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Wolf versäumt in seinem Buche natürlich auch nicht, nach heutigem Brauch das angebliche Wachstum des Volkswohlstandes durch Zeichnungen zu veranschaulichen. Zuerst legt er die verschiednen Einkommenschichten wie Balken eines Baukastens übereinander und läßt den untersten Balken kürzer, die darauf liegenden länger werden. Dann stellt er in zwei Reihen von Pyramiden oder vielmehr Kegeln dar, wie sich die Sozialdemokraten die Entwicklung vorstellen, und wie sie seiner Ansicht nach in Wirklichkeit aussieht. Die Kegelmäntel sind nicht zusammengerollte Ebnen, sondern eingebogne Flächen, sodaß der Umriß der Anfangsfigur nicht ein ebnes, sondern ein auf zwei Seiten sphärisches Dreieck zeigt; auf der geraden Grundlinie steigen zwei nach innen gekrümmte Linien auf, die sich oben in der Spitze treffen. In der sozialdemokratischen Figurenreihe wird nun die Grundlinie immer breiter, die Seitenlinien nähern sich ihr, sodaß der untre Teil der Figur Tellerform annimmt; gleichzeitig schwillt die Spitze zum Turmknopf an, der verbindende Hals wird dünner und dünner, bis er eines schönen Tages reißt und der dicke Millionärklumpen ohne Stütze über dem breiten Teller des Elends schwebt. In der andern Figurenreihe schwillt der untre Teil an, sodaß die Biegung nach innen in die Biegung nach außen umschlägt und wir zuletzt eine Kuppel vor uns haben, aus der ein schlanker Kegel als Turmspitze ohne Knopf hervorschießt. Den Wert und die Wahrheit dieser Zeichnungen zu prüfen, können wir den Lesern überlassen. Nur ein einziges Sätzchen der Erläuterung, die Wolf seinen Zeichnungen nachschickt, wollen wir heute kritisiren. Die Gesellschaft, so deutet er seine Figuren, »ist von einer fortschrittlichen Bewegung ergriffen. Mächtig regt es sich vor allem unten, und die Armut macht der Dürftigkeit, die Dürftigkeit der Hablichkeit [hübsches Wort] Platz. Immer solider, in sich gefestigter wird der Gesellschaftsbau. Auch die mittlern Schichten gewinnen an Stärke, und wenn gleichzeitig die Spitze in die Höhe wächst, so verschlägt das nichts.« Verschlägt das nichts? Wirklich nichts? Wollen sehen!
Der Satz der Mechanik, daß die Erhöhung der Spitze den Druck vermehrt, den sie auf die tragenden Unterschichten ausübt, gilt doch wohl auch hier. Um diesen Druck zu veranschaulichen, müßten wir nun allerdings nicht einen einfachen Turmhelm zeichnen, sondern ein sehr verwickeltes System neben einander stehender, in einander eingreifender und einander überdachender Turmhelme. Eine Fabrik, deren Besitzer hohe Einnahmen erzielt und seine Arbeiter schlecht bezahlt, ist ein flacher Elendsteller, aus dessen Mitte die Spitze ohne vermittelnde Böschungslinien unmittelbar emporsteigt. Ob ihre Wucht, der Druck, den sie ausübt, durch ihre Höhe oder durch eine knopfartige Verdichtung am obern Ende ausgedrückt wird, bleibt sich gleich. Haben wir es mit einer Aktienfabrik zu thun, die hohe Dividenden abwirft, so trägt der Teller mehrere Spitzen. Der Druck des Gewichts eines Rentners, dessen Arnheim Aktien verschiedner Fabriken, Bergwerke und Eisenbahnen birgt, verteilt sich auf mehrere Teller. Ein Geldfürst endlich, der sein Vermögen der modernen Staatsschuldenpolitik verdankt, drückt auf das ganze Volk oder auf mehrere Völker.
Um uns nun die Art dieses einem Saugpumpenwerk dienenden Drucks klar zu machen, müssen wir vor allem bedenken, daß der heutige Reichtum seiner Natur nach von dem Reichtum auf andern, z. B. den mittelalterlichen Kulturstufen grundverschieden ist. Im frühen Mittelalter gab es nur eine Klasse von Reichen, die großen Grundherren. Deren Reichtum war nun aber so unlöslich mit dem Wohlbefinden des Bauernstandes verknüpft, daß einerseits der Grundherr desto reicher war, je mehr und wohlhabendere Bauern er hatte, andrerseits es dem Bauern gleichgiltig sein konnte, ob er einem kleinern oder einem größern Herrn frohnte oder zinste, die höhere Spitze also nicht schwerer drückte als die niedrigere, demnach das der Mechanik entnommne Bild hier versagt. Obwohl Religion und Politik nicht ohne Einfluß auf dieses Verhältnis waren, können sie doch unberücksichtigt bleiben, weil die Natur der damaligen Volkswirtschaft zur Erklärung ausreicht. Die einzigen Einnahmequellen des großen Herrn von damals bildeten die Erträgnisse der Grundstücke, die er selbst durch Amtleute bewirtschaften ließ, und die Naturallieferungen und Geldzinsen seiner Bauern. Um viel an solchen Lieferungen und Zinsen einzunehmen, mußte er viele leistungsfähige Bauern haben. Um eine große Ackerfläche selbst bewirtschaften zu können, mußte er eine entsprechende Menge Arbeiter haben. Das waren aber nicht Lohnarbeiter, um die er sich nicht weiter zu kümmern brauchte, wenn sie ihr Tagewerk geleistet hatten, sondern es waren seine Hörigen, die er jahraus jahrein, mochte er viel oder wenig Beschäftigung für sie haben, mochte er viel oder wenig einnehmen, nähren, kleiden, beherbergen mußte. Die Sitte gebot es ihm, und Fälle, daß sich ein Herr der herkömmlichen Pflicht zu entziehen versucht hätte, sind nicht bekannt. Übrigens zwang die Lage zur Beobachtung der Sitte. Hätte ein Herr seine Leibeignen grundsätzlich schlecht behandeln oder ihnen gar den nötigen Unterhalt versagen wollen, so würden sie ihm entlaufen sein und in den Wäldern, wo Platz genug und keine Spur von Polizei war, Räuberbanden gebildet haben. Oder sie würden, was sie denn wirklich oft genug thaten, ohne durch schlechte Behandlung veranlaßt zu sein, sich in eine der keimenden Städte geflüchtet haben, wo »die Luft frei machte.« Demnach stand der Reichtum des Herrn im geraden Verhältnis zu der Zahl und dem Wohlstande der Bauern und Leibeignen seines Gebiets. Ein andres Mittel zur Vermehrung seines Reichtums, als Ansässigmachung von Bauernfamilien, gab es gar nicht, und diesem Umstande ist neben dem eignen Triebe der freien deutschen Bauernschaft die Germanisirung der Osthälfte des heutigen Deutschlands (zu dem ethnographisch doch auch immer noch Cisleithanien gehört) zu danken. Wollte ein Slawenfürst, ein Bischof, ein Klosterabt reicher werden, so berief er deutsche Bauern und wies ihnen gegen Zins Hufen an. Reich werben hieß damals Menschen pflanzen, und zwar nicht Proletarier, sondern Bauernfamilien.
Auf ganz andre Weise vollzieht sich heute der Prozeß der Reichtumsbildung. Menschen zu pflanzen, glückliche Menschen, hat heute nicht nötig, wer reich werden will. Im besten Falle ist ihm das Glück der ärmern und abhängigen Klasse gleichgiltig, in vielen Fällen kann er sein Ziel nur dann erreichen, wenn sie im Elend schmachtet. Allerdings, viel Menschen müssen auch heute vorhanden sein, wenn einige wenige reich werden sollen. Allein der, der den Reichtum sammelt, hat keine Veranlassung, daran zu denken. Er hat wohl eine dunkle Ahnung davon, daß Menschen im allgemeinen vorhanden sein müssen, allein eine besondre Gruppe von Menschen, die er als die seinigen betrachten und für die er sorgen müßte, braucht er nicht. Er weiß es gar nicht, welche bestimmten einzelnen Menschen ihn durch ihre Arbeit reich machen, und Millionen arbeiten, ohne den zu kennen, den sie bereichern. Wenigstens gilt das von dem Vermögen, das durch Spekulation, durch Geldgeschäfte im großen, durch Aktienunternehmungen erworben wird. Der einzelne Fabrik- oder Grubenbesitzer allerdings hat eine wenigstens der Zahl nach begrenzte Gruppe bestimmter Arbeiter. Allein zu einem persönlichen Verhältnis und zur Interessensolidarität kommt es auch hier meistens nicht, aus zwei Gründen. Erstens weil in vielen Fabriken die Arbeit so leicht – wenn auch keineswegs angenehm – und so leicht zu erlernen ist, daß ein beständiger Wechsel nichts schadet; und da die Reservearmee der arbeitsuchenden Arbeitlosen stets bereit steht, so wird jeder Abgang aus der Fabrik gewissermaßen durch Selbstfüllung sofort wieder ersetzt, wie das Wasser eines Beckens, dessen Zuflußrohr mehr Wasser hält, als das Abflußrohr. Wer Besitzer braucht also zwar eine bestimmte Anzahl von »Händen,« aber nicht die und die bestimmten Personen. Sodann, weil sich der Fabrikbesitzer, als ein vornehmer Mann, die Arbeiter meistens vom Leibe hält. Nur seine Beamten kommen mit ihnen persönlich in Berührung, und auch diese sind oft schon so vornehme Herren, daß der Verkehr streng amtlich bleibt. Ist doch die geistige Kluft, die heute zwischen einem Manne der höhern Klassen und einem gewöhnlichen Fabrikarbeiter liegt, viel größer, als sie zwischen einem mittelalterlichen Grafen und seinen hörigen Knechten war. Sich um das Wohl der Arbeiter zu kümmern, wenn nicht etwa der Staat oder eine Revolution drängt, hat der Brotherr um so weniger Veranlassung, als seine Arbeiter um so billiger und williger sind, je schlechter es der Arbeiterschaft im allgemeinen geht; an die Stelle der Interessenharmonie ist ein klaffender Gegensatz der Interessen getreten. Nur in solchen Industrien, die, wie die meisten Zweige des Maschinenbaues, körperlich kräftige, intelligente, vorgebildete und eingeübte Arbeiter erfordern, bildet sich eine Interessengemeinschaft. Hier liegt es im Interesse des Fabrikanten, sich die tüchtigen unter seinen Arbeitern und diese tüchtig zu erhalten, was sie nicht sein könnten, wenn sie elend wären. Hier entwickelt sich denn auch stets ein Verhältnis, das mit seinen Vorteilen und Nachteilen für die Arbeiter der Feudalität gleicht wie ein Ei dem andern. Ähnliches kommt auch in der Textilindustrie, wo die Natur des Betriebs weniger dazu drängt, desto häufiger vor, je mehr die teils rein menschlichem Wohlwollen teils politischen Berechnungen entspringenden Humanitätsbestrebungen der jüngsten Zeit an Kraft und Ausbreitung gewinnen. Aber im allgemeinen, wie gesagt, bleiben nicht allein die Prinzipale, sondern auch die Betriebsbeamten den Arbeitern fremd. Dabei tritt überall in der Industrie das Bestreben hervor, durch Verbesserung der Maschinerie die Zahl der Arbeiter zu vermindern. Einen Fall, der uns besonders merkwürdig erscheint, wollen wir erwähnen. Von den Arbeiterschutzvorschriften der Gewerbenovelle werden auch die Zuckerfabriken namentlich insofern betroffen, als bei den bisherigen Einrichtungen für die Reinlichkeit und für die Sittsamkeit der Arbeiterinnen sehr schlecht gesorgt war. Ein Mann nun, der in engen geschäftlichen Beziehungen zu den Zuckerfabriken eines größern Bezirks steht, sagte uns vor einiger Zeit, es falle den Herren gar nicht ein, sich durch Änderungen zu Gunsten der Frauen und Mädchen in Unkosten zu stürzen; sie würden sich Maschinen anschaffen, die die Arbeiterinnen ersetzten. Was aus diesen wird, nachdem sie die Arbeit verloren haben, darnach fragt natürlich kein Mensch im ganzen Reiche. Den Geldmännern vollends ist es ganz gleichgiltig, ob ein Land von glücklichen Menschen bewohnt ist oder zur Wüste wird. Das Menschengewimmel der Großstadt allerdings brauchen sie zu ihrem Vergnügen, aber ob der Wert ihrer Coupons von Deutschen, Asiaten oder Amerikanern verwirklicht wird, das kümmert sie nicht. Viele mögen im Leben noch gar nicht daran gedacht haben, daß dazu Menschen nötig sind; manchem mag erst bei dem portugiesischen, dem russischen und dem Baringkrach eine Ahnung des Zusammenhangs aufgegangen sein. Sogar die Landwirtschaft sucht die Menschen überflüssig zu machen, indem der Großgrundbesitzer einerseits mehr und mehr Maschinen anwendet, andrerseits nicht mehr für sich und seine Leute, sondern für den Markt, womöglich für den Auslandsmarkt produzirt. Die Naturalwirtschaft ist eine menschenfreundliche, die moderne Industrie und der Kapitalismus sind menschenfeindliche Wirtschaftsformen.
Das zeigt sich aber nicht bloß bei der Erzeugung, sondern auch im Genuß der Güter. Als die Bevölkerung noch zu neun Zehnteln aus Bauern bestand, konnte nur ein kleiner Teil der Früchte zu Geld gemacht werden. Was der Herr an Naturalien von seinen Bauern empfing, mußte er selbst mit seinem Haus- und Hofgesinde und mit seinen Gästen aufzehren, und ab und zu, bei festlichen Gelegenheiten, halfen ihm dieselben Bauern dabei, die es gebracht hatten. Herr, Bauer und Gesinde genossen dieselben Nahrungsmittel: Fleisch von Schlachtvieh, Geflügel, Eier, Brot, Milch, Bier, in Weingegenden Wein, und nur das Wild, dazu in den nichtweinbauenden Gegenden der Wein, unterschieden den Herrentisch vom Gesindetisch. Bei Festen konnte nicht mit kostbaren Delikatessen und teuern Weinsorten geprunkt werden, die es gar nicht gab, sondern nur mit der Menge und Größe der Ochsen, Hammel, Wildschweine, Hirsche, die gebraten, mit der Menge und Größe der Wein- und Bierfässer, die angeschrotet wurden, und mit der Menge Volks, die zur Vertilgung dieser Lebensmittelmassen nötig war. Da strömte außer den Gefolgschaften der Gäste und den Bauern des Festgebers auch noch das fahrende Volk der Sänger, Musikanten, Gaukler und Bettler zusammen, und tage- oder gar wochenlang wurde auf Waldwiesen geschmaust und gezecht, gesungen, gefiedelt und gesprungen. Das mag nicht sehr moralisch, nicht sehr erhaben, mitunter vielleicht auch nicht einmal sehr ästhetisch gewesen sein, aber von einer sozialen Scheidewand war es das Gegenteil. Der mittelalterliche Große handelte nicht ganz nach dem Gebote Christi: Willst du ein Gastmahl geben, so lade nicht deine Freunde und Standesgenossen dazu ein, sondern die Bettler und Krüppel – aber, indem er unparteiisch beide Menschenrassen bedachte, wenigstens halb. Noch im vorigen Jahrhundert kamen selbst bei dem verrufnen Adel Frankreichs solche patriarchalisch-gemütliche Verhältnisse vor, wie sie der ältere Mirabeau beschreibt. Von einem Gute in der Normandie z. B. erzählt er: »Der Herr hat fünfundzwanzig bis dreißig kleine Halbpächter, mit denen er den Ertrag teilt. Er besucht sie fleißig, plaudert mit ihnen über Wirtschaftsangelegenheiten, beehrt die Hochzeiten und Kindtaufen mit seiner Gegenwart und trinkt mit den Gästen. Sonntags giebts ein Tänzchen im Schloßhofe, an dem sich die Damen des Schlosses beteiligen.« Dergleichen kommt heutzutage wohl nirgends mehr vor. Der Gutsbesitzer, der sich noch ein wenig als Grandseigneur alten Stils fühlt, der wohlwollende Fabrikant giebt bei Jubiläen oder andern dergleichen außerordentlichen Gelegenheiten seinen Leuten ein Fest, das er auf einige Minuten oder auf ein Stündchen mit seiner Gegenwart beehrt, aber seine Feste sind nicht mehr ihre, und ihre Feste sind nicht mehr die seinigen. Die Gemeinsamkeit hat der schärfsten Trennung Platz gemacht. Schon die Kost beider Gesellschaftsklassen ist so himmelweit verschieden, daß der Reiche keine Ahnung davon hat, wie Kartoffeln, mit amerikanischem Fett angemacht, Zichorienbrühe und Fusel, halb verfaultes Abfallfleisch schmecken, während sich wieder der Arme von dem Geschmack der Speisen keine Vorstellung machen kann, aus denen ein Diner oder Souper, das Gedeck zu vierzig Mark, besteht. Auch in dieser Beziehung paßt der Ausspruch Disraelis: zwei verschiedne Welten, die einander nicht kennen. In die Prachtgemächer gar, die der Festfeier des Reichen dienen, wird dem Armen kein Einblick gestattet, außer in Zeiten, wo sie nicht festlich aussehn, und wo er als Lohnarbeiter mit ihrer Herstellung oder Ausbesserung beschäftigt ist. Den reichen Prasser läßt Christus in die Hölle stürzen, weil Lazarus, der auf seiner Schwelle lag, und dem die Hunde die Schwäre leckten, die begehrten Brosamen nicht bekam, die vom Tische fielen. Wo käme der Lazarus von heute auch nur so weit, den Tisch des Reichen zu sehen! Man denke sich das Unmögliche, daß sich Lazarus an den Eingang des Speisesaales in einem Palais des Berliner Tiergartenviertels geschlichen, sich dort malerisch hingelagert hätte und von den Hunden die Schwäre lecken ließe! Der Polizeibeamte, in dessen Bereich dieses Unglück geschähe, würde in Ohnmacht fallen; ihm würde seine Karriere Zeitlebens verdorben. Der Lazarus von heute gehört in die Höhlen des Proletarierviertels, um die man sich nur kümmert, wenn Cholerafurcht die zarten Seelen der vornehmen Herren und Damen beunruhigt. Dann erhält Lazarus den gemessenen Befehl, sich eine reinlichere Wohnung oder überhaupt eine Wohnung zu verschaffen, bei Strafe von hundert Mark oder im Unvermögensfall zehn Tagen Gefängnis für jede Übertretung. Um die Schönheit der Landschaft nicht beeinträchtigen zu lassen und Raum für die Fuchsjagd zu gewinnen, haben die englischen Lords quadratmeilengroße Parks angelegt, in deren Umzäunung kein Armer seine Hütte bauen darf, und auch in unsern festländischen Großstädten bedeutet die Ausdehnung der vornehmen Stadtviertel eine immer unheimlichere Zusammendrängung der Armen in ihre Höllen. Also auch im Genuß ist die Solidarität zwischen Kapital und Arbeit zerrissen. Feiern die Vertreter der einen Klasse ein Fest, so genügt das Erscheinen eines Vertreters der andern, die Feststimmung zu verderben.
Die besondre Art des Lebensgenusses und Prunks der Reichen nun verleiht der Industrie einen beständigen Antrieb, der eine förmliche Revolution oder eine Reihe von Revolutionen zur Folge hat. Das eigentliche Bedürfnis der Reichen wird mit einem so kleinen Teile ihres Einkommens gedeckt, daß Geld genug übrig bleibt zur Befriedigung jeder Laune. Legion ist die Zahl der Geräte, Zieraten, Behänge, Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, die zur Ausstattung eines vornehmen Hauses gehören. Die unerschöpfliche Kaufkraft des Besitzers bringt es mit sich, daß er sich mit der einmaligen Ausstattung nicht begnügt, sondern zur Ausfüllung der Langenweile beständig wechselt. Am raschesten aber geht der Wechsel der Frauengewänder und des Frauenputzes vor sich. Sehen wir einmal nach, was dieser Aufwand des Kapitals für die Arbeit bedeutet! Eine Dame einer gewissen Rang- und Vermögensstufe wird heutzutage jährlich etwa zehn Kleider verbrauchen. Vor einigen hundert Jahren mag eine Frau derselben Stufe fünf Wechselkleider besessen haben, deren jedes zehn Jahre lang reichte. Jene verbraucht demnach in zehn Jahren zwanzigmal so viel Stoff, als diese verbraucht hat. Ihr Einkommen mag fünfmal so groß, der Kleiderstoff vielleicht viermal so billig sein. Dann haben beide Frauen denselben Aufwand gemacht, aber die Handwerker, die die Stoffe anfertigen, hatten im zweiten Falle viermal mehr; sie konnten sich zur Arbeit Zeit nehmen und dabei besser leben. Damit ist jedoch der Unterschied keineswegs erschöpft. In der frühern Zeit verwendeten neun Zehntel aller Menschen den größten Teil ihrer Arbeit auf die Erzeugung der Dinge, die sie selbst brauchten, und die zu allen Zeiten jeder am nötigsten braucht: Nahrung, Kleidung und Wohnung. Der Bauer bestellte den Acker, sein Weib besorgte die Kühe, spann, webte und nähte, und verfiel seine Hütte, so zog er mit seinen Söhnen in den Gemeindewald, holte sich ein paar Stämme herein und besserte den Schaden aus. In den heutigen Industriestaaten ist kaum ein Viertel der Menschen in der Lage, auch nur das geringste von dem, was sie brauchen, selbst herzustellen. Der Hungrige kann nicht Brot oder Fleisch erzeugen, wem es an Stiefeln fehlt, der hat kein eignes Kalb, ihm das Fell abzuziehen, der Obdachlose darf sich keine Hütte bauen; nicht einmal einen Fleck hat er, auf dem er sie bauen könnte. Ja, wenn er in einer warmen Sommernacht einen vier Quadratschuh großen Rasenfleck dazu benutzt, seine müden Glieder darauf zu strecken, begeht er eine »Strafthat.« Wenn er in Berlin, wo zur Zeit 40.000 Wohnungen leer stehen, deren keine er bezahlen kann, auf einem freien Platze aus zusammengebettelten Brettern eine Hütte bauen wollte, so würde er damit eine ganze Reihe von »Strafthaten« begehen. Gleich einem von Dantes Verdammten im Feuerregen muß er laufen, immer laufen, um nicht durch Verweilen an einem ihm nicht gehörigen Orte der Strafe zu verfallen. Für die Menschen ohne Grund- und andern Besitz, und diese machen heute die Mehrzahl aus, giebt es nur ein Mittel, sich das zum Leben erforderliche zu verschaffen, sie müssen es sich kaufen, vorher aber das Geld dazu mit einer Arbeit verdienen, die nicht zur Befriedigung ihrer eignen Bedürfnisse dient. Und weil zur Befriedigung der Bedürfnisse der Reichen ein sehr kleiner Teil der vorhandnen Arbeiter hinreicht, die Armen aber nicht genug Geld haben, alles Notwendige zu kaufen, demnach für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse bei weitem nicht so viel Arbeiter thätig sein können, als eigentlich sollten, so bietet einem großen Teile des Volks nur noch der Luxus der Reichen Gelegenheit zur Arbeit. Einiges von diesem Luxus gelangt ja nun auch in den Besitz des Mittelstandes, wenn es auch oft nur auf Borg genommen wird, und ein schäbiger Abraum davon verschönert sogar die Außenseite des höhern Proletarierdaseins. So sehen wir denn täglich neue Luxusindustrien hervorsprießen, denen sich noch zwei andre Gattungen völlig unnötiger Industrien beigesellen: nämlich solche, die schlechterdings keinen andern Zweck haben, als einen Fabrikanten zu bereichern, wie die Anfertigung einer angeblich neuen und daher patentirten Art von Hosenträgern oder von Bartsalbe oder von Schönheitsseife, und solche, die der Reklame aller übrigen zum Teil überflüssigen Fabrikate dienen, wie die Anfertigung von illustrirten Katalogen oder von üppigen Frauenbildern, die eine neue Cigarrensorte vorstellen sollen, oder von kokett einladenden und fingerzeigenden Mädchen- und Kinderfiguren in den Ecken der Schaufenster. Und weil die Kaufkraft der Reichen alle notwendigen Dinge, vor allem den Erdboden, in solchem Umfange mit Beschlag belegt, daß dem Armen nicht einmal eine Pesthöhle als Wohnstätte umsonst zur Verfügung steht, so ist er gezwungen, um jeden Preis Geld zu verdienen und seine Arbeitskraft in einer jener Luxusindustrien um einen Spottpreis zu verkaufen. Er muß zehn bis zwölf Stunden des Tags oder der Nacht arbeiten, nicht um für sich und die Seinen Nahrung, Kleidung und Wohnung zu schaffen, sondern um einen Plunder herzustellen, den fast niemand mehr umsonst mag; ob dann das Geld, das er damit verdient, dazu hinreicht, ihm zu verschaffen, was er braucht, darum kümmert sich niemand. Oder er muß Dinge, die an sich schön und wertvoll sind, und an denen er, wenn man ihm Zeit ließe und ihn ordentlich bezahlte, mit Lust und Liebe arbeiten würde, in solchen Massen herstellen, daß ihm die Arbeit zur Pein und er selber schwindsüchtig, blind und bucklig dabei wird. Wie der von Troia zurückkehrende Agamemnon in des Aischylos gleichnamigem Drama vom Wagen steigen will, bemerkt er, daß Klytaimnestra den Weg zum Palastthor mit Teppichen hat belegen lassen. Er will den Purpur nicht betreten:
Wolle mir nicht zärteln weiberhaft,
Noch nach Barbarengrußes Weise knechtisch mir
Staubhingesunkne Huldigung entgegenblähn,
Noch mache gar mit deinem Purpur meinen Weg
Verhaßt; die Götter nur ist so zu ehren recht!
Daß ich, ein Mensch, auf bunten Prachtgewanden soll
Hinschreiten, mir ists Grund zu mehr als eitler Furcht.
Aber das listige Weib setzt ihm so zu mit schmeichlerischen Bitten, daß er schließlich nachgiebt. Doch mag er den Purpur nicht anders als barfuß betreten:
Wohlan, du willst es! Bindet mir die Sohle ab
Zu diesem Gange, meines Fußes Dienerin,
Daß mich nicht fernher eines Gottes neidscher Blick,
Wenn ich in ihr auf Purpur trete, treffe; denn
Ich habe Scheu, Vergeuder reichen Guts zu sein,
Dies Prachtgeweb zertretend, silberschwer erkauft.
Von dieser natürlichen und gesunden Auffassung des Altertums ist in diesem wie in andern Stücken bei uns keine Spur mehr vorhanden. Kein vornehmer Mann scheut sich mehr, Prachtgewebe zu zertreten, keine vornehme Dame fürchtet den Neid der Götter und den Haß der Menschen – vor dem letzten schützen ja die Kanonen –, wenn sie kostbare Spitzen, Seidenstoffe, Handschuhe verwüstet, worein überwachte, kranke, darbende Arbeiterinnen ihre Thränen gewebt, genäht und gestickt haben. Keinem Herrn und keiner Dame fällt es ein, wie viel Elend aus der Welt geschafft und wie viel Glück damit gestiftet werden könnte, wenn die reichen Leute nur die Hälfte dieser Stoffe verbrauchten und dafür den doppelten Preis zahlten. So kommt es, daß der Arme nicht arbeiten kann und darf, um sich das Brot und Fleisch, das er braucht, das Hemd und die Stiefel und die Wohnung, die ihm fehlen, zu schaffen, sondern daß er arbeiten muß, um Zucker für England, Spiritus für Spanien, Spitzen und Teppiche für vornehme Herrschaften herzustellen, daneben auch Spielereien für jedermann in solchem Überfluß, daß sie niemand mehr mag, vor allem Wohnungen für gehoffte, aber in Wirklichkeit gar nicht vorhandne Mieter.
Das ist der Widersinn, den der Reichtum mit seiner Mutter, der Industrie zeugt, von der einen Seite. Er hat aber noch andre Seiten, von denen wir wenigstens eine hervorheben wollen. Es wurde schon erwähnt, daß zwischen Reichen und Armen keine Gemeinschaft des Genusses mehr vorkomme. Das gilt jedoch nur im allgemeinen; in einzelnen Fällen finden sich Reich und Arm schon noch im Genuß zusammen. So z. B. vergnügen sich reiche Herren nicht selten mit – armen Mädchen. Aber, das ist das merkwürdige, diese Mädchen dürfen nicht die Arbeiterinnen des Herrn sein, oder wenn sie es ausnahmsweise einmal sind, so werden sie nicht in ihrer Eigenschaft als seine Arbeiterinnen zum gemeinsamen Genuß zugelassen. Kürzlich war in den Zeitungen zu lesen, ein Hamburger Kaufmann habe einer Berliner Kellnerin 15 000 Mark geschickt, »als Anerkennung für aufmerksame Bedienung.« Diesmal soll es sich um ein anständiges Mädchen und wirklich bloß um aufmerksame Bedienung gehandelt haben. In andern Fällen, die nicht in die Zeitung zu kommen pflegen, handelt es sich um etwas andres; und abgesehn von solchen Geschenken, werden Unsummen mit solchen Mädchen verpraßt, Summen, von denen noch dazu der größte Teil jenen Blutsaugern in den Rachen fällt, die als Wirte anrüchiger Lokale mit doppelter und dreifacher Kreide rechnen. Nichts hindert einen reichen Mann oder seinen flotten Sohn, in einem Jahre solchen Schmarotzern 100 000 Mark in den Rachen zu werfen. Dagegen würde es mit Schwierigkeiten verbunden sein, wenn er als Fabrikant seinen 500 Fabrikarbeiterinnen jeder 200 Mark jährlich zulegen wollte. Seine Kollegen würden das für höchst unkollegialisch erklären und alle modernen Kunstgriffe der Konkurrenz aufbieten, ihn zu vernichten. Wie viel besser wäre es, die unstandesgemäßen Personen, mit denen er sich in den Blumensälen, bei Ronacher oder sonstwo vergnügt, waren seine persönlichen Sklavinnen, dann hätte er wenigstens die Verpflichtung, sie lebenslänglich zu ernähren!
Zum Schluß dürfen wir noch einen andern Unterschied des heutigen Reichtums von dem mittelalterlichen nicht unerwähnt lassen. Der mittelalterliche Grundherr genoß seine Einkünfte nicht ohne Gegenleistung. Wir meinen damit nicht, daß seine Gutswirtschaft die Musterwirtschaft für die Bauern war, und daß nicht selten der Wirtschaftsbetrieb des ganzen Dorfes unter seiner Aufsicht stand, daß er also Betriebsleiter war; das sind ja die heutigen Reichen zum Teil – nur sehr zum Teil – ebenfalls. Sondern, daß er die Obrigkeit der Bauern war. Mit seinen Reisigen schützte er sie vor feindlichen Überfällen, und sein Vogt besorgte, unter Beiziehung der Bauern, die Rechtspflege. Verwaltung und Regierung kosteten den gemeinen Mann nichts; die Kosten waren in dem enthalten, was er dem gnädigen Herrn leistete. Der heutige Reichtum verpflichtet zu keinen solchen Gegenleistungen. In einzelnen Fällen werden sie freiwillig gewährt, indem der reiche Mann Ehrenämter der Selbstverwaltung bekleidet oder – was mitunter ein Dienst von recht zweifelhaftem Wert ist – indem er im Parlamente sitzt oder für eine Partei agitirt. Aber sehr viele Reichen leisten fürs Gemeinwesen rein gar nichts. Jedenfalls wird der bei weitem größte Teil der Staatsverwaltung, ebenso wie die Landesverteidigung, von besonders dafür bestimmten Personen besorgt, deren Besoldung das Volk noch neben dem Reichtum der Reichen durch seine Arbeit aufbringen muß. Nun ist es ja vielleicht gerade kein Unglück, daß die Herren Rothschild, Bleichröder, Stumm, Fürst Pleß u. s. w. nicht unsre geborne, von Gott gesetzte Obrigkeit sind (obwohl schon ein starker monarchischer Wille dazu gehört, zu verhüten, daß die Staatsbeamten, deren allerhöchste für den Landtag in der dritten Klasse wählen, zu Werkzeugen der reichen Schlächtermeister der zweiten und der Magnaten und Finanzfürsten der ersten Klasse herabsinken), allein jedenfalls wird durch diesen Umstand der Wert des modernen Reichtums für Volk und Staat noch zweifelhafter oder, wie andre lieber sagen werden, sein Unwert noch unzweifelhafter.
Sollte Professor Wolf unsre Ausführungen zufällig lesen, so würde er es sich vielleicht doch noch überlegen, ob er in den spätem Auflagen seines Buches den Satz stehen lassen soll: »Und wenn gleichzeitig die Spitze in die Höhe wächst, so verschlägt das nichts.«