Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir haben einen langen Umweg gemacht, um zur Erkenntnis einer Wahrheit zu gelangen, die im Altertum und im Mittelalter keinem Kinde unbekannt war und die man in den Büchern aller bedeutenden Nationalökonomen von Adam Smith bis Röscher findet: wo in einem tüchtigen Volke, in einem Volke, das die Natur zu unterwerfen und zu benutzen versteht, Elend herrscht, da ist gewöhnlich Übervölkerung daran schuld; Übervölkerung aber erzeugt unter allen Umständen Elend, und gegen dieses Elend giebt es kein andres Mittel, als Abfluß der überschüssigen Bevölkerung. Als Mitursache greift der Kapitalismus, worunter wir hier nur die Übertreibung und den Mißbrauch des Rechts des Privateigentümers verstehen, in doppelter Weise ein. Entweder die großen Besitzer vertreiben die kleinen von ihrer Scholle, drängen sie auf enge Räume zusammen, erzeugen so in einzelnen Landesteilen eine künstliche Übervölkerung, schon lange bevor die natürliche eintritt, und arbeiten durch Schaffung eines Massenproletariats dem Kapitalismus im engern Sinne, d. h. der Herrschaft der industriellen Unternehmer über die Arbeiter und der Geldverleiher über die produktiven Klassen vor. Oder die Übervölkerung ist auf natürlichem Wege eingetreten; dann benutzt der Kapitalismus die ohne sein Zuthun geschaffne Notlage der Massen für seine Zwecke. Wir mußten diesen weiten Umweg machen, um alle Ausflüchte abzuschneiden und der künstlich darniedergehaltnen Wahrheit die öffentliche Anerkennung, die ihr ehedem niemals gefehlt hat, wieder zu erringen. Sie ist nämlich jetzt in Deutschland und namentlich in Preußen verpönt, und daher nützt es gar nichts, daß sie z. B. von Roscher in seinem Lehrbuche der Nationalökonomie und auch von Wolf so schön gepredigt wird, als man sichs nur wünschen kann: in die Zeitungen, Volksversammlungen und Reichstagssitzungen, wo sie wirksam werden könnte, darf sie sich nicht wagen. Man hat sie verpönt, erstens aus Gründen der Sittlichkeit, obwohl, wie Röscher hervorhebt, Keuschheit wahrlich nicht die einzige Tugend ist, in dem allgemeinen Elend und in dem verzweifelten Ringkampf um den Bissen Brot alle edlern Regungen erstickt werden, und gerade die Übervölkerung auch die schlimmsten geschlechtlichen Verirrungen unmittelbar erzeugt. Man hat sie zweitens verpönt mit Rücksicht auf die Wehrkraft. Dieses Bedenken ist vor der Hand noch berechtigt; wir werden sehen, wie es gehoben werden könnte. Unberechtigt aber ist eine dritte, volkswirtschaftliche Erwägung, die jeden Menschen als eine zinstragende Kapitalanlage betrachtet und daher den Abgang jedes Menschen als einen Kapitalverlust bedauert. Sie ist erstens falsch; denn nach eingetretner Übervölkerung stellt jeder neu hinzutretende Mensch nur noch ein fressendes, kein produktives Kapital mehr dar. Sie ist zweitens gemein, roh und niederträchtig, indem sie zu dem Ergebnis führt, daß die Leute am Auswandern gehindert und im Elend zurückgehalten werden sollen, damit die Grundbesitzer und Fabrikanten den Zurückbleibenden keinen höhern Arbeitslohn zu zahlen haben und keinen Renten- oder Zinsverlust erleiden. Wenn man dabei die Kosten der Aufzucht veranschlagt, die doch aus dem großjährigen Arbeiter wieder herausgeschlagen werden müßten, so steht diese Viehzüchterauffassung auf einer Stufe mit der Auffassung versoffner Proletarierväter, die sich von ihren Kindern ernähren lassen, sobald diese die Händchen rühren können, und noch unter dem Standpunkte des Sklavenzüchters, denn der Sklavenzüchter hat den jungen Sklaven wirklich aufgezogen und daher ein Recht auf ihn, »das Vaterland« aber, worunter die Hochmögenden in diesem Zusammenhange sich selber verstehen, hat für den jungen Arbeiter auch gar nichts gethan, sondern die Sorge um seine Aufzucht den armen Eltern überlassen.
Die unbequeme Wahrheit dein Volke zu verbergen, fiel unsern Politikern leicht, weil sie schon durch verschiedne zusammentreffende Umstände verdunkelt worden war. Zunächst wachsen unsre heutigen Politiker, während die Staatsmänner älterer Zeiten gewöhnlich Grundherren und Landwirte waren, meist auf städtischem Pflaster auf und sehen die Grundbedingung des Daseins, den Fruchtboden, nur in nebelhafter Ferne. Sodann erzeugt, wie schon bemerkt wurde, die hochentwickelte Geld- und Kreditwirtschaft den Schein, als ob sich, wenn man nur Geld und Kredit hat, alles übrige von selbst einstellte. Dazu kommt dann noch die Arbeitsteilung, die man vom einzelnen Volk auf die Menschheit ausdehnen zu können glaubt, sodaß man die Karikatur eines Fabrikvolks ohne Ackerbau nicht allein für lebensfähig hält, sondern in unbeschreiblicher Verschrobenheit sogar als Ideal anpreist. Auch die Sozialdemokraten haben mit zur Verdunkelung beigetragen, indem sie, ihrem städtischen Ursprunge gemäß, gleich den übrigen Politikern die Bedeutung des Landes meist übersahen und unter den Elendsursachen die ihnen zunächst fühlbare, die Ausbeutung des gewerblichen Arbeiters durch den kapitalistischen Unternehmer, einseitig in den Vordergrund schoben. Endlich hat man, wie auch Wolf hervorhebt (siehe das vorige Kapitel), durch die steigende Produktivität der Arbeit geblendet, den Umstand übersehen, daß diese gesteigerte Produktivität gerade die Güter, die wir am nötigsten brauchen, nur wenig oder gar nicht zu vermehren vermag, und als dann Malthus die alte Wahrheit neu auffrischte, hat er durch die ungeschickte Fassung, die er ihr gab, die Ansichten mehr verwirrt als geklärt, und die Volkswirte in Malthusianer und Optimisten gespalten, in deren Streite der springende Punkt gewöhnlich übersehen und daher die Wahrheit wenig gefördert wird.
Wir haben früher diesen springenden Punkt folgendermaßen angegeben. Im Anfange der Besiedlung eines Landes steigt die Produktivität aller Arbeit, auch der landwirtschaftlichen, dank der fortschreitenden Arbeitsteilung stärker als die Bevölkerung; je mehr alles anbaufähige Land unter den Pflug genommen wird, desto mehr fängt diesem Gesetz das malthusische entgegen zu wirken an, und bei einem bestimmten Grade der Volksdichtigkeit erlangt dieses das Übergewicht. Die weitre Steigerung der Produktivität kommt dann nur noch den Industrieerzeugnissen, und zwar meist den allerwertlosesten und zum Teil geradezu schädlichen, zu gute. Wenn wir das zweite Gesetz das malthusische nennen, so geschieht es nur aus Höflichkeit gegen den berühmten Mann, denn die Fassung, die er ihm gegeben hat, ist, wie gesagt, sehr ungeschickt, um nicht zu sagen falsch. So lange die zuwachsende Bevölkerung noch Land urbar zu machen findet, hält der Mehrertrag an Nahrungsmitteln mindestens gleichen Schritt mit ihr; ist aber das Land bis an den Rand bebaut, und zwar intensiv bebaut, dann steigt die Nahrungsmittelmenge überhaupt nicht mehr, die Bevölkerung mag weiter wachsen, wie sie will. Veranschaulichen wir uns, um alle Zweifel zu zerstören, wie eine stetige Zunahme der Bevölkerung auf die Lage des einzelnen einwirkt, und sehen wir uns zunächst die berühmte Not der Landwirtschaft ein wenig an! (Als ich die nachfolgenden Betrachtungen niederschrieb, hatte ich Hansens vortreffliches Buch: »Die drei Bevölkerungsstufen,« das man zur Vergleichung heranziehen mag, noch nicht gelesen.)
In den amtlichen Berichten über die Lage der Landwirtschaft in einzelnen deutschen Staaten und Provinzen findet man als Ursachen der Subhastationen verzeichnet: schlechte Preise, Verschuldung, Wucher, ungünstigen Kauf, zu kleines Betriebskapital, Erbteilung u. s. w. Daß aber der ungünstige Kauf, das zu kleine Betriebskapital und die Verschuldung in der fortgesetzten Erbteilung ihre gemeinsame Wurzel haben, wird kaum angedeutet, geschweige denn offen eingestanden. Es ist aber eines großen und hochgebildeten Volkes unwürdig, bei Beratung über die wichtigste aller Fragen den Kern der Sache zu umgehen und sich der Pflicht gründlicher Prüfung durch eine Scheindebatte über die Goldwährung zu entziehen, die nach der Behauptung der Bimetallisten an der Not der Landwirtschaft schuld sein soll. Sogar Roscher versteckt in seiner Erörterung des Gegenstandes den entscheidenden Satz in eine Anmerkung: »Die vom Verein für Sozialpolitik veranstaltete Untersuchung der bäuerlichen Zustände hat doch meistens ergeben, daß die wachsende Verschuldung der Bauern und andern Landwirte selten durch Not, auch selten durch Bauten, am häufigsten durch Eintragung zu hoher Erbteile und Kaufgelderreste bewirkt ist.« (System der Volkswirtschaft II, 485.) Von den Männern, die im Auftrage des genannten Vereins die Untersuchung unternommen haben, und deren Berichte in den Schriften des Vereins von Band XXII an veröffentlicht worden sind, haben nur zwei den Mut gehabt, offen mit der Sprache herauszurücken. Kartels, der über die Gebirgsgegenden des Kreises Merzig (Regierungsbezirk Trier) berichtet, rechnet aus, wieviel Tausend Hektare den von ihm beschriebnen Gemeinden zugelegt werden müßten, wenn sie vom Ertrage ihres Ackers sollten leben können. Und der Ministerialrat Buchberger, der die bäuerlichen Verhältnisse Badens beschreibt, bekennt offenherzig, daß dort, wo nun einmal das Land nicht zureicht, bei jeder Art Erbrecht das Elend unabwendbar einreißen müsse.
Überblicken wir den Gang der Besiedlung unsers Vaterlandes. Die altdeutsche Markgenossenschaft und der Edelmann der fränkischen Zeit besaßen neben ihrem Ackerland noch so viel Wald, Sumpf und sonstiges Unland, daß zur Versorgung der Söhne, die den Hof nicht erbten, nur weitere Flächen urbar gemacht und neue Höfe angelegt zu werden brauchten. Nicht einer abergläubischen Frömmigkeit entsprangen die zahlreichen Schenkungen an Kirchen und die Neugründungen von Stiftern, sondern dem Bedürfnis rascher Besiedlung. Noch um das Jahr 1000 war der nordöstliche Winkel des heutigen Baierns, die Oberpfalz und Oberfranken, beinahe eine menschenleere Wüste; und wenn Kaiser Heinrich II. auf der Synode zu Frankfurt am 1. November 1007 einige Bischöfe fußfällig bat, in die Verkleinerung ihrer Sprengel zu willigen, damit er durch Gründung des Bistums Bamberg den Böhmen ihr Ausfallsthor, wie Giesebrecht den Landstrich nennt, verschließen könne, so war dieses nach unsern Begriffen unkönigliche und widerliche Gebühren nur ein in die Formen jener Zeit gekleideter Akt einer weisen und großen Politik. Übrigens hatten damals die fünf deutschen Stämme die Kolonisation des slawischen Ostens, d. h. der Ländermasse, die den österreichischen Staat, das Königreich Sachsen und die alten Provinzen Preußens umfaßt, schon in Angriff genommen. Den Baiern fiel dabei natürlich der südliche, den Sachsen der nördliche Flügel des gewaltigen Gebietes zu. Kein deutscher Grundherr und Bauer brauchte damals sein Anwesen unter seine Söhne zu teilen; mit Schwert und Pflug eroberten sich die überzähligen Söhne ihr Erbe, ohne das väterliche Gut mit Hypotheken zu belasten.
Und das war nicht die einzige Versorgungsart. Widmete sich doch fast in jeder vornehmen Familie mindestens ein Sohn der Kirche. Viele Pfründen wurden geradezu als Sekundogenituren gestiftet. Über wieviel Pfründen ein Grundherr das Patronat besaß, soviel jüngere Söhne konnte er versorgen, und nicht bloß er, sondern jeder seiner Gutsnachfolger. Denn der Inhaber der Pfründe durfte ja nicht heiraten; durch jede Erledigung wurde sie wieder frei für ein Glied des Stammhauses, Zwar fehlte es dem geistlichen Adel nicht an unehelichen Kindern; allein diese brauchten doch nicht standesgemäß ausgestattet zu werden. In späterer Zeit versorgte man sie mit einem Geldkapital, das aus den Einkünften entnommen wurde. So jener Jaques de Croy, gegen 1500 Bischof von Cambrai, der als zärtlicher Vater in einer Krankheit sein Testament machte und darin nicht allein die Bastarde, die er schon hatte, reichlich bedachte, sondern auch noch ein ansehnliches Kapital aussetzte für die Kinder, die er noch zu zeugen gedächte, wenn Gott ihm in Gnaden die Gesundheit wiederschenkte. (Wenzelburger, Geschichte der Niederlande I, S. 359. Das nennt man Lebenskraft, Lebensmut, Lebensfreudigkeit! Damals gabs weder Pessimismus, noch brauchten die Ärzte Anweisungen »zur Verhütung der Konzeption« drucken zu lassen.) Die sittliche und die kirchlich-religiöse Seite der Sache ziehen wir hier nicht in Betracht; in ökonomischer Beziehung wirkte die Einrichtung vortrefflich. Auch Luther wollte die zur Versorgung nachgeborner Söhne und unverheirateter Töchter gegründeten Stifte erhalten wissen. Das Abkommen Kaiser Heinrichs V. mit Papst Paschalis II., wonach der Kaiser das Kirchenvermögen einziehen, der Papst das Investiturrecht erhalten, und die Geistlichkeit auf Zehnten und Almosen angewiesen werden sollte, scheiterte an dem Widerspruche des deutschen Adels, der das Kirchenvermögen als sein Vermögen ansah.
Und damit waren die Auswege nicht erschöpft. Man hatte noch Italien. Bei jedem Römerzuge blieben in dem schonen Lande eine Unzahl Herren zurück, die teils mit Kirchenpfründen, teils mit den Lehnsgütern gefallener oder verjagter »Rebellen« versorgt, teils als kaiserliche Vikare angestellt wurden, deren Besoldung die reichen Städte aufzubringen hatten. Später fanden noch viele Deutsche, denen die Heimat zu enge ward, als Söldner und Söldnerhauptleute in Italien ihr schönes Brot bei einer mehr lustigen als gefährlichen Kriegsführung. Und wie viele kamen in den Kreuzzügen um oder gründeten sich auch Herrschaften im Orient, die freilich nicht lange Bestand hatten! Rechnet man dazu die anstrengende, unbequeme und oft zügellose Lebensweise, die nur wenige der ritterlichen Herren zu hohen Jahren kommen ließ, bedenkt man ferner, daß deutsche Kolonisten noch weit hinaus über das eroberte Neudeutschland droben am baltischen Meer und drunten bis in die transsilvanischen Alpen hinein Vorposten anlegten, so wird man begreifen, daß den Grundherren jener Zeit die Versorgung einer zahlreichen Nachkommenschaft kein Kopfzerbrechen verursachte. Schließlich siedelte auch noch ein Teil des Adels in die aufblühenden Städte über und erschloß sich in den angesehenen Gewerben der Kaufleute und Wechsler neue Quellen des Wohlstandes.
Trotzdem war um 1500 das Land bereits in dem Grade gefüllt und verteilt, daß der Grundadel von der damals eintretenden wirtschaftlichen Krisis nicht unberührt blieb. Von einem verschuldeten Adelsgeschlecht erwarb damals die Stadt Görlitz ihre großen Fürsten. Die Säkularisation half für den Augenblick – auf Kosten der Zukunft; das römische Recht half dem Adel – auf Kosten der Bauern. Endlich wurde das ganze an Blutüberfluß leidende Volk einer Gisenbartkur unterworfen in einer Reihe furchtbarer Kriege. Ehe es sich von dem dreißigjährigen erholt hatte, folgten weitere Aderlässe in den dynastischen Kriegen des achtzehnten Jahrhunderts, in den Revolutions-, den napoleonischen und den Befreiungskriegen.
Seitdem nimmt der natürliche Bevölkerungszuwachs feinen ungestörten Fortgang, und die Besitzverhältnisse der Landgüter ändern sich nach folgendem Schema. Denken wir uns einen gräflichen Besitz, der zwei Millionen Thaler wert ist, dreißigjährige Geschlechtsfolgen und je vier Kinder. Da zwei davon in andre Güter einheiraten, wird das Stammvermögen bei jeder Erbteilung halbirt. Demnach zerfällt der ursprüngliche gräfliche Besitz nach sechzig Jahren in vier Güter zu 500 000 Thalern, die wir als freiherrlich bezeichnen dürfen; nach 120 Jahren in 16 Rittergüter zu 125 000 Thalern, nach 180 Jahren in 64 Bauergüter zu reichlich 30 000 Thalern, nach 240 Jahren in 256 kleinbäuerliche Besitzungen zu 7500 Thalern, nach 300 Jahren in etwa 1000 Ackerhäuslerstellen, und nach weitern 60 Jahren in Parzellen, deren Besitzer auf Tagelöhnerarbeit angewiesen sind. In diesem Schema ist die Veränderung der Besitzverhältnisse auf den Gütern, die von vornherein kleine Rittergüter oder Bauergüter waren, schon mitenthalten. Bleiben die Güter unzerstückelt, und werden sie bei der Erbteilung mit Hypotheken belastet, so tritt über kurz oder lang ein Zeitpunkt ein, wo sie der Besitzer nicht mehr halten kann. Ein Rittergutsbesitzer, dessen Gut 120 000 Thaler wert ist, dessen wirkliches Vermögen aber nur 10 000 Thaler beträgt, hat die Wahl, ob er das Gut aufgeben, oder nicht mehr als Rittergutsbesitzer, sondern als Bauer, was er seinem Vermögen nach ist, darauf weiter leben will; d. h. ob er auf herrschaftliche Einrichtung, Kost und Kleidung, auf Equipage, auf die Anstellung eines Wirtschaftsinspektors verzichten, eigenhändig Mist laden, seine Söhne auf den Acker und hinter die Ochsen, seine Frau und Töchter in den Stall schicken will. Und da er sich zu dem zweiten niemals entschließt, so bleibt ihm nur das erste übrig. Der umgekehrte Fall kommt vor; nämlich daß der Bauer ein Gut, das 200 000 Thaler wert ist, besitzt und fortfährt wie ein Bauer zu leben. Natürlich verzehrt ein solcher Mann nicht den fünften Teil seines Einkommens und kauft alljährlich neue Acker dazu und auch zinstragende Papiere. Dem bereitet die Versorgung seiner Kinder keine Schwierigkeiten. Merkwürdigerweise haben solche Bauern gewöhnlich bloß einen Sohn, und manchmal stirbt auch der noch.
Selbstverständlich verläuft die Sache in keinem einzigen Falle genau nach dem Schema, aber der Durchschnitt aller Fälle wird ungefähr das Schema ergeben. Die Ergänzung des Stammvermögens durch das Zugebrachte der Schwiegertöchter ist schon mit angeschlagen, indem wir bei vier Kindern nicht Vierteilung, sondern Zweiteilung annahmen. Meliorationen, Fortschritte der Ackerbautechnik kommen durch Vermehrung des Ertrags zwar dem Volksvermögen, aber nicht dem Vermögen des Besitzers zu gute; dieser kann schon froh sein, wenn er die Zinsen des Kapitals hereinbekommt, das er auf Drainagen, Düngversuche, neue Maschinen, teure Zuchttiere verwendet. Die Verbindung der Industrie mit der Landwirtschaft wirft dem ersten Unternehmer gewöhnlich reichen Gewinn ab, um dann den ersten oder zweiten Nachfolger desto tiefer in Not zu stürzen, nach dem bekannten Programm: Reingewinn, Überproduktion, Preisfall, Krach (Zucker!). Der steigende Bodenpreis endlich nützt nur dem, der ihn erlebt, nachdem er seine Geschwister noch zu dem alten niedrigen Preise abgefunden hat. Seinem Sohne nützt der hohe Preis nichts mehr. Denn der erbt zwar ein nominell größeres Kapital, muß aber seinen Geschwistern entsprechend größere Kapitalien herauszahlen oder verzinsen, sodaß sein Besitzanteil am Gute derselbe bleibt, als wenn die Preise nicht gestiegen wären.
Im einzelnen gestaltet sich die Lage der Landwirte unter dem Einfluß verschiedner Umstände ungemein verschieden. Manchem scheinen alle guten Geister zu helfen; schöner Boden, günstiges Wetter, schuldenfreie Übernahme von einem Vater, der so gefällig war, ihn mit Geschwistern zu verschonen, eine reiche Heirat, leichte Verwertbarkeit der Produkte, glückliche Inspektorwahl und andre glückliche Umstände begründen im schönen Verein seinen Wohlstand so bombenfest, daß ihn nur unsinnige Verschwendung erschüttern könnte. Andrerseits giebt es Pechvögel. Sie stammen aus kinderreichen Familien, übernehmen das Gut mit übermäßigen Schulden, heiraten aus Liebe, werden von jeder Viehseuche heimgesucht, müssen ihren Roggen oder Weizen meilenweit auf schlechten Wegen auf den nächsten Markt oder zur nächsten Bahnstation schleppen lassen und sind mit einem halben Nutzend lebenslustiger Söhne und vier oder fünf heiratsfähigen Töchtern gesegnet. Zuweilen finden sich die günstigen wie die ungünstigen Umstände dörferweise beisammen. Es giebt Dörfer, deren Bauern sich sämtlich in der behaglichsten Lage befinden, und gleich daneben andre, deren Güter überschuldet sind.« Rosegger hat in seiner Weise die Lage eines übervölkerten Dorfes geschildert in der rührenden Skizze: »Das Gelöbnis der Gurgler Buben,« Zeitgeist, Jahrgang 1893, Nr. 9. In Toskana schützen sich die Halbpächter vor dem Versinken in das italienische Bauernelend dadurch, daß die überzähligen Söhne und Töchter, sofern sie nicht da? Glück haben in eine andre Pächterstelle einzuheiraten, durch Volkssitte zum Zölibat verurteilt werden und als Arbeitsgehilfen des Erben zeitlebens im väterlichen Hause bleiben. Ein westfälisches Gutsbesitzersprichwort lautet: Dirnen (Töchter) sind des Hofes Verderber. Vor allem führen Erbteilung und Subhastation großer Güter weit seltner zu der im Schema angenommenen Entstehung kleinerer Güter als im Gegenteil zur Latifundienbildung. Je größer ein grundherrlicher Besitz ist, desto weniger vermag der Besitzer den Ertrag zu verzehren; er kauft demnach vom Überschuß ein Landgut nach dem andern dazu, und die Kinder können ohne Teilung oder Belastung des Stammguts versorgt werden. Der Haupterbe übernimmt es sogar vergrößert, und allmählich wächst es sich zur Magnatenherrschaft aus. Was Gesetz des Kapitalismus, wonach die kleinen von den großen verschlungen werden, herrscht eben in der Landwirtschaft so gut wie in der Industrie. Wer hat, dem wird gegeben, auf daß er die Fülle habe, und wer wenig hat, dem wird auch das Wenige genommen; dieses Bibelwort ist der volkswirtschaftlichen Erfahrung entnommen.
Beruht nun die »Not der Landwirtschaft,« die richtig ausgedrückt nur die Not der verschuldeten Landwirte ist, auf unabänderlichen geometrischen und arithmetischen Verhältnissen, so steht auch von vornherein fest, daß ihr durch Gesetzgebungskunststücke nicht beizukommen ist; wer die Morgenzahl nicht vermehren kann, der kann nicht helfen. Die Landwirtschaft an sich bleibt auch bei den Preisen, wie wir sie vor fünf Jahren hatten, immer noch ein gutes und einträgliches Gewerbe. Mir ist ein Gutsbesitzer bekannt, der sich mit 6000 Thalern Vermögen auf einem zu 70000 Thalern abgeschätzten Gute noch hält! Es wird wenig Kaufmannsgeschäfte und Fabriken geben, wo das möglich wäre. Und wie viel angenehmer ist die Arbeit und sind die Lebensverhältnisse eines Rittergutsbesitzers als die eines Kaufmanns oder Fabrikbesitzers! Was heißt das: zu niedrige Preise? An sich ist es gleichgiltig, ob der Zentner Roggen zwei oder zwanzig oder zweihundert Mark gilt, vorausgesetzt, daß alle Warenpreise, Löhne und Besoldungen entsprechend niedrig oder hoch stehen. Fassen wir nun die Konsumenten ins Auge, so war der Preis der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, wie wir ihn vor fünf Jahren hatten, für die Familien mit einem Einkommen von 2000 bis 5000 Mark gerade recht, für die mit einem kleineren Einkommen aber noch zu hoch, denn sie konnten zur Not so viel Kartoffeln und Brot davon beschaffen, als sie zur Sättigung brauchten, und viele darunter mußten auf Milch, Butter und Fleisch verzichten. Für Haushaltungen mit großem Einkommen sind die Preise der Lebensmittel gleichgültig. Unter den Produzenten aber konnten die wenig verschuldeten und die unverschuldeten bei jenen Preisen sehr gut bestehen, während den verschuldeten auch die hohen Preise von 1891 noch nicht hoch genug waren. In dieser Thatsache, daß die Lebensmittelpreise für einen Teil der Produzenten noch zu niedrig, für einen Teil der Konsumenten aber schon zu hoch sind, kommt eben das Mißverhältnis zwischen Boden und Bevölkerung zum Vorschein; der Boden reicht für die Bevölkerung nicht mehr aus.
Die Getreideeinfuhr ist unter diesen Umständen nicht ein Unglück, sondern ein Glück, eine Notwendigkeit, Von was sollte die Bevölkerung leben, wenn wir die mehreren Millionen Doppelzentner russischen Roggen und amerikanischen Weizen nicht ins Land bekämen? Die Beschwerde der Agrarier darüber märe nur dann berechtigt, wenn sie das heimische Bedürfnis zu befriedigen vermöchten, und wenn infolge der Einfuhr ihr eignes Getreide ungenossen verfaulte und ihr Acker unbestellt bliebe. Davon ist aber doch keine Rede. Nun kann es sein, daß die Getreidezölle den bedrängten Gutsbesitzern augenblickliche Rettung gebracht und die drohende Katastrophe verschoben haben. Aber sicherlich nur verschoben. Wem die Katastrophe droht, von dem läßt sie sich durch Zölle, durch künstliche Hebung der Lebensmittelpreise auf die Dauer nicht abwenden. Die Hebung der Lebensmittelpreise hat, wie ja offen zu Tage liegt, eine entsprechende Erhöhung aller Warenpreise, Löhne und Besoldungen zur Folge, die schon nach einem Jahre jenen Vorteil ausgleicht, und die Gutsbesitzer stehen dann auf dem alten Flecke, Als der Fünfmarkzoll noch bestand, klagten die Landwirte, er sei noch nicht wirksam genug; sie würden erst zufrieden sein, wenn die Getreideeinfuhr geradezu unmöglich gemacht würde. Und dann würde von zwei Dingen eins eintreten. Entweder die Menschen stürben zu Hunderttausenden Hungers, und der hohe Brotpreis erzeugte eine solche Not, daß nicht einmal das im Lande gebaute Getreide abgesetzt werden konnte und der Preis deswegen fiele. Oder die Regierung beseitigte, um der Not zu steuern, alle Hindernisse der Einfuhr, und dann würde der plötzliche Preissturz den großartigsten Krach zur Folge haben. Sogar die Spiritussteuer mit ihrer »Liebesgabe« von vierzig Millionen jährlich wird jetzt von den Landwirten als verderblich beklagt. Sehr natürlich! Alle auf Grund falscher Diagnose verordneten Heilmittel verschlimmern die Krankheit.
Weit wirksamer würde eine Seisachtheia, eine Erleichterung oder gänzliche Tilgung der Grundschulden sein; und der Argwohn ist nicht ganz unbegründet, daß manche Bimetallisten eine solche von der empfohlenen Währungsänderung erwarten. Aber natürlich würden dann die Gläubiger, die doch auch Staatsbürger und Volksgenossen sind, um eben so viel geschädigt werden. Und diese Gläubiger sind nicht etwa lauter »Geldjuden.« Legen doch auch christliche Rentner, Witwen, Kirchen und Stiftungen, wohlhabende Handwerker und – Gutsbesitzer ihr bewegliches Vermögen in Pfandbriefen und Hypotheken an. Der Staat würde also durch solches Eingreifen in den natürlichen Lauf der Dinge eine Klasse der Bürger der andern opfern; die Zahl der Opfer und die Größe des Unglücks würden dieselben bleiben. Das war vor drei Jahren geschrieben. Auf die neuerdings wieder aktuell gewordene Währungsfrage im allgemeinen kann ich hier, wo es sich nur um ihre Beziehung zur »Not der Landwirtschaft« handelt, nicht eingehen. Wenn die Agrarier auf die Vorteile hinweisen, die den österreichischen Landwirten ihr unterwertiger Gulden und den russischen ihr entwerteter Rubel beim Getreideexport gewährt, so ist darauf zu erwidern, daß dieser Vorteil schon von dem Kippern und Wippern gewürdigt worden ist, am wirksamsten aber erzielt wird von den Gründern, die Schwindelpapiere ausgeben, und von den – Falschmünzern.
Anerbenrechte und Fideikommisse endlich sind durchführbar in Zeiten und Umständen, wo – man sie nicht braucht. So lange die nachgebornen Kinder bequem auf andre Weise versorgt werden können, läßt sich die gesetzliche Bestimmung, daß das Stammgut ungeteilt und unverschuldet bleiben soll, leicht durchführen. Bleibt aber für die Ausstattung der überzähligen Nachkommen nichts übrig als ein Angriff auf das Stammvermögen, so werden die Eltern durch das Verbot dieses Angriffs gezwungen, zur Sicherung des Anerben die übrigen Kinder einem proletarischen Dasein zu überantworten, während andernfalls sämtliche Kinder zwar notdürftig, aber doch anständig versorgt würden. Könnten sich nun auch die Eltern dazu entschließen, so wird doch der Staat zögern, die ohnehin gefährliche Vermehrung des Proletariats noch zu beschleunigen.
In sozialer Beziehung, d. h. für das Volkswohl, ist es gleichgiltig, in welcher der drei Formen die Verminderung des Anteils der Einzelnen am vaterländischen Boden bei stetig wachsender Bevölkerung zur Erscheinung kommt: ob durch das Zusammenschrumpfen der Landgüter zu Zweigwirtschaften, oder durch drückende Verschuldung der Güter, oder durch Zersetzung der ländlichen Bevölkerung in eine kleine Gruppe von Großgrundbesitzern und eine große Schar proletarischer Pächter und Tagelöhner. Von dem ritterlichen, gräflichen und fürstlichen Grundbesitz insbesondre aber gilt noch folgendes. Nachdem der heimische Boden aufgeteilt ist, und da Kolonialland nicht mehr oder noch nicht vorhanden ist, so wird sich die Grundbesitzeraristokratie auf die Dauer schwerlich halten lassen, wenn man nicht zum englischen System übergeht, d. h. den Titel an den Besitz bindet, diesen unteilbar und unverschuldbar macht und die jüngern Söhne unter bürgerlichem Namen ihrem Schicksal überläßt. Für standesgemäße Versorgung der nicht erbenden Söhne aber reichen die Offiziers- und höhern Verwaltungsstellen, von denen doch die bürgerlichen Bewerber nicht ganz ausgeschlossen werden können, nicht hin, wozu noch kommt, daß solche »Versorgung« das natürliche Gut aus bekannten Gründen zuweilen mehr beschwert als entlastet. Während es nun allerdings in politischer Beziehung Vielleicht wünschenswert wäre, wenn die alten Familien im Besitz ihrer Güter bleiben konnten, wird die Landwirtschaft durch eine größere Zahl von Besitzwechseln nicht geschädigt, wenn nur die Güter nicht von Spekulanten ausgeschlachtet werden, sondern an ebenfalls tüchtige Landwirte bürgerlicher Abkunft übergehen.
In dem Schicksale der einzelnen Gutsbesitzerfamilie liegt schon das Schicksal des Volks vorgebildet, denn das Vaterland ist das Landgut des Volks.
Um uns die Einwirkung des Bevölkerungszuwachses auf alle Volksgenossen ganz klar zu machen, müssen wir auf den Urzustand zurückgehen. Im Anfange der Besiedlung eines Landes bedeutet jedes Kind einen erfreulichen Kapitalzuwachs. Nichts braucht der Ansiedler notwendiger als recht viele kräftige Arme, die ihm helfen den Urwald roden, das Neuland umpflügen, den Acker bestellen, die Ernte einheimsen. In diesem Anfange der Kultur giebt es keinen andern Vermögenszuwachs als durch körperliche Arbeit, und der mit zwölf Söhnen gesegnete Mann wird durch sie zwölfmal so reich als sein Nachbar, dem solches Glück versagt bleibt und der allein arbeiten muß. Mit jedem Sohne wächst dem Stammgute ein neues Gut zu. Das gilt sowohl von den geschichtlichen Anfängen der Kulturvölker wie von den Ackerbaukolonisten, die in unserm Jahrhundert in Nordamerika den Urwald gerodet haben; gegenwärtig befinden sich noch einige brasilianische Ansiedlungen auf dieser Stufe. Der Unterschied gegen die alte Zeit besteht darin, daß sich die im Nachfolgenden zu beschreibende Umwandlung schneller vollzieht.
Da bei vollständig eingerichteter Wirtschaft die Arbeit eines Mannes auf dem Acker und einer Frau im Stalle genügen, außer ihnen selbst noch ein, zwei andre Menschenpaare zu ernähren, so werden bei wachsender Familie Kräfte frei, die für häusliche Bequemlichkeit und für die Werkzeuge der Ackerbestellung sorgen können. Der Bauer braucht nicht mehr die Ackerarbeit zu unterbrechen, wenn ihm der Pflug zerbricht, und sich einige Stunden mit der Ausbesserung des Schadens aufzuhalten, seitdem ihm ein Sohn zu Hause, der sich ausschließlich auf Schmiede- und Stellmacherarbeit verlegt, mehrere Pflüge zur Verfügung stellt. So beginnt die Arbeitsteilung, und sie beschränkt sich sehr bald nicht mehr auf das Haus, sondern führt zur Scheidung in Ackerbau, Gewerbe und Handel, zur Ansammlung der gewerblichen und handeltreibenden Bevölkerung in Städten, zum Güterumtausch zwischen Stadt und Land.
Je mehr die Teilung und Vervollkommnung der verschiednen handwerksmäßig betriebnen Verrichtungen fortschreitet, je weniger Zeit demnach die Herstellung der Kleidungsstücke, Wohnungen, Werkzeuge und Gerätschaften beansprucht, desto mehr Kräfte werden für geistige Arbeit frei, die nicht allein das äußere Leben verschönert und durch Entfaltung des innern Lebens den Menschen erst völlig zum Menschen macht, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Gewerbe, die Raschheit und Bequemlichkeit des Verkehrs steigert und für die Befriedigung jedes Bedürfnisses besondre Veranstaltungen hervorruft. Sollte ein Großhändler, meint Röscher, sämtliche Briefe, die er an einem einzigen Tage fortschickt, selbst an Ort und Stelle tragen, sein Leben würde dazu nicht hinreichen. Auf dieser dritten Stufe befindet sich der Reiche am wohlsten, weil in ihm vielfache Bedürfnisse geweckt sind, die alle leicht befriedigt werden.
Aber kein Gut wird den Sterblichen zu teil, das sie nicht mit einem entsprechenden Opfer bezahlen müßten. Mit dem Glück höchsten Lebensgenusses der Reichen stellen sich bei der Mehrzahl Kummer und Nahrungssorgen ein. Die Zeit, wo das zwölfte Kind noch mit derselben ungemischten Freude begrüßt wurde wie das zweite, und wo der Jüngling, sobald er mannbar geworden war, von seinen Eltern aufgefordert wurde, sich eine Gattin zu wählen, diese Zeit ist nun vorüber. Das Land ist aufgeteilt, die Städte sind gefüllt, die Beamtenklassen versorgt. Weit entfernt davon, jede neue Kraft mit Freuden zu begrüßen, wie damals, wo die Bürgerschaften und Zünfte um die Wette den umliegenden Gutsbesitzern ihre Hörigen abjagten, um sie zu freien, stolzen Bürgern zu machen, als die Schreibkunst eine seltene Kunst war, die der große Haufe ehrfurchtsvoll anstaunte und der Fürst mit Golde lohnte, sind nun alle Stellen besetzt, und jeder Stand ist bestrebt, sich gegen die übrigen abzusperren, um die vorhandnen Stellen dem eignen Nachwuchs zu sichern. Und während in den Zeiten beginnender Kultur jeder willkommen und nicht allein des Lohnes, sondern auch des Dankes gewiß ist, der zugreift, wo es etwas zu thun giebt, muß nun der Arbeitslustige sich erst vergewissern, ob er nicht vielleicht durch einen Handgriff in die Rechte eines andern eingreift. Vor einiger Zeit wurde in meinem Wohnort ein Knabe, der einem Reisenden den Koffer vom Bahnhofe nachtrug, auf die Anzeige eines Dienstmanns hin verhaftet. Ein Offizier, der zufällig Zeuge des Vorfalls war, fühlte sich dadurch so erregt, daß er sich nicht enthalten konnte, mit der Polizei deshalb in Unterhandlungen zu treten. Ein Mann, der wegen eines ähnlichen »Vergehens« zu einer Mark Strafe verurteilt wurde, rief aus: Was in aller Welt soll ich nun thun? Arbeite ich nicht, so werde ich eingesperrt, und benutze ich eine mir dargebotene Arbeitsgelegenheit, so muß ich den Verdienst als Strafgeld herauszahlen! Die Sache beschäftigte mehrere Richterkollegien, und es wurde ein ganzer Berg Akten darüber zusammengeschrieben.
Auf dieser Stufe wird der Sohn nicht mehr freundlich eingeladen zu heiraten, sobald er zwanzig Jahre alt geworden ist, und schon das dritte, vierte Kind wird mit Sorgen begrüßt. Die heranwachsenden Söhne und Tochter bedeuten freilich auch wieder ein Kapital, aber diesmal nicht ein werbendes, sondern ein zehrendes. Die Eltern sind schon froh, wenn dieses aufgewendete Kapital wenigstens den Kindern Zinsen bringt. Streng genommen kann von Zinsen überhaupt nicht die Rede sein, denn von dem, was die kostspielig erzogenen Kinder später an Gehalt oder Geschäftsgewinn beziehen, müssen sie sich ja jeden Pfennig selbst verdienen.
Es folgt eine vierte Stufe, der Zustand zweifelloser Übervölkerung: wo schon die Kinder scheel blicken, wenn ihnen noch ein Geschwister geboren wird; wo jede Erbteilung einen Giftstrom von Haß und Zwietracht und Prozessen, nicht selten auch Verbrechen erzeugt; wo die greisen Eltern als Auszügler von ihren Kindern mißhandelt werden; wo täglich in Aborten, in Schranken, im Bettstroh, im Wasser Kinderleichen gefunden werden; wo die Mädchen massenhaft teils einem hysterischen Altjungferntum, teils der Prostitution verfallen, die jungen Männer aber teils infolge mangelnder, teils durch ungehörige Befriedigung des Geschlechtstriebes ihren Lebensmut und ihre Frische einbüßen. Die Religion kann diesen Zustand je nach der Geschicklichkeit ihrer Diener und der Gemütsanlage des Volks entweder durch Trost und Stärkung der sittlichen Kraft erträglicher machen oder durch Gewissensqualen verschärfen: die Staatsgewalt kann, unterstützt durch die Umgangsformen und die äußerliche Selbstbeherrschung einer höhern Zivilisation, seine widerlichen Erscheinungen aus der Öffentlichkeit zurückdrängen und den Augen Fernstehender entziehen; zweckmäßige Erziehung und stramme Beschäftigung können, unterstützt durch allerlei Einrichtungen des Staates, den Ausbruch der zuletzt erwähnten Übel bei den jungen Leuten um einige Jahre verschieben. Aber ihn ändern oder beseitigen, das können diese sittlichen Mächte nicht, das dürfen sie auch gar nicht können, weil, wenn die Kraft heroischer Verzichtleistung auf Besitz und Lebensgenuß Gemeingut aller Menschen würde, ein früher und kinderloser Tod aller Erwachsenen der ganzen Menschheit und damit allerdings auch allem sozialen und sonstigen Elend ein Ende machen würde.
Wir überlassen es dem Leser, nach seiner persönlichen Erfahrung und mit dem jedermann zugänglichen Zahlen- und Thatsachenmaterial zu entscheiden, auf welchen der geschilderten Stufen die einzelnen Länder Europas gegenwärtig stehen oder welchen sie sich nähern, und bemerken nur, daß es auch noch eine fünfte giebt, auf der sich die bevölkertsten Provinzen Chinas schon seit langer Zeit befinden, jene Stufe, wo sich keine seelische Empfindung, keine Gewissensregung mehr gegen unwürdige Lagen, lasterhafte Gewohnheiten und verbrecherische Thaten auflehnt; wo im hündischen Balgen um ekle Nahrung, die man auch aus dem Schmutz der Gosse herauszuklauben sich nicht scheut, alles Ehrgefühl verloren gegangen ist, wo Kindermord, Kinderaussetzung und lasterhafte Gewohnheiten Volkssitte geworden sind, und wo das Leben keinen Wert mehr hat.
Je nach der größern oder geringern Fruchtbarkeit eines Landes tritt die Übervölkerung später oder früher ein. Da bei uns in Deutschland ein regelmäßiger Zuschuß ausländischen Brotgetreides von der Zeit an notwendig geworden ist, wo die industrielle Bevölkerung zu überwiegen anfing, so dürfen wir annehmen, daß der deutsche Landmann durchschnittlich sich und einen Städter zu ernähren vermag, daß demnach fünfzig Prozent landwirtschaftliche und fünfzig Prozent industrielle Bevölkerung das richtige Verhältnis bilden. Wird das Gleichgewicht nach der einen Seite hin gestört, so leidet die Kultur; wird es nach der andern Seite hin verschoben, so ist die natürliche Grundlage eines gesunden Volkslebens bedroht. Daß intensive Wirtschaft den Ertrag erhöht, ist wohl richtig, aber einmal wird diese Erhöhung fast aufgewogen durch den Verlust an Fruchtacker bei steter Vermehrung und Vergrößerung der Städte, Straßen, Bahnen, Schlachthöfe, Lagerhäuser, Gas- und Elektrizitätswerke, Fabriken und Gruben. Sodann hat die Vermehrung des Ertrags durch künstliche Düngung u. dergl. ihre Grenzen; geht man mit diesen Mitteln über ein gewisses Maß hinaus, so ist das zuviel aufgewendete nicht bloß verloren, sondern schadet dem Acker. Hervorragende Landwirte, wie Schulz-Lupitz, versichern von Zeit zu Zeit, daß Deutschland weit mehr als fünfzig Millionen Bewohner mit dem erforderlichen Brotgetreide zu versorgen vermöge. Wenn wirs sehen werden, werden wirs glauben. Einstweilen wird durch übermäßige künstliche Düngung der Getreidebau sogar geschädigt und der Körnerbau zu Gunsten der Zucker- und Spiritusindustrie eingeschränkt. (Man lese die oben erwähnten Aufsätze von Dr. Rudolf Meyer in der Neuen Zeit.) Die Vorteile der »rationellen« Viehzucht werden zum Teil durch Seuchen aufgewogen, gegen die alles Absperren aus dem einfachen Grunde nichts nützt, weil sie in allen Kulturstaaten endemisch sind. Daß ein künstlich gezüchteter und aufgemästeter Fettklumpen kein gesundes Tier sein kann und daher leicht erkranken muß, ist klar. Alpenvieh ist immer gesund, weil es naturgemäß lebt. Die Natur läßt sich nur so weit beherrschen, als man sich ihren Gesetzen fügt und anschmiegt; alles Unnatürliche rächt sie. Gar kein Vorteil ist es, daß man überall mit Pflug und Spaten bis an die Flußufer vorrückt, da ja jährliche Überschwemmungen etwa die Hälfte des Ertrags wegnehmen. Ließe man die Uferstächen wieder, wie früher, als Viehweide liegen, so wäre der Ertrag sicherer.
Es ist ein weises und inhaltreiches Wort, das der Negerhäuptling Mandara in seiner merkwürdigen Unterredung mit dem Abgesandten unsers Kaisers, dem Afrikareisenden Otto Ehlers, so nebenbei fallen ließ. Er belichtete über die Reiseeindrücke, die seine Leute aus Deutschland mitgebracht hätten, und sagte u. a.: »Die Menschen laufen bei euch in großen Scharen herum, und man sieht nicht, wovon sie leben, denn alles ist Stein.« Gewiß ist es ein wunderbarer Triumph der Kultur, daß anderthalb, daß zwei, daß vier Millionen Menschen auf und zwischen Steinen leben können, Menschen, die niemals weder säen noch ernten, wie es denn schon ein Triumph der Kultur war, als zum erstenmale ein Volk den nordischen Winter ohne Hungersnot zu überstehen vermochte in einer Gegend, die weder Wild noch Fische in hinreichender Menge zur Nahrung darbot. Allein die Macht der Industrie, die jenes Wunder wirkt, hat doch auch wie alles Irdische ihre Grenzen. Sobald ein Volk mit seiner Ernährung teilweise auf das Ausland angewiesen ist, führt es kein natürliches Dasein mehr, sondern nur noch jenes künstliche, dessen Übelstände und Leiden in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt worden sind. Im Kriege befindet es sich in der Lage einer ungenügend verproviantirten Festung.
Das Malthusische Gesetz ist demnach in dem oben angegebnen Sinne als richtig anzuerkennen. Wir halten mit Roscher diese Einrichtung unsrer irdischen Welt für heilsam und notwendig, weil sie zu Anstrengungen spornt, den Kulturfortschritt fördert, und weil ohne sie das göttliche Gebot: Erfüllet die Erde! unerfüllt bleiben würde. Denn wer daheim seinen bequemen Unterhalt findet, der entschließt sich nicht leicht zur Auswanderung in unbekannte, unwirtliche Fernen, und namentlich unsre nördlichen Gegenden, die Pflegstätten des höchsten Geisteslebens, würden immer unbewohnt geblieben sein. Eben darum aber, weil das Gesetz richtig ist, muß man auch seinen Sinn beachten, und sobald der Bevölkerungszuwachs, den Gleichgewichtspunkt überschreitend, schädlich zu wirken beginnt, die Pflicht der Erweiterung des Wohnraums ins Auge fassen. Die Kolonialpolitik ist demnach einfach Erfüllung einer nationalen Pflicht und einer Pflicht der Menschlichkeit.
Noch einer sehr beliebten Einwendung haben wir vorzubeugen: Übervölkerung könne unmöglich die Ursache von Armut und Elend sein, da ja die fortschreitende Entvölkerung der östlichen Provinzen des preußischen Staates beweise, daß uns nicht Übervölkerung, sondern vielmehr das Gegenteil bedrohe. Nehme doch die Einwohnerzahl der Provinz Pommern von Jahr zu Jahr ab; statt daß die Leute aus Sachsen nach Brandenburg und Schlesien übersiedeln sollten, wanderten vielmehr alljährlich Scharen schlesischer und brandenburgischer Arbeiter nach dem dichtbevölkerten und darum reichern Sachsen, weil sie dort höhere Löhne zu erwarten hatten und besser fortzukommen gedächten. Nun, diese Entvölkerung des Ostens ist weiter nichts als die Wirkung der beginnenden Übervölkerung. Auf besserm Boden können von vornherein mehr Menschen leben als auf schlechtem. Außerdem bietet er die Möglichkeit vielfacherer Verwertung durch Züchtung seiner Handelsgewächse dar, sodaß selbst ohne die hinzukommende Industrie viele Menschen dort ihr Fortkommen finden, die ihr Getreide nicht selbst bauen, sondern es von außen beziehen. Der Weinbauer würde auf Ackerbau und Viehzucht ganz verzichten, wenn er nicht Dünger brauchte. Je dichter nun die Bevölkerung des Landes wird, desto stärker machen sich die Vorteile des guten und die Nachteile des schlechten Bodens bemerklich. Auf dem schlechten wird der Druck der Not infolge der Verkleinerung der Portionen zuerst empfunden. Hier zuerst tritt die Verschuldung der Gutsbesitzer ein. Sie können nicht so hohe Löhne zahlen, wie ihre Konkurrenten in den bessern Gegenden; das entzieht ihnen die Arbeiter. In Sachsen legt der Schnitter mit jedem Sensenschnitt vielleicht viermal soviel an Stroh und Körnern in die Schwaden, wie auf oberschlesischem oder märkischem Sandboden. Zahlt ihm der sächsische Gutsbesitzer doppelt soviel Lohn wie der oberschlesische oder märkische, so hat er den Mann immer noch doppelt so billig wie jene beiden. Und wie es in solchen Lagen zu gehen pflegt, ein Unglück gebiert das andre. Weil der Gutsbesitzer im Osten schlechten Lohn zahlt, verliert er seine Leute, und um sie zu fesseln, muß er höhere Löhne zahlen, als seine Verhältnisse gestatten. Herr von Puttkamer-Plauth hat am 7. März auf einer Versammlung von Landwirten zu Freystadt in Westpreußen geäußert: Vor zwanzig Jahren habe er noch Scharwerksmädchen gefunden, die Kürassiere hätten werden können; jetzt sei das Gesinde so elend, daß es in Schubkarren aufs Feld geschafft werden möchte. Das könne nicht eher besser werden, als bis der westpreußische Landwirt die Leute so gut halten könne, wie es die Industrie im Westen thue; wenn er – Herr von Puttkamer – Arbeiter wäre, so würde er gewiß schon längst von hier (aus Westpreußen) fort sein. Seinen Boden so gut zu machen wie den mittel- und westdeutschen, ist nicht möglich, und ihn nur in dem bisherigen Stande zu erhalten, sehr kostspielig. Denn dieser Boden bekommt ja das nicht wieder, was er getragen hat; es muß durch künstlichen Dünger ersetzt werden. In den Städten häuft sich der Dünger an, sie wissen nicht, wohin damit. Der natürliche Kreislauf, durch den der Boden imstande erhalten wird, ist gestört. Wenn es nicht gelingt, die Düngstoffe regelmäßig wieder ihrem Ursprungsorte zuzuführen, sagt ein älterer Volkswirtschaftslehrer, so muß sich dereinst die Pest aus unsern Flüssen und der Hunger aus unsern Furchen erheben. Nebenbei gesagt, nichts ist thörichter als die Gegnerschaft der liberalen Großstädter und der konservativen Großgrundbesitzer; jene müßten ohne diese verhungern, da die Kleinbauern gar kein Getreide verkaufen und die größeren höchstens die Kleinstädte versorgen, die Großgrundbesitzer aber müßten ohne jene ihren Roggen und Weizen verfaulen lassen. Großstädte und Latifundien bedingen sich gegenseitig; je mehr die einen wachsen, desto nötiger werden die andern Endlich kommt hinzu, daß die geographische Lage und Gestalt des Landes im Westen die Industrie und damit den Menschenzusammenstuß begünstigt, im Osten beides hemmt. Das östlich gelegene Berlin freilich hat den toten Punkt überwunden, seitdem es, durch politische Verhältnisse begünstigt, Millionenstadt geworden ist, und wächst nun rapid weiter. Je größer das Gedränge, desto zahlreicher und mannichfaltiger die Gelegenheiten zum Erwerb, freilich auch desto größer die Gefahr, erdrückt zu werden oder über Bord zu fallen. Wo vier Millionen Menschen sitzen, sagt sich der Engländer, wenn er aus der Provinz nach London zieht, da findet man eher sein Brot als in der Einöde. Wohl; aber das Brot ist auch meistens darnach! Wie weit haben wir uns doch entfernt von jenem Zustande unsrer Vorfahren, wo die geschlossene Markgenossenschaft nichts von dem, was ihre Feldmark erzeugte, über deren Grenzen hinausließ, damit keinem der Genossen seine Nahrung entzogen oder geschmälert würde, und wo der Staatsbeamte das Ackerstück kannte, auf dem sein Brot wuchs, und den Weinstock, der ihm seinen täglichen Tischtrunk spendete! Er konnte nicht aufrechterhalten werden, dieser natürliche Zustand; in solcher Gebundenheit an den Boden hätte sich unsre höhere Kultur nicht entfalten können. Nur muß man sich nicht einbilden, daß die Menschheit jemals von ihrem Mutterboden abgelöst werden könne, und daß Daseinsunsicherheit der Mehrzahl ein Idealzustand sei.
Es ist vorzugsweise die Auswanderung von Arbeitern, was den Osten des preußischen Staates entvölkert. Bei dieser merkwürdigen und hochwichtigen Erscheinung müssen wir doch noch einen Augenblick verweilen. Niedriger Lohn ist nicht das einzige, was den Arbeiter forttreibt. Die Wurzel des Übels liegt darin, daß er überhaupt geworden ist, was er jetzt ist. Noch vor fünfzig Jahren war er ein robotpflichtiger Ackerhäusler, heute ist er infolge des weiter oben beschriebnen Prozesses ein besitzloser Proletarier geworden. Was in aller Welt sollte den hindern oder abhalten, dahin zu rennen, wo man ihm einen Groschen Lohn mehr bietet? Etwa die Liebe zum Gutsherrn? Aber wir habens ja oben aus dem Munde eines pommerschen Rittergutsbesitzers vernommen, daß es der dortige Tagelöhner und Knecht auf dem Gute schlechter hat als im Zuchthause; wo sollen da Liebe und Anhänglichkeit herkommen? Nur Prügel könnten noch helfen, meint der Herr; allein nach gesetzlicher Einführung der Prügeldisziplin – ungesetzlich wird sie ja ohnehin geübt – würden die Herren keine andre Erfahrung machen als im vorigen Jahrhundert die Gutsherren der baltischen Provinzen: das Fortlaufen wurde mit grausamen Hieben bestraft, aber je mehr die Herren prügelten, desto mehr liefen die Knechte, wie man aus dem Buche: »Gutsherr und Bauer in Livland« von Transehe-Roseneck ersieht. Und wie könnte es auch anders sein! Der Mensch ist nun einmal so geartet, daß er den Prügeln nicht nachläuft, sondern vor ihnen davonläuft; nur bei Liebesleuten kommt mitunter der entgegengesetzte Geschmack vor. Der kapitalistische Großbetrieb, der nur noch die Rücksicht auf möglichst hohen Geldertrag und sonst nichts weiter vor Augen hat, macht eben die landwirtschaftliche Arbeit so widerwärtig und ungemütlich wie die Fabrik- und Grubenarbeit, macht sie zur reinen Sklavenarbeit, In wahrhaft klassischer Weise tritt die Brutalität der modernen Auffassung hervor in der Tagesordnung, die der landwirtschaftliche Zentralverein Schlesiens am 27. Februar dieses Jahres zu erledigen hatte. Na beantragt der Verein Grünberg, oder vielmehr in seinem Namen der Freiherr von Knobelsdorff eine Vorstellung bei der ohnehin, wie bekannt, mehr als sparsamen Eisenbahnverwaltung, sie solle »die Lohnsätze und [die] Arbeitszeit der Arbeiter an den Eisenbahnen und öffentlichen Strömen den örtlichen Verhältnissen angemessen regeln,« d. h. also nicht mehr Tagelohn zahlen als die Rittergutsbesitzer und von früh um vier Nach den Erfahrungen, die der Kreisphysikus Dr. Richter im Kreise Groß-Wartenberg (Regierungsbezirk Breslau, rechte Oderseite) gemacht und voriges Jahr in der »Zeitschrift für Medizinalbeamte« veröffentlicht hat, dauert dort im Hochsommer die Arbeit mitunter sogar von morgens drei bis abends neun Uhr, mit zweistündiger Mittagspause. bis abends um neun Uhr arbeiten lassen. Zur Begründung wird gesagt: »Es ist bekannt, daß die Tagelöhne an den Eisenbahnen und öffentlichen Strömen sehr viel höher sind, als die Landwirtschaft sie zu zahlen imstande ist, während die Leistungen infolge der nicht genügenden Kontrolle bei jenen Arbeitern geringer sind, als die der landwirtschaftlichen Arbeiter, sodaß als natürliche Folge davon der Landwirtschaft die Arbeiter entzogen werden.« Diesem frommen Wunsche schließt sich auch der Verein Sagan-Sprottau an; die Eisenbahnverwaltung soll Schritte thun, »damit dem unliebsamen Beispiel, das durch die wenig angestrengte Arbeit der Streckenarbeiter unsern landwirtschaftlichen Arbeitern oft gegeben wird, nach Möglichkeit gesteuert werde.« Also nur ja hinter jeden Streckenarbeiter einen Aufseher stellen! Wir machen unsern Arbeitern das Leben sauer, so bekennen diese Herren ganz naiv, da müssen auch alle »Arbeitgeber« in unsrer Nachbarschaft ihren Leuten das Leben möglichst sauer machen, damit die unsern nicht etwa auf den Gedanken kommen, an einen Ort zu flüchten, wo sie es besser haben! Keine Spur von Erinnerung mehr daran, daß diese Arbeiter Menschen sind, denen der Schöpfer so gut die Erde, ihre Früchte und ihre Herrlichkeit geschenkt hat, wie den Herren Rittergutsbesitzern! Höchst bezeichnend ist auch folgende Anekdote, die Quistorp (Evangelisch-soziale Zeitfragen I. Reihe, 10. Heft, S. 24) erzählt: Ein Gutsbesitzer sprach von seiner großen Äpfelernte, und daß er, weil sich bei dem billigen Preise das Pflücken kaum lohne, die Äpfel körbeweise den Schweinen vorwerfen lasse. Quistorp fragte, ob er nicht auch jeder Tagelöhnerfamilie einen Korb voll geschenkt habe? Der Herr aber rief: »Na, das sollte auch noch fehlen, die Leute so zu verwöhnen!« Die Äpfel läßt meiner Ansicht nach unser Herrgott für die wachsen, die sie am höchsten schätzen und denen sie am zuträglichsten sind, für die Kinder, die armen wie die reichen. Wer den Kindern die ihnen zukommenden Äpfel nimmt und sie den Schweinen vorwirft, der ist in meinen Augen ein ganz gemeiner Dieb und Räuber, mag ihm der Staat zehnmal das unbeschränkte Verfügungsrecht über seine Äpfel garantiren. Keine Spur von Erinnerung mehr daran, daß nach christlicher Auffassung der Grundherr nur Verwalter und Ausspender der irdischen Güter für seine Untergebnen ist! Der Arbeiter ist nichts als ein Arbeitswerkzeug, und zwar eins, das man nicht einmal zu kaufen braucht, sondern das, vom Hunger gepeitscht, von selbst zuläuft; er ist nichts als ein umsonst zu habendes Arbeitsvieh, aus dem man, eben weil es nicht gekauft zu werden braucht, weit rücksichtsloser als aus einem Gaul oder Ochsen so viel Arbeit als möglich herauspreßt!
Schlechter Lohn, schlechte Wohnung, schlechte Behandlung und übermäßig lange Arbeit unter strenger Aufsicht, das sollte, meine ich, genügen, um den Zug nach dem Westen und vom Lande in die Stadt zu erklären. Und doch ist damit die Reihe der Ursachen, die den von der Scholle gelösten und zum Proletarier herabgewürdigten Landmann aus seiner Heimat forttreiben, bei weitem noch nicht erschöpft. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beobachte ich mit steigender Verwunderung, wie geflissentlich man in gewissen Gegenden unsers Vaterlandes bemüht ist, den Landleuten, und namentlich den ländlichen Arbeitern, die Heimat zu verleiden durch allerlei Polizeivorschriften und Maßregeln, die mehr Dienst- und Pflichteifer als Menschenkenntnis und Weisheit verraten. Ja wenn es sich um Zustände handelte, wie die im Jahrgang 1890 Nr. 13 der Grenzboten geschilderten des Vogelsberges! Aber davon ist keine Rede. Es handelt sich um ganz harmlose Dinge, um die Kirmeßfeier, den Sonntagstanz und ähnliches. Man hört denn auch oft genug die Klage, daß es »Genußsucht, Vergnügungssucht und das Verlangen nach Ungebundenheit und Zügellosigkeit« sei, was die Leute forttreibt. Ja du lieber Himmel! Sein bißchen Vergnügen will halt jeder Mensch haben, und was sich der ländliche Arbeiter, der im Sommer Wochentags von früh um vier bis abends neun Uhr schanzt, des Sonntags teils für fünfzig Pfennige, teils kostenlos erschaffen kann, ist nicht übermäßig viel. Will man, daß er dem entsage, so muß man ihm entweder die Mönchsgelübde abnehmen oder ihn an die Kette legen. Ohne Gelöbnis und unangebunden bleibt kein gesunder Mensch auf die Dauer an einem Orte, wo ihm verwehrt wird, sich auf seine Weise zu vergnügen. Auf seine Weise, das versteht sich von selbst. Mutet man den Pferdeknechten und Stallmägden zu, sich ihre freie Zeit etwa mit Goldschnittlitteratur zu vertreiben, so müssen die Herrschaften ihre Glaceehandschuhe ausziehen und selber Mist laden, Kartoffeln und Steine klauben; fein gewordne Knechte und Mägde thun das nicht mehr. Der Verfeinerungsprozeß macht so hübsche Fortschritte, daß die Eiferer für Volksbildung ihre helle Freude daran haben müssen. Der Stallmagd wird beigebracht, daß ihr hergebrachtes für die Arbeit in der Mistpfütze allein geeignetes Kostüm, bestehend aus Hemd, kurzem dünnem Kittel und sonst nichts, unanständig sei. Sie legt Beinkleider und lange Röcke an. Das ist unbequem und kostet Geld. Dadurch wird ihr der ohnehin schwere Dienst noch lästiger. Bald findet sie, daß auch die meisten ihrer Verrichtungen an sich schon unanständig seien. Im nächsten Städtchen sitzt ein Menschenfreund, der – natürlich nur aus reiner Nächstenliebe – der armen Bevölkerung der Umgegend mit einer neuen Industrie unter die Arme greift. Er läßt filiren, häkeln, Wollfäden knüpfen. Bald sitzen in den benachbarten Dörfern alle Kinder, sitzen und knüpfen, knüpfen von früh bis in die Nacht, knüpfen sich lahm, bucklig, blind und blödsinnig. Auch unsre Kuhmagd greift zur Filetnadel, die sich ja bedeutend leichter handhabt als die Mistgabel. Sie ist nun eine Dame, ein Fräulein, sie stolzirt Sonntags in Kleidern herum, die nach der neuesten Pariser Mode zugeschnitten sind, und siedelt sie in die Stadt über, so kann sie überdies jeden Sonntag zum Tanze gehen. Nach ein paar Jahren verduftet der Wohlthäter der Menschheit, nachdem er einigen tausend jungen Landleuten das Mark aus den Knochen gesogen und zu Gelde gemacht hat. Nun versuchts unsre Kuhmagd wieder mit Sichel und Düngergabel. Allein es geht nicht mehr; bei ihrer Tändelarbeit und bei kraftloser Nahrung hat sie ihre Muskelkraft und Gliedergelenkigkeit eingebüßt. So wird von unserm kräftigen Volke eine Schicht nach der andern verfeinert und verkrüppelt.
Aber kehren wir noch einmal zu dem Thema von der »Genußsucht« und »Vergnügungssucht« zurück. Wenn in unsrer Zeit, wo aller Gemeinbesitz, alle öffentlichen Spenden und alle Volksbelustigungen auf öffentliche Kosten aufgehört haben und wo nichts mehr umsonst zu haben ist, wo sogar Wasser, reine Luft und Sonnenlicht Geld kosten, die zuletzt genannten beiden Güter sogar viel Geld, unerschwinglich viel schon für Leute von mittlerm Einkommen – wenn in solcher Zeit die Millionäre gegen die Genußsucht der Leute mit weniger als neunhundert Mark predigen, so ist eine ernsthafte Besprechung dieser Heuchlerposse, die nur in der Sprache des Aristophanes, Rabelais oder Luther gebührend gegeißelt werden könnte, eigentlich ein Skandal. Indeß da der Staatsanwalt die gepfefferte Tunke der alten Satire nun einmal nicht zuläßt, so bleibt uns nichts übrig, als unsre Ansicht darüber in der Wassersuppe philisterhaft ernster Erwägungen vorzutragen. Dem Manne von mittlerm oder höherm Einkommen wird, wenn er nicht krank oder ein hypochondrischer Narr ist, das ganze Leben zu einem fortwährenden Genuß. Er übt eine Berufsarbeit, die innerlich befriedigt und keinerlei leibliche Pein verursacht. Jedes seiner Familienmahle, die aus wohlschmeckenden Speisen und Getränken bestehen und wobei er sich behaglich Zeit nimmt, sich in anregenden Gesprächen ergeht und an den blühenden, freundlichen Gesichtern seiner Frau und seiner Kinder erfreut, ist ein kleines gemütliches Fest – macht 365, oder wenn alle drei Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden, dreimal 365 Feste im Jahre. Für seine Erholungszeit stehen ihm seine schön ausgestatteten Zimmer, eine Bibliothek, Musikinstrumente, ein Garten, ein Freundeskreis zur Verfügung, vom Keller und sonstigem mehr materiellen Zubehör nicht zu reden, wovon er Gebrauch machen kann, so oft es ihm beliebt. Die Nachtruhe endlich im schneeweißen bequemen Bett und das Ausschlafen sind wieder tägliche Genüsse besondrer Art. Ein solcher Mann braucht offenbar gar keine besondre Erholung, kein außerordentliches Vergnügen, wofern nicht etwa sehr anstrengende Arbeit eine längere Unterbrechung und einen Ortswechsel notwendig oder wünschenswert macht. Trotzdem soll es in diesen Kreisen zuweilen vorkommen, daß man Bälle, Diners und Soupers, Konzerte und Theateraufführungen giebt und besucht, wobei gewisser Vergnügungen, die ein Teil der Herrenwelt unter Ausschluß der Mütter und Gattinnen pflegt, gar noch nicht gedacht werden soll. Bei den meisten der Menschen, die unter neunhundert Mark jährlich einnehmen, beim sogenannten arbeitenden Volke, ist das tägliche Leben in allen Stücken das Gegenteil von genußreich, wie wir nach dem in den frühern Kapiteln gesagten, nicht noch besonders zu beschreiben brauchen; nur das eine mag hier noch angemerkt werden, daß die Arbeiter mancher Fabriken auch bei zwanzig Grad Kälte ihr Mittagsbrot im Fabrikhofe, unter offnem Himmel verzehren müssen. Die alberne Phrase, die Leute seien das ja gewöhnt, hat weder Sinn noch Berechtigung. Eine Magd, die bei zwanzig Grad Kälte auf dem Flur wäscht, fühlt den beißenden Schmerz in ihren aufgesprungenen Händen, ein Töpfer, der im eisigen Zuge arbeitet, das Reißen in Zähnen und Beinen, eine Fabrikarbeiterin das Jucken, das der Staub der Wergputzen in Augen, Nase und Kehle verursacht, ein Bäckerjunge die Pein des unbefriedigten Schlafbedürfnisses gerade so gut wie jeder andre Mensch, und wenn Unlustempfindungen, die einem Verwöhnten unerträglich vorkommen würden, dem Armen durch Gewohnheit einigermaßen erträglich werden, so wird doch dadurch die Unlust so wenig in Lust verwandelt, wie die Krankheitspein durch christliche Geduld in das Wohlgefühl der Gesundheit.
Je mehr nun der Genuß, den die Menschennatur fordert, dem Armen für gewöhnlich versagt ist, desto heißer verlangt er natürlich darnach, denn das Verlangen steigt und sinkt notwendig im umgekehrten Verhältnis mit der Befriedigung. Daß die Menschennatur den Genuß verlangt, gebieterisch verlangt, daß die gänzliche Entziehung des Genusses jeden, der nicht zu stumpfsinnig dazu ist, zum Selbstmord treibt, muß man den herrschenden Klassen gehörig klar machen und den Nebeldunst heuchlerischer Redensarten, womit diese Thatsache verdunkelt zu werden pflegt, zerstreuen. Kein Mensch macht davon eine Ausnahme, auch der katholische Asket und der Puritaner nicht. Denn der Asket träumt, während er sich geißelt oder verschimmeltes Brot kaut oder schlaflos auf harter Pritsche wälzt, von der Himmelswonne, die, er sich durch seine Abtötung zu erkaufen gedenkt. Der Puritaner aber vergnügt sich auf seine Weise, die eben nicht jedermanns Weise ist, mit Bibellesen, Psalmensingen und dem Anhören stundenlanger Predigten, und wehe dem »Tyrannen« der ihm die dazu erforderliche Zeit, den »Sabbath« und den täglichen Feierabend rauben wollte! Er würde so wenig Federlesens mit ihm machen, wie er mit »abgöttischen« Königen und Obrigkeiten gemacht hat; denn in dem stolzen Bewußtsein seiner Auserwählung, worin zu schwelgen sein Hauptgenuß ist, hält er sich für berufen zum Richter über die gottlose Welt und zum Vollstrecker der göttlichen Urteile. Die Herren Unternehmer sollen nur Gott auf den Knien dafür danken, wenn der deutsche Arbeiter hie und da noch an einem Schnapsdusel Vergnügen findet, anstatt ein grübelnder Temperenzler und Puritaner zu werden, der als Soldat ganz kaltblütig erwägen würde, wohin er nach dem Willen Gottes seine Muskete zu richten habe. Die Sozialdemokraten, die Kautsky und Bebel studieren anstatt zu kneipen und zu raufen, sind erst halb so schlimm wie Puritaner; es fehlt ihnen die Energie und Sicherheit des vollendeten Fanatismus. Unsre »Ethiker« endlich, die in dicken Büchern beweisen, daß der Mensch nicht lebe, um zu genießen, sondern um seine Pflicht zu erfüllen, sind allesamt Professoren, die das oben beschriebne genußreiche Leben führen, und würden einen Heidenlärm machen, wenn der Staat ihren Gehalt auf sechshundert Mark herabsetzen und ihnen Gelegenheit geben wollte zu beweisen, daß sie auf Erden nichts suchen und nichts wollen als entsagende Pflichterfüllung. Freilich ist und bleibt die Pflichterfüllung das höchste, aber nur weil sie selber befriedigt. Die liebende Mutter will sich für ihr Kind opfern, und würde sie daran gehindert, so würde sie das für das höchste Martyrium ansehn. Und so opfert sich auch die Arbeiterfrau für ihr Kind, aber daß sie verpflichtet sein soll, sich für den Gutsbesitzer oder Fabrikherrn zu opfern, um diesen zu bereichern und ihm ein üppiges Leben zu bereiten, das leuchtet ihr nicht ein, und so sind ihre Anstrengungen und Entbehrungen nicht ein innerlich beglückendes Opfer, sondern eine aufgezwungne Pein.
Je weniger Befriedigung also das tägliche Leben dem Arbeiter bietet, desto heißer sehnt er sich nach Genüssen, die außerhalb seines gewöhnlichen Tagewerks und seiner Mahlzeiten liegen. In alten und mittlern Zeiten war für solche gesorgt. Nicht bloß in Rom, sondern in allen größern Städten des römischen Reichs gab es öffentliche Amphitheater, Bäder und Gärten, von deren ungeheurer Größe, künstlerisch wertvoller Pracht und bequemer Einrichtung noch die Ruinen Zeugnis geben, und die auch dem armen Bürger und dem Sklaven offen standen. Nicht bloß Feierabende, sondern Tage wurden dort verbummelt und verjubelt. Im Mittelalter waren die Kirche (wo bekanntlich auch Theater gespielt wurde), der Zunftpalast, öffentliche Loggien die Stätten der Erholung und des Vergnügens fürs Volk – den Kranken und Altersschwachen richtete man wahre Paläste ein – und auf dem Lande war jede Waldwiese und der Platz um die Dorflinde der Tummelplatz einer Volksfreude, die sich keineswegs in den Grenzen streng abgezirkelter Anstandsvorschriften hielt; wenigstens mahnt Walther von der Vogelweide die Herren und Damen, zu singen und zu springen »âne Dörperheit.« Noch im Anfange unsers Jahrhunderts fehlte es trotz allem, was das Volk an Freiheitsbeschränkungen und Verlust von Gemeinbesitz schon erduldet hatte, nicht an volkstümlicher Lust. Die großen Gutswirtschaften waren noch nicht ausgebildet; jeder Landmann bewohnte noch sein eignes Häuschen. Im Winter war jede Spinnstube ein Gesellschaftssaal gemütlicher Erholung und schalkhafter Lustigkeit, im Sommer durften sich Burschen und Mädchen noch auf dem Rasen drehen. In der kleinen Stadt saßen des Abends die Nachbarn vor den Hausthüren plaudernd beisammen, Burschen und Mädchen zogen Arm in Arm singend oder die Ziehharmonika spielend durch die Straßen, der Marktplatz war Spiel- und Tummelplatz der Jugend, und draußen standen Hain und Flur und Fluß und Weiher jedermann zur Verfügung; sogar Wiesen – man denke! mit kostbarem Grase bewachsene Wiesen – gab es noch, auf denen sich die Kinder herumwälzen und Blumen pflücken durften. Zog eine mit buntem Flitterstaate herausgeputzte Kunstreiterbande durch die Straßen, oder erschien das beliebte Trio: Bär, Kamel und Affe, dann standen ein paar Stunden lang alle Werkstätten leer, und den Gipfel des improvisierten Festes bildete der Augenblick, wo ein Gassenjunge herangerufen wurde, um sich vom Affen lausen zu lassen. Und nun die Kirmeß auf dem Dorfe, das Schweinschlachten im Hause! Vier bis sechs Wochen lang zog man von Kirmeß zu Kirmeß, überall wurde gegessen, getrunken und getanzt, die armen Dorfleute, sowie arme Vettern und Gevattern aus der Stadt trugen von den Bauern Fleisch und Kuchen für ein ganzes Vierteljahr zusammen.
Das alles hat aufgehört. Der Gutsarbeiter wohnt in einer stallartigen Kaserne, aus der jede Behaglichkeit und Gemütlichkeit verbannt ist. Der große Bauer ist ein studierter Herr geworden, der nicht mehr daran denkt, nach gemeinsam vollbrachtem Tagewerk sein Gesinde um sich zu versammeln und den Abend mit den Leuten zu verplaudern. Der kleine Bauer endlich ist ein vergrämter oder neidischer armer Teufel; denn die Herren vom landwirtschaftlichen Verein haben ihm, um sich seiner Stimme bei den Wahlen zu versichern, sein Elend enthüllt und ihm klar gemacht, daß er mit samt der ganzen Landwirtschaft untergehen müsse, wenn nicht die Preise für Getreide, Fleisch, Milch und Eier mindestens aufs Doppelte stiegen. Das Spinnen hat aufgehört wie das Dreschen, und die abendlichen Versammlungen von Burschen und Mädchen sind von der Ortsobrigkeit verboten worden. An Vergnügungen im Freien, wie sie sich früher überall von selbst ergaben, wo sich ein halbes oder ganzes Dutzend junger Leute in der richtigen Laune zusammenfand, ist nicht mehr zu denken. Auf der Straße oder dem freien Platze darf weder gestanden noch gesessen oder gar getanzt werden, sondern alles muß fein ehrbar einherschreiten oder sie geschäftig durcheilen. Wo etliche Leute auf einem Haufen zusammenstehen, eilt sofort ein Polizist herbei und fragt nach der schriftlichen Erlaubnis zu einer Versammlung unter freiem Himmel. Wollten Burschen und Mädchen einmal im Freien tanzen, sie müßten erst ein Komitee wählen, um die polizeiliche Erlaubnis einkommen, kurz Zurüstungen treffen, wie zu einem wirklichen Feste; und darum verschwinden die kosten- und harmlosen täglichen Vergnügungen, die der gelegene Augenblick bringt und die den Gang der Wochenarbeit nicht stören, wie sie der Süden noch kennt, und es sind nur noch die besonders veranstalteten kostspieligen übrig geblieben, bei denen die Zurüstung das Vergnügen vorwegnimmt, steifer Zwang die Gemütlichkeit zerstört, und die in schlechter Luft durchschwärmte Nacht mehreren Tagen die Arbeitslust und Arbeitskraft raubt. Alle Kirchweihfeiern eines Kreises hat landrätliche Weisheit auf ein und dieselbe Woche verlegt, sodaß die Bewohner jedes Dorfes nur an ihrer eignen und höchstens noch an der von zwei Nachbardörfern teilnehmen können, und zu Wirtshaustänzen, der einzigen unter diesen Umständen noch möglichen Form jugendlicher Lust, wird monatlich nur einmal, in manchen Kreisen sogar nur viermal oder dreimal im Jahre die Erlaubnis gegeben. In der Großstadt – und schon unsre Mittelstädte schwellen zu Großstädten an – kommt zum Verluste der freien Plätze, Wälder und Wiesen die Beschränktheit und Ungemütlichkeit der Wohnungen, wo schon jedes Bewegungsspiel der Kinder, jedes laute Lachen die Kündigung zur Folge haben kann. Dazu der Zwang, den die moderne Kleidung auflegt, die für Bewegungsspiele nicht geeignet ist und die weder zu zerreißen noch zu beschmutzen den Kindern und jungen Leuten zur heiligsten Pflicht gemacht wird. In der Zerstörung alter Volkssitten und aller daraus entspringenden Freude und Lebenslust entwickeln manche Obrigkeiten einen Eifer, als wären sie apart dazu angestellt, Sozialdemokraten zu züchten. Voriges Jahr hat ein Amtmann Fuß für den Amtsbezirk Hilchenbach (Westfalen) folgende Verfügung erlassen: »Ich verbiete hierdurch folgende vielfach noch bestehenden Gebräuche: das Verkleiden als Nikolaus am Nikolausabende, das sogenannte Würsteaufheben, das Neujahrssingen am Sylvesterabend und Neujahr, das Ansagen oder Glückwünschen am Neujahrstage, das Peitschenknallen und sonstiges Skandalverüben vor dem Hause der Verlobten am Abend des Tages, an dem dieselben das Aufgebot beantragt haben, das Seilhalten bei der Rückkehr von der Trauung, das Schießen bei Hochzeiten und alle ähnlichen Unsitten u. s. w, und ich werde jede Zuwiderhandlung gegen dieses Verbot, sofern nicht nach andern Strafbestimmungen eine höhere Strafe verwirkt ist, nach § 360 Nr. 11 des Reichsstrafgesetzbuchs als groben Unfug mit einer Geldbuße von mindestens zehn Mark oder entsprechender Haft bestrafen.« Es versteht sich, daß nach Annahme der lex Heinze auch alle Bücher und Zeitschriften werden verboten werden, in denen von solchen Sitten erzählt und das Wohlgefallen daran erweckt wird, darunter auch die reizenden Erzählungen »Aus dänischer Zeit« von Charlotte Niese, worin es von solchen »Strafthaten« der Jugend wimmelt; denn zum Wohlgefallen am Verbotenen verführen ist doch gewiß unsittlich.
Der größern Hälfte unsers Volks ist nur noch eine einzige Art von Erholung und Vergnügen übrig geblieben: der stille Suff zu Hause oder in der Kneipe, und bei den bekannten Wohnungsverhältnissen – »häusliche« Verhältnisse giebts ja gar nicht mehr – wird natürlich die Kneipe vorgezogen. Und jede dieser zahllosen Wirtshausversammlungen wird notwendigerweise zum revolutionären Klub und würde dazu werden. wenn Marx und Engels, Lassalle und Schweitzer, Bebel und Liebknecht niemals gelebt hätten. Denn daß eine andre Empfindung als Ingrimm gegen die herrschenden Klassen, gegen die Polizei und den Staat die Herzen der Armen beseelen und in ihren Gesprächen zum Ausdruck kommen sollte, ist psychologisch unmöglich. Man verpflanze unsern preußischen Schul- Die rigorose Bestrafung der Schulversäumnisse gehört zu den schlimmsten Plagen armer Dörfler. Man hat das Kind zu Hause behalten, weil es bei zwanzig Grad Kälte für den stundenweiten Schulweg nichts anzuziehen hatte, oder weil eine kranke Mutter oder Großmutter zu pflegen war, oder damit die kleinen Kinder nicht, allein eingeschlossen, sich selbst und die Hütte anzündeten, und nun von einem Wochenlohn, der kaum auf Brot reicht, auch noch Strafe zahlen! Und zu welchem Zweck wird diese Strenge geübt? Damit die Tagelöhnerkinder die sozialdemokratischen Zeitungen lesen lernen! und Militärdrill nach Oberbayern, wo beides bisher noch milder gehandhabt wurde, man führe die norddeutsche Gutswirtschaft dort ein, man verpflanze unsre übellaunige Honoratiorengesellschaft hinauf, die bei jedem Luftsprung und jedem Juchzer eines fröhlichen Burschen den Bau der Gesellschaft wanken sieht, vor allem aber unsre hochweise Polizei – und binnen zwanzig Jahren werden diese kernhaften, harmlos fröhlichen und tüchtigen Menschen, die echtesten Deutschen neben den Niedersachsen teils in erbärmliche Waschlappen, teils in bösartige revolutionäre Fanatiker verwandelt sein!
Aber damit noch nicht genug der obrigkeitlichen Weisheit! Nicht bloß das dürftige bißchen weltliche Lust nimmt man dem Armen, sondern auch seine religiösen Feste, Prozessionen und dergleichen, ja – die Religion selbst hat man ihm zu nehmen versucht! Denn nichts Geringeres war der Kulturkampf, als ein Versuch, die katholische Kirche in Deutschland zu zerstören, und wenn das gelungen wäre, so würden die Katholiken, wie jeder weiß, nicht gläubige evangelische Christen, sondern Atheisten geworden sein. Einstweilen sind Unzählige von ihnen erbitterte Feinde des Staates geworden, woran auch die jetzige Regierungsfreundlichkeit der diplomatischen Führer der katholischen Partei nichts ändert. Mir sind Fälle bekannt, wo Bauern ihr Gut verkauft haben und fortgezogen sind, weil der katholische Gottesdienst im Dorfe aufgehört hatte. In einem Orte der Provinz Posen, ich glaube in Kosten, sind die Leichen wochenlang unbeerdigt geblieben, weil der »Staatspfarrer« das Kirchhofthor geschlossen hatte und niemanden hineinließ, der sich nicht von ihm die Erlaubnis erbat, was zu thun die Leute sich als gläubige Katholiken weigerten. So etwas vergessen Kinder und Kindeskinder nicht! Haben doch die Protestanten die von ihren Vorvätern vor ein paar hundert Jahren in katholischen Ländern erduldeten Verfolgungen bis auf den heutigen Tag noch nicht vergessen!
Und um das Maß dieser Staatsweisheit voll zu machen, hat man zuguterletzt den preußischen Unterthanen polnischer Nationalität den Gebrauch ihrer eignen Sprache verboten und zwingt man ihren Kindern einen Unterricht auf, bei dem Lehrer und Kinder einander gar nicht verstehen, der also gar kein Unterricht, sondern eine fruchtlose Quälerei ist. Die angeblichen politischen und nationalen Beweggründe zu dieser Maßregel lasse ich aus dem Spiele, Aber was ich dabei empfinde, beschreibe ich, weil ich weiß, daß meine Empfindungsweise der des Volks näher steht als die der Bureaukraten und der nationalliberalen Honoratioren. Ich bin kein Polenfreund. Mir ist alle polnische Wirtschaft so zuwider, daß ich das Polnische grundsätzlich nicht habe lernen mögen, obwohl ich dazu dringende Veranlassung hatte. Ich bin auch nicht sentimental. Hat ein Pole, Pfaff oder Laie, Verrat gesponnen, so knüpfe man ihn ohne prozessualische Weitläufigkeiten auf; und hats eine ganze Stadt gethan, so füsilire man die Bewohner und mache den Ort dem Erdboden gleich; mir wirds keine Stunde Schlaf rauben, und dem zusammengebrochen Rechtsstaate, der ohnehin nur in der Einbildung seiner Verehrer bestanden hat, werde ich keine Thräne nachweinen. Aber wenn ich denken muß, daß ein paar hunderttausend Kinder acht Jahre hindurch dieser unerhörten, sinn-, zweck- und nutzlosen Quälerei unterworfen werden, dann fühle ich, mit Mallinckrodt zu reden, das Knirschen des ganzen innern Menschen, und würde es empfinden, möchten diese Kinder deutsche, Franzosen- oder Türkenkinder sein. Die glänzenden Prüfungserfolge, die man dem Kultusminister Bosse vorgemacht hat, sind selbstverständlich eitel Spiegelfechterei gewesen; wie so etwas gemacht wird, weiß ich als alter Praktikus aus eigner Erfahrung. Schulbureaukraten scheinen auf die Maßregel hineingefallen zu sein, weil die polnischen Kinder bei dem frühern utraquistischen Unterrichte »das Klassenziel« im Deutschen natürlicherweise nicht erreichten. Als ob das notwendig, als ob das wichtig wäre! Als ob das irgend jemandem schadete außer vielleicht diesen Kindern selbst! Als ob das irgend jemanden etwas anginge als diese Kinder und ihre Eltern! Als ob man übrigens nicht mit der mangelhaftesten Orthographie ein Friedrich der Große, ein Blücher und sogar ein Pestalozzi werden und mit aller Schulgelehrsamkeit ein Schafkopf bleiben könnte! Als ob nicht vor Falls Zeiten alle deutschen Pädagogen ohne Ausnahme den für einen Narren erklärt haben würden, der vorgeschlagen hätte, irgend welchen Kindern irgend welchen Landes den ersten Unterricht in irgend einer andern als ihrer Muttersprache zu erteilen! Selbstverständlich empfinden alle diese Kinder und ihre Eltern das Knirschen des innern Menschen ob dieser in der Weltgeschichte beispiellosen Zwangsmaßregel in höherm Grade als ich, der Fernstehende. Während früher Pommern die stärkste Auswandrerziffer hatte, haben ihm seit 1885 Posen und Westpreußen – selbstverständlich! – den Rang abgelaufen.
Vaterlandsliebe ist für den gemeinen Mann nur möglich in der Form der Heimatliebe. Heimatliebe aber kann nur dort entstehen, wo die Menschen erstens einen eignen festen Herd haben, wo sie zweitens eine Beschäftigung und Arbeitsweise, eine Sprache, eine Tracht, Gebräuche, Freuden und Vergnügen haben, die sie anderwärts nicht finden, und wo sie drittens diesen ihren väterlichen Sitten ungestört nachleben dürfen. Besitzt der Mensch in keiner Form mehr ein Stück seines Vaterlandes, weder unmittelbar noch vermittelst einer Hypothek, einer Staatsbesoldung, einer Rente, so hat er auch kein Vaterland mehr: das Land andrer ist nicht sein Vaterland! Findet er überall im großen weiten Reiche dieselbe Sprache, dieselbe Mode, dieselbe Sittenlosigkeit (das Wort hier nur in dem Sinne genommen, daß es keine Sitte mehr, sondern nur noch Mode und obrigkeitlich vorgeschriebenes Verhalten giebt) dieselbe Plackerei, dieselbe Polizeiaufsicht, dieselbe Freudlosigkeit, dann giebt es nichts mehr – außer etwa für die gemütvollern den landschaftlichen Charakter seines Geburtsorts – was ihn an seinen Geburtsort fesseln könnte. Er hat keine Heimat. Es läßt sich schlechterdings kein Grund denken, der ihn bestimmen könnte, den einen Ort dem andern vorzuziehen, als daß jener ein paar Groschen mehr Lohn, etwas mehr Freiheit und etwas weniger Plackerei bietet. Deshalb zieht er gewöhnlich die große Stadt vor, wo wenigstens die ersten beiden Vorteile winken. Dazu noch die Aussicht auf gewisse Genüsse, die dort leichter zu erlangen sind als in der kleinen Stadt oder auf dem Dorfe. Denn genußsüchtig ist der Arbeiter allerdings, allein diese Genußsucht begründet keinen Tadel, weil sie aus der Menschennatur hervorgeht und unaustilgbar ist. Je beharrlicher der Menschennatur versagt wird, was sie fordert, desto stärker wird die Sehnsucht darnach, bis sie zur krankhaften Gier ausartet; je mehr daher ein Mensch des Genusses beraubt ist, desto genußsüchtiger muß er in diesem Sinne des Wortes sein, wofern er kein Heiliger ist.
Wenn wohlthätige Vereine und menschenfreundliche Fabrikbesitzer den Arbeitern Stätten anständiger Erholung bereiten, so ist das sehr löblich, nur muß man sich nicht einbilden, daß diese von außen dargebotenen Genüsse, auch wenn sie allgemein werden sollten, jemals das urwüchsige Vergnügen ersetzen werden, das sich der gemeine Mann ehedem nach eignem Geschmack und eigner Erfindung bereitete. Dazu kommt, daß der Arbeiter die Absicht spürt und diese ihn verstimmt. Gerade die alleredelste Absicht, die, ihn »erziehen« und bessern zu wollen, verstimmt ihn am meisten, Tenn er, der »freie Reichsbürger,« der seine Schule durchgemacht hat und täglich seine Zeitung liest, fühlt sich um so mehr beleidigt, wenn man ihn erziehen will, als er überzeugt ist, daß, wofern überhaupt von Erziehung Erwachsener die Rede sein kann, die höhern Stände der Erziehung in höherm Maße bedürfen als er.
Und nun endlich der Militärdienst! Man verlacht – und zwar mit Recht – jene Utopisten, zu denen auch Bebel gehört, die sich einbilden, jeder Mensch sei zu allem befähigt, und es sei Kleinigkeit für ihn, die Beschäftigung zu wechseln. Solche Elastizität und Vielseitigkeit ist selten; und je tüchtiger ein Mensch ist, desto einseitiger ist er gewöhnlich. Nicht so weit geht die Einseitigkeit, daß sie den Übergang von einem Handwerk ins andre oder von einem Studium zum andern unmöglich machte; aber ein Berufswechsel, bei dem die ganze Lebensweise geändert werden muß, fällt immer schwer und ist immer bedenklich. Der Soldatenberuf ist nun ein eigentümlicher Beruf wie jeder andre, und es giebt wenig Menschen, denen es gegeben wäre, ein vollkommner Soldat und zugleich ein vollkommner Schulmeister oder Gelehrter oder Schneider oder Uhrmacher zu sein. Das Soldatenleben ist grundverschieden von dem Leben der genannten Berufsstände. Drei Jahre Soldatenleben meiden also sehr viele junge Männer für ihren bürgerlichen Beruf verderben oder ihnen diesen wenigstens verleiden. Dazu kommt die Erwägung, daß es schwierig für sie ist, gleich nach Ablauf ihrer Dienstzeit wieder Arbeit zu finden, und daß sich dieselbe Schwierigkeit nach jeder Einberufung wiederholt. Dazu kommt ferner, daß in der Stadt jeden Sonntag getanzt werden darf, auf dem Dorfe höchstens aller vier Wochen, dazu kommt endlich, daß der Bursch in der Stadt Leute seines Standes vor Augen hat, die es leichter haben und weit angenehmer leben, als ein ländlicher Tagelöhner: Bediente, Laufburschen, Hausknechte, die später eine Kneipe kaufen oder pachten, Inhaber einer jener zahlreichen, erst in neuerer Zeit geschaffenen Aufseher- und Aufpasserposten, deren Berufsarbeit nichts ist als ein geschäftiger Müssiggang, wenig angestrengte Schreiber und dergleichen Leute mehr. Der Bauer Strepsiades in des Aristophanes Wolken verwünscht seine vornehme städtische Frau, die ihn aus seinen ländlichen Gewohnheiten herausgerissen hat, wo er sich so wohl fühlte; »so recht im Speck und Dr–.« Weit schlimmer als diesem attischen Bauer die seine Gattin aus des Megakles Haus, haben unserm deutschen Bauer die Industrie, die »rationelle« Landwirtschaft, die »hohe« Politik, die Polizei und der Militärdienst mitgespielt.
Nach alledem ist weder die Entvölkerung des Ostens noch im besondern die Flucht der ärmern Landleute vom Lande in die Großstadt ein Wunder; vielmehr muß man sich darüber wundern, daß den Rittergutsbesitzern nicht schon ihre sämtlichen Leute fortgelaufen sind. Das Zusammenströmen der Bewohner eines übervölkerten Landes in den am dichtesten bevölkerten Gegenden und Ortschaften ist daher kein Beweis gegen, sondern vielmehr für die Schäden der Übervölkerung, die auf die oben beschriebne Weise unter andern krankhaften Zuständen auch einen falschen Blutumlauf erzeugt. Bei natürlichem und gesundem Blutumlauf strömt die Auswanderung nicht aus den dünn- in die dichtbevölkerten, sondern umgekehrt aus den dicht- in die dünnbevölkerten Gegenden; noch immer hat jedes gesunde Volk Kolonisten ausgesandt.
Etwas mehr Berechtigung hätte der Einwand, daß doch auch bei uns noch nicht alles Land urbar gemacht und das urbar gemachte noch nicht im höchsten Grade ausgenutzt sei. Und in der That, wenn es sich bloß um die leibliche Ernährung handelte, die könnte vielleicht selbst für hundert Millionen Bewohner noch ohne Beihilfe des Auslandes bestritten werden. Noch sind nicht alle Moore trocken gelegt, nicht alle Berge bis auf den Gipfel gepflügt; noch gestatten wir uns hie und da die Raumverschwendung natürlich geschlängelter Flußläufe mit regellos verstreutem Ufergebüsch, in dem gefiederte und ungefiederte Paare Versteckens spielen können; noch sieht man werdende Kühe und spielende Kinder das kostbare Gras zertreten; noch dulden wir den Luxus beblümter Wiesen, während steife Futtergräser zwar keine bunten Blüten tragen, dafür aber, wie die Ackerbauchemie lehrt, mehr Nährstoff enthalten; noch giebt es Wälder bei uns, und noch lassen wir mit unverzeihlichem Leichtsinn so manchen Spaziergänger ungestraft, der ein Waldblümchen pflückt, und manches arme alte Weib und manches Kind, die Pilze und Beeren herausholen und so die ökonomisch allein zulässige »bestmöglichste« Verwertung der Waldprodukte beeinträchtigen. Ja wir haben noch nicht einmal den Hirsch, das Reh und den Hasen ganz ausgerottet, die des Bauern Saat abfressen, da wir doch den Abgang des Wildfleisches sehr gut durch die dem Chinesen so teuern Rattenbraten und Ungezieferragouts ersetzen könnten; wir nutzen das Land noch nicht gartenmäßig aus. Noch gestatten wir uns den Luxus der Rindviehzucht, und sogar das Kind des Armen darf noch zuweilen eine Tasse Milch trinken, während der sparsame Chinese diesen Luxusartikel nur für den anspruchsvollen Europäer auf dem Markte feil hält, aber nicht etwa Kuhmilch, sondern – Frauenmilch! (Roschers System der Volkswirtschaft Band II, S. 101.) Wir sind, kurz gesagt, immer noch heillose Verschwender, Allein es ist nicht gut bestellt um einen Haushalt, der seine letzten Reserven angegriffen hat, und dann – wir können die Natur nicht entbehren. Wer sich niemals auf freier Bergeshöhe oder im weiten Brachfeldergehen und tummeln, das Treiben der Tiere und den Gesang der Vögel im Walde belauschen, die ungestörte Ruhe der Waldeinsamkeit genießen, dem Spiel der Wellen zusehen und es mitspielen darf, der ist kein ganzer Mensch mehr, und mit dem letzten Reste der Jagd würde der letzte Zug des ursprünglichen deutschen Volkscharakters verschwinden. Wer Lust hat, aus einem Deutschen ein Chinese zu werden, der werde es für seine Person. Dem ganzen deutschen Volke diese Entwürdigung zumuten, halte ich für das scheußlichste aller Verbrechen.