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Wenn es im Hause an Geld zu fehlen anfängt, so pflegen Mann und Frau zunächst übler Laune zu werden und einander gegenseitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Zuweilen sind die Vorwürfe nach der einen oder der andern oder nach beiden Seiten hin begründet, zuweilen rührt auch die Not von äußern Verhältnissen her, für die keins von beiden kann.
Sämtliche europäische Völker, nur Frankreich vielleicht ausgenommen, gehen augenscheinlich ihrem Bankerott entgegen. Daher ist zur Zeit jedes Glied jedes Volkshaushalts mit Erbitterung gegen alle andern Glieder erfüllt, und mit der steigenden Not wird diese Erbitterung steigen. Was in diesem Falle die Schuld anlangt, so liegt sie teils an Fehlern, die von den herrschenden Klassen als Wirtschaftsleitern begangen worden sind und noch täglich begangen werden, teils an natürlichen Verhältnissen, für deren Entstehung die herrschenden Klassen nichts können, die aber, sobald sie erkannt werden, nicht mehr unabänderlich sind. Daß man sie sowie die begangnen Fehler erkenne, ist die selbstverständliche Voraussetzung der Besserung.
Nicht wenige denkende Männer haben beides erkannt und sind daran, diese Erkenntnis zu verbreiten. Wenn nun ein Mann aufsteht, der mit einem großartigen wissenschaftlichen Rüstzeuge und in packender populärer Sprache den Scheinbeweis führt, daß unsre Verarmung nur ein Schreckgespenst der Einbildungskraft sei, daß wir Heutigen reicher seien als alle unsre Vorfahren, und daß keine Fehler gemacht worden seien, so thut er damit etwas im höchsten Grade verderbliches; sollte er Erfolg haben, so würde er ein Werkzeug des Gottes gewesen sein, der da verblendet, die er verderben will. Professor Julius Wolf in Zürich hat dieses Verhängnisvolle unternommen in dem ersten Bande seines bei Cotta in Stuttgart erscheinenden Systems der Sozialpolitik, den er betitelt: Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung; kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik. Aus dem Buche spricht ein liebenswürdiger, edler und dabei klarer Geist; aber ins Studirzimmer eingeschlossen und dem wirklichen Leben fremd, hat dieser Geist die Bücher und Zahlentabellen, aus denen er sein Wissen und sein Urteil schöpft, nicht richtig zu deuten vermocht. Mit seinen ethischen, historischen und politischen Anschauungen stimmen wir in den meisten Punkten überein, aber diese Übereinstimmung läßt uns das Gefährliche des Buches nur um so viel gefährlicher erscheinen. Vielleicht wird sich aus dem zweiten Bande ergeben, daß seine Sozialpolitik ganz die unsre ist; allein wenn die Politiker, der Einladung des Verfassers folgend, auf die Voraussetzung der Vortrefflichkeit des herrschenden Wirtschaftssystems bauen, dann bauen sie auf Sand. So sehr wir den guten Gedanken des Buches die weiteste Verbreitung wünschen, so dringend müssen wir wünschen, daß die Herrschenden das süße Opiat seiner Reichtumsstatistik, das sie mit Wollust schlürfen werden, nicht ohne Gegengift einnehmen. Ein solches gedenken wir zu bereiten, dabei jedoch unserm eignen Gedankengange zu folgen, indem wir nur einzelne Stellen des Buches von Wolf kritisieren. (Die Überschriften seiner fünf Abschnitte lauten: 1. Eine Geschichte der sozialen Moral, gleichzeitig Geschichte der sozialen Grundrechte. 2. Das soziale Recht; moderner Standpunkt. 3. Kritik des Sozialismus. 4. Kritik der »kapitalistischen« Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. 5. Gerechtigkeit.)
Der Verfasser ist »jedem Streit über Begriffe aus dem Wege gegangen.« Streiten wollen auch wir nicht, aber so weit muß doch der Begriff berücksichtigt werden, daß man sich mit dem Leser über die Bedeutung der zu gebrauchenden Wörter verständigt, sonst schreibt man ins Blaue hinein. Nachdem der Verfasser die Nationalökonomie (er meint eigentlich die Nationalökonomik) richtig definirt hat, erklärt er die Sozialpolitik für einen »Abschnitt« der praktischen Nationalökonomie, nämlich für den, der sich mit der Güterverteilung zu beschäftigen habe. Diese Begriffserklärung ist offenbar viel zu eng. Zwar aus dem konfusen Geschwätz über Sozialpolitik, das seit einigen Jahren in Parlamenten, amtlichen Kundgebungen, Zeitungen, Vereinssitzungen, Volksversammlungen, Schullehrerkonferenzen und weiß Gott wo noch verführt wird, ist kein Aufschluß über den Sinn des Wortes zu erlangen. Aber nachdem Schäffle sein großes Werk über den Bau der Gesellschaft geschrieben, und nachdem sich eine ganze Schule von Soziologen gebildet hat, darf man wohl die Soziologie als die Lehre von dem Bau, den Lebensbedingungen und Lebensverrichtungen der Gesellschaft bezeichnen. Die Sozialpolitik würde dann die Wissenschaft vom dem sein, was der Staat zu thun hat, um den Gesellschaftsbau lebendig und in guter Gesundheit zu erhalten. Denn nicht um einen toten, sondern um einen organischen Bau, um einen beseelten Leib handelt es sich, und daher ist in dieser Wissenschaft zuerst nach der Gliederung des Gesellschaftsbaues oder Gesellschaftskörpers, oder vielmehr nach der Gliederung dieses Körpers, bei uns Deutschen des deutschen Gesellschaftskörpers, zu fragen, der ja ganz anders gebaut ist als der englische, italienische und russische; am ähnlichsten ist er dem französischen. Nun können die Glieder dieses Körpers zwar keinen Augenblick ohne Güter sein, aber die erste Frage lautet doch nicht, wie viel und welche Güter sie haben, sondern was sie selbst sind, z. B. ob sie Freibauern oder Pächter, Fabrikarbeiter oder Handwerksmeister und Gesellen sind, und in welchem Verhältnis der Über- und Unterordnung oder Beiordnung sie zu einander stehen oder stehen sollen. Eine der brennendsten sozialen Fragen unsrer Zeit z. B. – die beliebte Einzahl: »die soziale Frage« ist ein gräßlicher Unsinn – lautet: Ist ein freier Stand besitzloser Arbeiter möglich? Woher für Arbeiter, die keinen eignen Acker haben, das Brot genommen werden soll, ist keine soziale, sondern eine wirtschaftliche Frage. Freilich interessirt sie den Sozialpolitiker in hohem Grade; denn wenn es dem Arbeiter an Brot fehlt, so verfällt dieses Glied des Gesellschaftskörpers leiblichem und geistigem Siechtum, und zugleich tritt zwischen ihm und den übrigen Gliedern eine feindselige Spannung ein. Sozialwissenschaft und Volkswirtschaftslehre sind vielfach mit einander verflochten, aber die erste ist nicht ein Teil der zweiten; eher dürfte man die zweite der ersten unterordnen und sagen, die Volkswirtschaft habe zu untersuchen, wie die Glieder des Gesellschaftskörpers mit den notwendigen Gütern zu versorgen seien.
Ferner: hätte sich Wolf die Begriffe Sozialismus und Kapitalismus klar gemacht, so würde er sich nicht durch den Krieg der Sozialisten gegen das »Kapital« und den der Kapitalisten gegen die Sozialdemokraten haben verleiten lassen, beide als Gegensätze zu behandeln und für den zweiten gegen den ersten einzutreten. Der Gegensatz des Sozialismus ist nicht der Kapitalismus, sondern der Individualismus, und wer den Kapitalismus bekämpft, ist darum noch kein Kommunist. Darin sind heutzutage wohl so ziemlich alle Denker einig, ja auch Wolf selbst äußert sich gelegentlich so, daß sich Sozialismus und Individualismus nicht zu einander verhalten wie Gott und Teufel, wobei die Parteigänger jedes der beiden Systeme das ihrige für göttlich und das des Gegners für teuflisch erklären, sondern daß sie polare Gegensätze und einer so unentbehrlich wie der andre sind, sodaß in jedem einzelnen Falle nur um die Abgrenzung ihrer Berechtigung gestritten werden kann. Die Alleinherrschaft des Individualismus würde zunächst zur Vernichtung des Staats führen. In der That war in dem individualistischen England der Staat zeitweilig nahe daran, zu verschwinden, während dem preußischen Staatswesen das vorherrschende Staatsgefühl immer einen kräftigen sozialistischen Zug aufgedrückt hat. Der Kapitalismus nun findet seine Rechnung allerdings am besten bei schwacher Staatsgewalt und nach Sprengung aller sozialen Verbände; aber er weiß sich doch auch in die Verhältnisse zu schicken, eine starke Regierung sehr gut für seine Zwecke zu benutzen und der Organisation der Besitzlosen und der kleinen Besitzer seine eignen Organisationen gegenüberzustellen. Andrerseits ist nichts thörichter, als in dem Kampf gegen den Kapitalismus einen Angriff auf das Privatvermögen zu sehen. Im Gegenteil ist es gerade der Kapitalismus, d. h. die grundsätzliche und planmäßige Förderung der Übermacht des Großkapitals, der das Privateigentum von neun Zehnteln der Volksgenossen bedroht und zum Teil schon verschlungen hat. Im Mittelalter gab es Privateigentum, aber keinen Kapitalismus; dasselbe gilt noch heute von solchen orientalischen Ländern, die sich, wie Bulgarien, einen kräftigen Bauernstand bewahrt, und wo sich solche Kulturpflanzen wie die Großindustrie, das Staatsschuldenwesen, der Börsenschwindel und der Wucher noch nicht eingenistet haben. Wenn demnach Wolf mit seinem Buche dahin abzielt, »den Sozialismus als Volksbethörer lahm zu legen,« so ist es kein geringerer als der Staat, auf den sein tötliches Geschoß gerichtet ist; denn ein unsozialer Staat ist ein Unding. Was er meint, ist nun freilich nicht jener Sozialismus, den wir meinen, und den er selber für notwendig hält, sondern die Sozialdemokratie. Aber auch in diesem Sinne bleibt seine Absicht noch höchst bedenklich. Die Thätigkeit der Sozialdemokratie ist für unsre deutsche Gesellschaft und für unser Staatswesen nicht allein heilsam, sondern vor der Hand sogar noch notwendig. Sie übt an den herrschenden Zuständen eine Kritik, die zwar in vieler Beziehung der Berichtigung bedarf, die aber doch besser ist als gar keine, und ohne jene Partei würden wir keine haben. Zugleich strebt sie, die Lage der untern Klassen zu verbessern, und hat mit diesem Streben bereits einigen Erfolg gehabt, denn ohne sie würde u. a. das, was man heute Sozialpolitik nennt, gar nicht vorhanden sein. In dieser negativen und positiven Thätigkeit steckt nichts von Bethörung, sondern sie beruht auf Wahrheit und wirkt in dem teilweise erkrankten Gesellschaftskörper als Heilmittel. Als Bethörung kann man höchstens die Zukunftsträume der Sozialdemokratie bezeichnen; allein diese sind teils harmloser Natur, teils unter den obwaltenden Umständen, d. h. beim Abgange anderweitiger Ideale, fast unentbehrliche Illusionen.
Da Wolf auf die Grundlage klarer Begriffe verzichtet hat, darf man sich nicht wundern, daß ihm die ganze Anlage seines Baues windschief geraten ist, nicht allein in der falschen Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus, sondern auch noch in andrer Beziehung. Die volkswirtschaftlichen und die im engern Sinne sozialpolitischen Abschnitte seines Buches greifen schlecht in einander ein, und seine Sozialpolitik läuft zudem auf eine Rechtsphilosophie hinaus, eine Rechtsphilosophie, mit der wir für unsre Person so ziemlich übereinstimmen, die wir aber für sehr unwirksam halten. Er geht von einer geschichtsphilosophischen Betrachtung aus, die ganz in unserm Sinne gehalten ist, und sagt sehr schön: »Für uns hier stellen wir nur das eine fest: daß, wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherlich nur erreicht werden kann auf dem Wege über eine befriedigende materielle Existenz des Einzelnen.« Demnach stehe die Sozialpolitik »mitten auf der Brücke, die von den Bedingungen [Lebensbedingungen?] des Menschen zu seiner Aufgabe hinüberführt.« Nach folgendem Plane habe sie zu verfahren: »Sie hat festzustellen, was Rechtens ist, und auf dieser Basis, mit Beachtung der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mittel, ein Programm von Forderungen zu entwickeln.« Mit diesem Ideal habe sie die Wirklichkeit zu vergleichen, daraus zu erkennen, was verbesserungsbedürftig sei, endlich die Mittel und Wege zur Besserung anzugeben. Wir sind nun der Ansicht, daß auf Forderungen des Rechts deswegen keine Sozialpolitik gegründet werden kann, weil darüber, was Rechtens sei, die Menschen bis ans Ende der Welt streiten werden. Weder die volkswirtschaftlichen noch die im engern Sinne sozialpolitischen Fragen lassen sich juristisch lösen. Wie in aller Welt soll denn ermittelt werden, ein wie großer Teil, sei es des eignen Arbeitsertrages, sei es vom Volkseinkommen, dem Einzelnen von Rechtswegen gebühre, wenn unter Recht nicht ein positives Vertragsrecht, sondern das ideale Recht, das Recht an sich verstanden wird? Wie will man, nicht auf dem Boden eines historischen, sondern dieses idealen Rechts die Rechtsansprüche der Klassen und Berufsstände gegen einander abgrenzen? Eines ist so unmöglich wie das andre. Auch wir haben z. B. die Empfindung, daß eigentlich jeder arbeitende oder wenigstens arbeitswillige Mensch Anspruch habe auf ein Stück heimischen Bodens; aber wer dieser Empfindung in einem Gesetzvorschlage Ausdruck verleihen wollte, der würde sich damit doch nur lächerlich machen. Nicht aus solchen Empfindungen ist die kurbrandenburgische und preußische Bauernpolitik geflossen, sondern aus der Einsicht, daß der König für sein Heer »Kerls« und Pferde braucht, für die Staatsverwaltung aber Steuern, und daß alle drei Bedürfnisse nicht von Latifundien mit proletarischer Arbeiterschaft, sondern nur von Bauerhöfen bestritten werden können. Immer sind es nur solche, wenn man will gemeine, Erwägungen, nicht Ideale und Empfindungen, auf die der Gesetzgeber baut. So wohlthätig demnach auch ein lebhaftes und feines Rechtsgefühl auf die Volkswirtschaft wie auf die Sozialpolitik einwirken mag, und wie hoch wir demgemäß auch das Verdienst aller Staatsmänner und Richter, aller Geistlichen und Lehrer, aller Schriftsteller und Volksredner anschlagen, die den Rechtssinn wecken, schärfen und verfeinern, so fragen wir doch bei volkswirtschaftlichen und sozialen Dingen nicht darnach, was das Recht fordere, sondern was notwendig, was wünschenswert, was möglich und erreichbar sei, denn darüber kann unter Verständigen eine Einigung erzielt werden. Und wenn in der Kritik des uns vorliegenden Buches mehr als einmal auf schreiende Ungerechtigkeiten hingewiesen werden wird, so geschieht es nicht, um den sittlichen Unwillen zu erregen oder zum Emporstreben aus dieser schlechten Wirklichkeit in einen Idealzustand verwirklichter Gerechtigkeit anzuspornen, sondern zu zwei ganz andern Zwecken. Erstens sind diese Ungerechtigkeiten von einem hochzivilisirten Volke im neunzehnten Jahrhundert verübt worden, und indem wir sie hervorheben, wollen wir den Wahn zerstören, als ob heute und in Europa »so etwas nicht mehr vorkommen könne,« als ob unser Geschlecht durch seine Humanität und seinen Gerechtigkeitssinn allein schon vor dem Rückfall in eine Barbarei geschützt wäre, die Staat und Gesellschaft mit dem Untergange bedroht. Zweitens aber ist es von höchster Wichtigkeit, festzustellen, daß gewisse volkswirtschaftliche und soziale Übel keineswegs durch natürliche Ursachen erzeugt, sondern durch menschliche Bosheit verschuldet worden sind, daher geheilt und für die Zukunft vermieden werden können.
Von diesem Standpunkte aus können wir der übrigens sehr anziehenden Geschichte der sozialen Moral und der sozialen Grundrechte, die Wolf im ersten Abschnitte liefert, nur eine rein akademische, also für unsern praktischen Zweck untergeordnete Bedeutung beimessen. Doch dürfen wir sie, schon wegen der vielen Berührungspunkte mit unsern eignen bei verschiednen Gelegenheiten kundgegebnen Ansichten, auch nicht gänzlich übergehen. Indem Wolf die Frage nach dem Fortschritt der Moral im allgemeinen aufwirft, kommt er zu dem Ergebnis, daß die exoterische Sittlichkeit zweifellos fortgeschritten, die esoterische aber zurückgeblieben sei; doch will er auch an dem Fortschritt dieser nicht verzweifeln und glaubt, daß sie durch jene gefördert werde. Unter exoterischer Sittlichkeit versteht er nämlich »die zur Schau getragne und äußerlich geübte, unter esoterischer die innerlich empfundne, dem Drange des Herzens entquellende.« Mit den von Wolf wahrgenommenen Thatsachen hat es seine Richtigkeit, nur ist der Ausdruck exoterische Sittlichkeit nicht ganz zutreffend; die Sittlichkeit sitzt immer inwendig. Was er mit jenem Ausdruck meint, ist einerseits die Legalität, andrerseits die öffentliche Meinung über Sittlichkeitsfragen. Jene wächst selbstverständlich mit der bei enger Zusammendrängung der Menschen notwendigen Zwangsgewalt des Staates, der gegenüber die Willkür des Einzelnen niemals so ohnmächtig gewesen ist wie heute. Ihrem sittlichen Werte nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer Hunde, die durch bescheidne Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald auf die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug zu mildern verstehen. Wie weit sie einen günstigen Einfluß auf die wirkliche, die innerliche Sittlichkeit übt, weiß Gott allein; gewisse ungünstige Einflüsse verraten sich auch dem menschlichen Beobachter. Daß die erzwungne Legalität mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele niederdrücke, ist schon oft beklagt worden, von den stärkern Geistern aber pflegen die Rohern im Widerstande gegen das Joch einer erzwungnen »Herdenmoral« Verbrecher zu werden, die Feinern überzuschnappen und sich an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu erlaben. Bei leidlicher Freiheit bleibt das Menschentier ein ziemlich harmloses Geschöpf, in den Käfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffentliche Meinung anlangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen, seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sittlichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte nachzuweisen, andrerseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die notgedrungne und bald zur Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten, an einander Kritik und über einander Sittenpolizei zu üben und jede Blöße des Gegners der Öffentlichkeit zu denunziren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Leute von anderm Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der andern Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staatsanwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit durchtobt, giebt es einen ziemlich sichern Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine Versuchung hat, so meint ers aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche Verbrechen und Schandthaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen der Genußsucht in neun von zehn Fällen erheuchelt und mit ein wenig Neid versetzt, mögen die sich Entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konservative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein.
Die Geschichte der sozialen Moral teilt Wolf auf zweierlei Weise ein. Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Renaissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode – eine geistreiche und nicht unbegründete Auffassung. Sodann aber teilt er die ganze Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht des Stärkern. Die zweite »Epoche« soll sich erstrecken »von der Gewährung des Rechts auf Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts auf politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen.« Die dritte ist die »in unsern Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des Rechts auf Freiheit auch nach der wirtschaftlichen Seite hin und der Realisirung des Rechts auf Existenz und auf den vollen Arbeitsertrag.« Demnach würde der zweite Abschnitt für Frankreich 1789, für Preußen 1807 anfangen. Für England läßt er die zweite 1848 schließen; wir werden sehen, daß sie da eigentlich noch nicht einmal begonnen hatte.
Schon jetzt aber mag angemerkt werden, daß es um die praktische Verwirklichung der »Menschenrechte,« die von den Theoretikern seit anderthalbhundert Jahren so pomphaft verkündigt worden sind, recht kläglich bestellt ist, ja daß wir sogar in der Theorie noch nicht über die antike Anschauung hinaus sind. Diese charakterisirt Wolf ganz richtig dahin, daß sie keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur Rechte der freien Volksgenossen kannte, während dem Sklaven und dem Ausländer, wenn überhaupt ein Recht, nur das Recht von Schützlingen und Gästen eingeräumt wurde. Nun hat der schottische Geistliche Townsend in seinem Buche »Die Armengesetze, beurteilt von einem Menschenfreunde« folgendes geschrieben: »Die Armen wissen wenig von den Beweggründen, die die höhern Klassen zur Thätigkeit reizen: Stolz, Ehrgefühl und Ehrgeiz. Im allgemeinen ist es der Hunger allein, der sie zur Thätigkeit stacheln kann. Aber unsre Gesetze wollen sie nicht hungern lassen. Freilich sprechen sie zugleich aus, daß sie zur Arbeit gezwungen werden sollen. Noch ist gesetzlicher Zwang zur Arbeit mit zu viel Mühe, Gewaltsamkeit und Aufsehen verbunden, während der Hunger nicht nur einen friedlichen, schweigsamen und unaufhörlichen Druck ausübt, sondern auch als natürlichster Antrieb zur Arbeit am wirksamsten die kräftigste Anstrengung hervorruft.« Wolf findet, daß solche Äußerungen englischer Moralisten eine starke Ähnlichkeit mit des Aristoteles Sklaventheorie haben: »Hier wie dort die Behauptung: die Natur will und die Gesellschaft braucht zweierlei Menschen: Bevorrechtete und Gemißbrauchte.« Wir werden sehen, daß Wolf selbst über diesen Satz nicht hinauskommt. So viel über das Sklavenrecht. Was aber das Fremdenrecht anlangt, so fällt es keiner der europäischen Nationen, die sich jetzt um den schwarzen Erdteil balgen, auch nur im Traume ein, den Negern, die sie teils unterjocht, teils mit Feuer und Schwert aus ihren Dörfern vertrieben haben, Gleichberechtigung zu gewähren; die Sklaverei wird mit einem großen Aufwande sittlicher und christlicher Entrüstung nur bekämpft, damit man die Farbigen ärger ausnutzen könne, als sie von ihren einheimischen Herren ausgenutzt werden. Das einzige, worum die Schwarzen gebessert werden würden, wenn die vollständige Unterwerfung Afrikas gelänge, würde die Beseitigung der Metzeleien bei Sklavenjagden und bei den Opferfesten einzelner Negerhäuptlinge sein. Einander haben die europäischen Völker Gleichberechtigung zugestanden, nachdem sie sich in blutigen Kriegen vergebens abgemüht haben, einander zu unterjochen. Daß es eben nur die Furcht vor neuen Niederlagen und nicht die Idee der allgemeinen gleichen Menschenrechte ist, was augenblicklich die Großmächte bestimmt, die Mordwaffen vor der Hand nur zu schärfen, anstatt sie zu gebrauchen, sehen wir an dem wilden Haß, mit dem überall in Europa, wo innerhalb desselben Staates verschiedne Nationen beisammen wohnen, die Minderheiten von den Mehrheiten unterdrückt werden. Auch in diesem Gebiete ist es nur die heuchlerische Phrase, was uns vor den Alten auszeichnet, nebst der Technik, die sich selbst die Mittel ihrer Verbreitung schafft und mit den Waffen, die wir selbst führen, auch unsre Feinde ausrüstet. Wolf zitirt folgenden Ausspruch aus »Lucrezia Borgia« von Gregorovius: »Wenn wir einen Menschen, wie ihn unsre Zivilisation erzogen hat, mitten in jene Renaissance versetzten, so würde die tägliche Barbarei, welche an den damals Lebenden eindruckslos vorüberging, sein Nervensystem zu Grunde richten und vielleicht seinen Geist verwirren.« Wolf fügt hinzu: »Ist hier bloß an die Schwachnervigkeit oder an die Charakterüberlegenheit unsrer Zeit gegen die der Renaissance gedacht? Wir glauben, es ist beides anzunehmen. Die erste wird unter Umständen vorerst der Beschönigung statt der Ausmerzung des Übels Vorschub leisten; aber die Ausmerzung wird doch ihr letztes Ergebnis sein. Von dieser Ausmerzung aber und den auf sie gerichteten Bestrebungen wird ein günstiger Einfluß auch auf den Charakter ausgehn.« Welches Glück, daß Gregorovius mit seiner zart besaiteten Seele niemals in die Arbeiterstadt von Manchester oder in gewisse russische Dörfer verschlagen Wir meinen nicht die Potemkinschen Dörfer, die Rudolf Virchows vom russischen Weihrauch benebelte eitle Seele gesehen hat, sondern echt russische Dörfer, wie sie neuerdings auf Grund amtlicher Untersuchungen von russischen Professoren beschrieben worden sind. worden ist! Er würde den Verstand verloren haben, und wir würden um seine schönen Werke gekommen sein. Die Fabrikanten von Manchester und die russischen Beamten haben stärkere Nerven; ihnen verdirbt der Anblick nicht einmal den Appetit an einer ihrer opulenten Mahlzeiten; übrigens verstehen es beide meisterhaft, das kompromittirendste vor den Augen unberufner zu verbergen. Ein solcher Herr in Manchester, dem Engels von den Zuständen der Arbeiterstadt zu sprechen anfing, sagte: And yet there is a great deal of money made here: good morning, Sir! Vielleicht wäre sogar schon in den Schlaflöchern der Burschen mancher Berliner Bäcker und Wurstmacher die Probe für unsre zarten Nerven zu hart; Sanitätskommissionen wenigstens pflegen sich vor solchen Proben zu hüten; sie beschränken sich auf die Besichtigung der Läden, wo selbstverständlich die peinlichste Sauberkeit herrscht und freundliche Gesichter strahlen. Die Besserung des Charakters durch die Nerven könnte wohl nach dem von Wolf entwickelten Programm vor sich gehen, aber wenn er meint, das sei im großen und ganzen wirklich schon geschehen, so täuscht er sich.
Er spricht in demselben Zusammenhange auch von der in sozialer Beziehung allerdings sehr wichtigen Empfindung des Mitleids und offenbart hier, während er andern Unwissenheit vorwirft, selbst bedenkliche Lücken. »Wenn man etwas mehr Geschichte kennte – sagt er –, dann würde man wissen, daß das Mitleid – nicht als Tugendbegriff, sondern als Tugendempfindung einer großen Zahl – eine kaum zweihundertjährige Geschichte hat.« Nicht zweihundert, sondern zweitausend und einige hundert Jahre ist die Mitleidsreligion Buddhas alt. Vor zweihundert Jahren schrieb man 1693, und damals lebte in Europa das mitleidloseste Geschlecht, das jemals die Sonne beschienen hat. Hundert Jahre früher war man auch schon hart gewesen, scheint aber doch nicht so aller zarteren Regungen bar gewesen zu sein. Shakespeare schrieb doch nicht zu seinem Privatvergnügen, sondern für ein sehr gemischtes Publikum; selbst ein Kind des Volkes, kannte er, wie das Menschenherz überhaupt, auch die Empfindungsweise seines Volkes aus dem Grunde. In seinen Stücken spielt nun das Mitleid eine ganz bedeutende Rolle. Wolf zitirt ein paar Seiten weiterhin zu einem andern Zweck eine Stelle aus König Johann; es ist sonderbar, daß ihm nicht die rührende Szene eingefallen ist, wo der kleine Arthur seinen Kerkermeister Hubert durch Mitleid bewegt, von der anbefohlenen Blendung abzustehen. An der ehernen Brust der Folterknechte des siebzehnten Jahrhunderts, an der Roheit englischer Fabrikanten und Fabrikaufseher des neunzehnten Jahrhunderts, an der Kälte der »klassischen« Nationalökonomen sind alle Klagen und Bitten gemarterter Kinder wirkungslos abgeprallt. Shakespeares Königsdramen dagegen enthalten eine Menge Stellen, die beweisen, daß schon die bloße Tötung eines Kindes im Jähzorn oder aus politischen Gründen damals noch als etwas Ungeheuerliches empfunden wurde; von Mißhandlungen und Grausamkeiten ist mit Ausnahme jener beabsichtigten, aber nicht ausgeführten Blendung überhaupt keine Rede. Man erinnere sich an die Urteile und Klagen über die am jungen Rutland und am Sohn der Königin Margaretha begangnen Mordthaten im dritten Teile Heinrichs des Sechsten und in Richard dem Dritten; »das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung,« spricht Anna in der so widerlich burlesk endenden Szene am Sarge ihres jugendlichen Gatten zu Gloster; und dann des zarten Monologs des wilden Tyrrel über die in seinem Auftrag vollzogne Ermordung der schlafenden Söhne des Königs Eduard. Den Alten spricht Wolf das Mitleid rundweg ab, was in Anbetracht des berühmten aristotelischen Wortes, die Tragödie habe Furcht und Mitleid zu erregen, ein starkes Stück ist von einem deutschen Professor. Vielleicht behandeln wir den höchst interessanten Gegenstand einmal besonders. Für heute mag die Bemerkung genügen, daß man die Wahrheit in dieser Sache leichter ermitteln wird, wenn man nicht fragt, ob die Alten mitleidig, sondern ob sie grausam waren. Die Grundstimmung der griechischen Volksseele wird zur Genüge durch die Thatsache charakterisirt, daß das athenische Volk einen Mann, der einen Widder lebendig geschunden hatte, zum Tode verurteilte, weil es meinte, ein Mensch, der solcher Grausamkeit gegen ein Tier fähig sei, könne ähnliches wohl auch einmal an Menschen verüben; und es hat dabei, nebenbei bemerkt, mit seiner gesunden Empfindung jenen einzig richtigen Grundsatz der Strafrechtspflege aufgedeckt, für den unser heutiges verkünsteltes Geschlecht beinahe blind zu sein scheint. Die Alten waren hart, wo harte Maßregeln zur Erreichung eines politischen oder sonstigen wichtigen Zweckes notwendig schienen, aber sie empfanden gegen nutzlose Grausamkeiten einen starken sittlichen und gegen Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Menschenleibes einen sehr entschiednen ästhetischen Widerwillen, sie waren also zwar nicht sentimental, aber auch nicht grausam. Eine Bestätigung seiner Auffassung sieht Wolf in folgendem Ausspruche des Aristoteles: »Von Natur kräftigere Menschen lassen weinerliche Menschen nicht an sich heran. Dagegen erfreuen sich Weiber und weibische Männer an dem Mitgeseufze andrer und lieben sie als Freunde und mitleidige Menschen.« Aber das ist ja ganz genau auch die Seelenstimmung jedes tüchtigen Mannes von heute, namentlich jedes protestantischen Deutschen; wo er Unrecht thun und Unrecht leiden sieht, da setzt er sich nicht hin, um mit dem Leibenden zu seufzen und zu flennen, sondern er haut auf den Übelthäter ein, und ist er zu schwach zum Einhauen, so schimpft und agitirt er wenigstens. Auch das Neue Testament ist nicht sentimental. Man lese nur die trockne, kurzgefaßte Leidensgeschichte! Nur die nackten Thatsachen; kein Wort, das etwaiges Mitgefühl des Zuschauers oder Erzählers verriete oder darauf berechnet wäre, das Mitleid des Lesers zu erregen; keine Spur von solchen nervenpeinigenden Einzelheiten, wie sie Brentano aus Legenden gesammelt und sich dann von der ekstatischen Nonne Katharina Emmerich hat diktiren lassen. Von der Rolle, die das Mitleid in der englischen Arbeiterbewegung gespielt hat, wird später die Rede sein.
Wolfs Auffassung der geschichtlichen Veränderungen stimmt insofern mit unsrer eignen überein, als auch er es für verkehrt erklärt, alle Erscheinungen aus einem einzigen »Prinzip« abzuleiten, und daher auch selbstverständlich die einseitige materialistische Geschichtserklärung der Sozialdemokraten entschieden verwirft. Ob es nun gerade drei Kräfte sind, die die Menschheit vorwärts bringen oder vielleicht nur im Kreise herumtreiben, darüber würde sich freilich streiten lassen, wenn hier der Ort dazu wäre. Wolf schreibt nämlich: »Die Kulturmenschheit wurde vorzüglich durch drei einträchtig neben einander wirkende Kräfte vorwärts gebracht: durch Ansprüche jener, die sich eine halbe Geltung infolge ihnen günstiger Wirtschaftsverhältnisse bereits errungen hatten und eine ganze wollten; durch die Selbstkritik der herrschenden Klassen; und durch die zwischen beiden vermittelnde ethische Einsicht. Diese Faktoren, die das Rad der Menschheit vorwärts drehen, sind auch heute wirksam.«