Der Viehbestand allerdings wächst, wenn auch nicht stärker als die Bevölkerung, und daher kann mit Sicherheit geschlossen werden, daß der Konsum in gleichem Maße gestiegen ist, wie die Einfuhr. Aus Wolfs Material wollen wir nur die für einen einzigen Artikel angegebnen Zahlen beleuchten, die als typisch angesehen werden können, sowohl für das Wachstum des englischen Wohlstands, wie für den Grad des gegenwärtig herrschenden. »Im Jahre 1841, – schreibt er – hat Großbritannien rund 27 000 Pfund ausländischen Speck und Schinken verbraucht, 1889: 4 200 000 Zentner. Sollte die Differenz etwa von dem Häuflein Reichster, Allerreichster ihrem Konsum zugelegt worden sein? Oder soll, wenn eingeräumt wird, daß an das Volk von dem zunehmenden Schinken- und Speckverbrauch etwas abfiel, die Zunahme dieses etwa ein Symptom maßlos wachsenden Elends sein?« Falls irgend ein verrannter Sozialdemokrat allem Augenschein zuwider behauptet, daß in England das Elend auch seit 1849 noch maßlos gewachsen sei, so mag er der vernichtenden Statistik Wolfs preisgegeben sein. Aber wenn dieser vielleicht glaubt, mit seiner Schinkenstatistik bewiesen zu haben, daß es überhaupt kein Massenelend in England mehr gebe, so irrt er sich. Wieviel einheimische Schweine die Engländer im Jahre 1889 gehabt haben, wissen wir nicht, aber 1890 waren ihrer nach der vom vorigen Landwirtschaftsminister Gardner veröffentlichten Statistik 2 700 000. Und da doch immer höchstens die kleinere Hälfte der vorhandenen Schweine in einem Jahre geschlachtet werden kann, so wird die in jenem Jahre verfügbare Menge des einheimischen Specks und Schinkens mit 1 800 000 Zentnern eher zu hoch als zu niedrig bemessen sein, sodaß also die Engländer in jenem Jahre 6 000 000 Zentner der angegebnen Fleischsorten verspeist haben. Der Engländer ist nun, wenn ers dazu hat, ein sehr starker Esser, und in anständigen Häusern darf auf keinem Frühstückstische der Schinken fehlen, der übrigens dabei nicht in Gestalt jener papierdünnen Scheibchen erscheint, wie sie der deutsche Schulmeister oder Registrator zu seinem Butterbemmchen genießt. Setzen wir den jährlichen Schinkenbedarf einer solchen Familie auf drei Zentner an, so werden wir damit wahrscheinlich ein gutes Stück hinter der Wahrheit zurückbleiben. Der Speck sodann ist die Butter des kleinen Mannes und ersetzt ihm auch das Rindfleisch; mit Schweinefett oder Speck werden alle Speisen, namentlich die Kartoffeln, angemacht. Gönnen wir der Familie einen Zentner jährlich, das heißt wenig über ein Viertelpfund am Tage, so schwimmt sie noch keineswegs im Fett. Nehmen wir nun der einfachen Rechnung wegen an, jene 6 000 000 Zentner enthielten zu gleichen Teilen Speck und Schinken, und die Verbraucher beider Arten von Schweinernem gehörten verschiednen Bevölkerungsklassen an (während doch ganz gewiß in den wohlhabenden Häusern auch viel Speck verbraucht wird), so wären eine Million Familien mäßig mit Schinken und drei Millionen Familien mäßig mit Speck versorgt, über zwei Millionen Familien aber (1891 zählte man 6 146 901 Familien) bekämen nicht ein Spitzchen davon; Butter natürlich haben solche erst recht nicht. In Wirklichkeit wird die Zahl derer, die diese Nahrungsmittel ganz entbehren müssen oder nur ausnahmsweise in winzigen Mengen zu kosten bekommen, weit größer sein, da ja, wie gesagt, in den guten Häusern auch Speck verbraucht wird, die Wohlhabenden sehr starke Portionen verzehren, und die Dienerschaft vornehmer Häuser mit den Nahrungsmitteln zu wüsten pflegt.

Bei Prüfung der übrigen Zahlen würden wir zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen. Um nur die allerwichtigsten zu nennen: an Weizen und Weizenmehl wurden in den Jahren 1885 bis 1889 nach Wolf jährlich 215,54 Pfund auf den Kopf eingeführt gegen 35,12 Pfund im Jahre 1844. Weizen ist bekanntlich das Brotkorn der Engländer; Roggen wird, soviel wir wissen, weder angebaut noch verbraucht. Die englische Landwirtschaft deckte aber schon vor vier Jahren kaum ein Viertel des Bedarfs, und dabei nimmt der Körnerbau beständig ab. Im Jahre 1889 erntete man (nach Hübners statistischen Tabellen) in Großbritannien und Irland 27 600 000 Hektoliter Weizen, gegen 104 700 000 Hektoliter Brotgetreide (73 700 000 Roggen und 31 000 000 Weizen) in Deutschland. 27,6 Millionen Hektoliter sind ungefähr 40 Millionen Zentner oder rund hundert Pfund auf den Kopf, sodaß also im genannten Jahre etwas über 300 Pfund auf den Kopf kamen. Das genügt aber einem Volke von starken Essern bei weitem nicht. In Deutschland, wo bei gleichen Einkünften weniger gegessen zu werden pflegt, und doch auch noch ein paar Millionen Menschen beständig Hunger leiden, wird, wie wir aus einer Statistik in Nr. 724 der »Schlesischen Zeitung« ersehen, der Bedarf an Brotkorn auf 186 Kilogramm für den Kopf geschätzt. Wolfs Konsumstatistik beweist also für die Gegenwart, daß mindestens ein Drittel des englischen Volks bittre Not leidet, während die lächerlich kleinen Zahlen der vierziger Jahre eine deutliche Vorstellung erwecken von dem entsetzlichen Elend, worin damals mehr als zwei Drittel geschmachtet haben müssen.

Unsre Berechnung dürfte sogar noch viel zu günstig ausgefallen sein, da Wolfs Einfuhrziffern nicht für England, sondern für Großbritannien, wo nicht gar – wir sind wegen der Schinken in Zweifel – für die Vereinigten Königreiche gelten.

Was die Einkommenstatistik anlangt, so ist Wolf einsichtsvoll genug, offen zu bekennen, daß die den Steuerrollen entnommenen Zahlen auf die Lage der gewöhnlich sogenannten Arbeiterklasse überhaupt kein Licht werfen, sondern nur die Befestigung und das Wachstum eines Mittelstandes beweisen, der, erlauben wir uns hinzuzufügen, denn doch noch lange nicht ansehnlich genug ist, zu imponiren. Die Zahl der Einkommensteuerpflichtigen, das heißt der Personen, die 150 Pfund = 3 000 Mark und darüber einnehmen, ist nämlich in den Jahren 1843 bis 1880 von 106 637 auf 320 162 gestiegen. Es gehörten also, wenn man jeden Steuerpflichtigen als Haupt einer fünfköpfigen Familie rechnet, im Jahre 1880 nur etwa 1 600 000 Menschen jener Einkommenklasse an, in der das menschenwürdige Leben erst anfängt. Also kaum ein Zwanzigstel des reichsten Volkes der Erde besteht aus Menschen, die andern neunzehn Zwanzigstel sind Bettler, Lumpen und Sklaven. Denn es giebt zwar genug Gegenden auf Erden, wo man auch mit weniger als 3 000 Mark als Mensch leben kann, aber England gehört nicht dazu.

Was dann noch über die stetig wachsenden Nämlich die bis 1890 stetig wachsenden; die letzten beiden Jahre, mit denen die neueste Periode einer großen, ganz Europa bedrückenden Depression beginnt, hat Wolf in seine Berechnung nicht einbezogen. Sparkasseneinlagen und das Vermögen der zahlreichen Genossenschaften und Gewerkvereine gesagt wird, kann an unserm Ergebnisse nichts mehr ändern. Dieses Ergebnis, das später noch weiter begründet werden wird, lautet: seit 1850 hat sich ein neuer Mittelstand gebildet, dem auch die oberste Schicht der Arbeiter angehört; eine weitere Schicht hat sich aus dem schmutzigen Elend zu einigermaßen menschenwürdigen Zuständen emporgerungen; aber die unterste Schicht, die mehr als den dritten Teil des Volks ausmachen dürfte, ringt noch vergebens oder verkommt, ohne zu ringen. Die Statistik der Almosenempfänger, Arbeitslosen und Verbrecher, sowie die Statistik der Volksvermehrung und der Sterblichkeit werden wir in einem andern Zusammenhange erörtern.


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