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Rings um mich herum liegt das Meer mit Hunderten von kleinen Felseninseln, waldbewachsen oder kahl, aber alle haben dieselbe Form, indem sie auf der Seite, die dem Land zugekehrt ist, sanft abgeschrägt sind und zur Meeresseite zerrissene Klippen bilden. Es ist eine Gletscherlandschaft unter Wasser, eine alte Felsenstraße, deren abgeschliffene Gipfel und Kuppen aus dem Meeresspiegel hervorragen. Die Schären sehen aus wie ein meilengroßes, versprengtes Heer von Inseln und Holmen, das sich vom Lande aus auf Wanderung begeben hat.
Der herbstblaue Himmel wölbt sich in unendlicher Größe über Meer und Land.
In meilenweiter Ferne zieht sich ein niedriger, violetter Rauchstreifen am Horizont hin, unter demselben, hinter der Erdrundung, verbirgt sich Stockholm.
Eine der zahllosen Schären scheint mir die mittelste zu sein, weil ich mich im Augenblicke darauf befinde, das ist die Bischofsinsel. Sie ist unbewohnt und könnte ebensogut namenlos sein, und nachdem ich mich einige Stunden dort aufgehalten und dies und jenes gedacht habe, ist es mir, als wäre es vor zehntausend Jahren. Meinetwegen mag es übrigens auch gerade jetzt sein, mir ward nur das stumme Glück zuteil, daß es gar keine Zeit mehr für mich gab, daß ich mich eine kleine Ewigkeit allein befand, allein mit dem gewaltigen Himmel und der Erde und mit meinen Gedanken.
Der Boden, auf dem ich stehe, ist das älteste Fundament der Erde, der feste Feldstein. Ich befinde mich auf dem höchsten Punkt der Insel, dort, wo der Steingrund sich zu einem großen Bogen wölbt, wie die Eiszeit ihn geformt hat, und in dieser Kurve, die in einem bestimmten schönen Winkel aus dem Meer emporsteigt, liegt eine erdschwere Grazie, eine langsame, kräftige Anmut, die das Auge, wenn es sich erst die majestätische Technik der Eiszeit, der Jahrtausende zu eigen gemacht hat, mit Entzücken in sich aufnimmt. Der Granitboden, der hier übrigens hauptsächlich aus Gneis besteht, nur mit Adern von Granit durchzogen, erzählt mit deutlicher Schrift von der ungeheuren Hitze der Erde im Anfang, als der Quarz wie Bäche floß, – einst soll ja auch das, was wir Wasser nennen, sich wie eine andere Steinart an die übrigen festen Stoffe der Erde schließen. Auf den Merkmalen des Gesteins, aus der Zeit, als es noch »geschmolzen« war, zeigen sich Gletscherspuren, und zwar mit einer solchen Frische, als wären es erst Tage her, seit das Eis forttaute, das in Bergeshöhe darüberlag. Kein Palimpsest spricht eindringlicher und deutlicher zum Gemüt, als diese Merkmale, bei denen sich Feuer und Eis zu einer klaren und dennoch nie gedeuteten Ewigkeitsschrift vereinigt haben.
Der Steinboden steigt nackt aus dem Meer, nur in seine edlen, glazialen Formen und die mattfarbige Marmorierung der Struktur gekleidet. Weiter oben aber, wo Wind und Regen den Felsen bearbeitet haben, breiten sich verschiedene Flechtenarten in Flecken und Krusten, die ersten Pflanzen der Erde, die bekanntlich von »Luft leben«, weil ein Schwamm sich mit einer Alge vereinigt hat. An feuchten Stellen stehen Renntierflechten in großen, runden Kuppeln, wie zottige Köpfe, und hier entwickelt sich bald guter Boden für Moos, das wiederum dem Heidekraut Erde gibt, und dann sind wir so weit, daß ein Zwergbaum Nahrung finden kann … ja, und das ist in aller Bescheidenheit die Schöpfung der Erde.
Aber wohnen hier denn gar keine Tiere, sind hier gar keine Wesen, die von den Pflanzen leben, die in der Erde wachsen, die aus dem Moos entsteht, das in den Flechten gedeiht, die von Luft leben? Hier muß Wild sein, denn warum stand ich Allesfressender sonst hier, mit meiner Büchse, und lauerte auf einen Braten? Hier muß es Lebewesen geben, denn dicht an dem Wacholderstrauch vorbei, hinter dem ich mich verborgen halte, führt ein kleiner, feiner Pfad, der von den Einwohnern der Insel gebahnt sein muß, was es auch für Wichte gewesen sein mögen. Der Weg ist nur ein Viertelmeter breit, aber ganz deutlich zwischen Moos und Heidelbeersträuchern erkennbar, bis er sich in dem niedrigen Gehölz verliert. Hier gibt es viele solcher kleinen Pfade, die die Insel kreuz und quer durchziehen und still von einem klugen, auf regelmäßige Gewohnheiten aufgebauten, häuslichen Leben erzählen, auf der anscheinend so öden Insel.
Unwillkürlich macht man sich die Vorstellung, wie es sei, wenn man plötzlich ein zierliches Wesen sehen würde, das in Gedanken vertieft über den Pfad getrippelt käme, ein winzigkleines Urzeitmännchen, mit einem Maulwurfswams herbstlich bekleidet und einem Kiefernadelregenschutz auf dem Kopf, eine Flintaxt, nicht größer als einen Nagel, über der Schulter – oder ein altes, altes Mütterchen, nur einen Fuß groß, mit einer Schürze von erdigen Flechten und einer Haube von Spinngeweben, ein uraltes, wackliges Mütterchen, das sich zittrig mit einem Stecken vorwärtstastet, als strecke sie ein Fühlhorn aus.
Letzteres ist wohl das Wahrscheinlichere. Denn der Hase und die Hexe haben sich ja seit undenkbaren Zeiten seltsam in der Phantasie des Jägers vermischt. Man hatte mir gesagt, daß es hier Hasen gäbe, und auf sie wartete ich, aber es war mir bereits früher passiert, daß ich eine Hexe geschossen hatte, in dem Glauben, daß es Meister Lampe sei. So eines Winters, als ich in der jütländischen Heide mit meinem Onkel auf der Jagd war. Ein großer, schimmelgrauer Hase erhob sich mitten aus dem Schnee und eilte unbeschädigt davon, während meine beiden Schüsse, erst der eine Lauf und dann der andere, hinter ihm herstrichen; ich konnte es nicht fassen.
»Der war gewiß verzaubert!« sagte der Alte, der neben mir ging, mir aber den Schuß überlassen hatte. Er sah so unheimlich vergnügt aus. »Du sollst sehen, es war eine Hexe! Hättest du einen silbernen Knopf bei dir gehabt, würden wir sicher morgen eines der alten Weiber in der Stadt mit gebrochenem Bein in ihrem Bett finden können. Der Hase war verzaubert!«
Hier lachte der Alte hohl und richtete seine weitsichtigen Augen meilenweit ins Land, um nicht zu sehen, was ich für ein Gesicht machte.
Ja, ja, es ist überhaupt nicht so leicht, Wild und Teufelszeug, Tiere und das andere Geschlecht von einander zu unterscheiden, wenn man von Bauern abstammt und von allen Kreaturen etwas im Herzen hat. Einst auf einer abendlichen Jagd in Arkansas schoß ich eine Ente, und als ich hinkam, wo sie blutend im Gras saß, strich sie ihren Schnabel und ihre weichen Federn gegen meine Hand, wie eine Liebkosung, gleichzeitig aber versuchte sie, flügellahm wie sie war, davonzuwackeln, sie sagte nichts, ihre Augen weinten. Glich sie in diesem Augenblick nicht einer kleinen Frau, die man vormittags in einem Flanellmorgenrock überrascht, und die aus Verlegenheit über ihre Flügellahmheit das Schlimmste vergißt: die Flechte, die sie in ihrer Hand hält!
Aber still! Die Hunde! Von dem anderen Ende der Insel höre ich einen der Hunde leidenschaftlich bellen, bald von dem zweiten und schließlich von dem dritten sekundiert. Ich kenne die Stimmen, es ist Lillan, die einen Hasen aufgespürt hat und jetzt Krut und Pila herbeiruft. Nach einigen Minuten höre ich, daß das Gebell auf mich zukommt, und jetzt richte ich meine Aufmerksamkeit unverwandt auf den kleinen Pfad, auf dem der Hase sich zeigen soll.
Jetzt kommt das Hundegebell näher und näher, als ob Klappe nach Klappe im Walde geöffnet würde. Und plötzlich wie durch Zauberei ist der Hase da, lautlos, genau an der Stelle, wo der Pfad für mich sichtbar wird. Unsere Begegnung ist seltsam. Der Hase hält in seinem Galopp inne und setzt sich auf die Hinterbeine, baff durch den Anblick, der sich ihm vorm Wacholderbusch bietet, und mich berührt es wie eine Zauberei, dennoch unerwartet die bekannte Erscheinung mit den hervortretenden Augen und den abstehenden Ohren zu sehen, die den Zipfeln eines Kopftuches gleichen – natürlich erinnert er an des Teufels Großmutter, und man soll sich lieber nicht auf recht lange Zeit der Hexerei in den panischen Zügen Meister Lampes aussetzen. Bum! Noch einmal …
Da liegt er. Er kam so zierlich angetrabt, kaum erschreckt durch die Hunde, hatte nicht einmal seinen privaten Pfad verlassen, er war ganz sicher gewesen, daß er ihnen entlaufen konnte. Da aber begegnete er einem Mann und einem Knall, der Tag des Gerichtes.
Während ich den Hasen betrachtete und Pila fernhielt, die ihn fressen wollte, machte ich mir allerhand Gedanken, die keiner als etwas anderes, als mein privates Jagdvergnügen aufzufassen braucht. Es fiel mir auf, wie die gespaltene Physiognomie des Hasen an einen Fötus erinnert, dessen Typus zu den Vorstellungen von einem allerältesten Säugetier zurückführt. Aus diesem gespaltenen Nagermund kann sich wie aus einem Keimblatt alles mögliche entwickeln; da ist der Anfang zu dem Maul eines Pferdes, und erinnert der Hase nicht überhaupt in seiner ganzen Form an das Urtier, von dem das Pferd abstammt? In der Beweglichkeit der Lippen ist etwas, was auf den Tapir zurückweist; die primitiven Augen, die so unpraktisch stehen, daß das eine nichts vom andern ahnt, scheinen in zwei verschiedene Schicksale zu starren. Der Hase aber hat sich nie aufs Wählen verstanden, ist immer sich selbst genug gewesen, ist immer Hase geblieben, immer Kohlfresser, Friedensfreund und Futter für alle anderen Tiere, immer auf dem Rückzug. Ein Vetter von ihm, sogar einer aus dem einfachen Geschlecht der Ratten, schlug aus der Art und ging die Bäume hinauf, wurde Eichhörnchen, dann Affe und später Mensch; einem andern entfernten Familienmitglied erging es schlecht, es wurde Wildschwein, hatte dann aber die Freude, seine Nachkommen emporsteigen zu sehen, teils als zivilisierte Schweine in weitverbreiteten Familien, teils als Tapire und fürstliche Elefanten. Ein leiblicher Bruder wanderte in die Steppen aus, veränderte seine Diät und setzte seine Zehe zu, aber er wurde berühmt, ein vornehmes Pferd, und nur eine gewisse bewegliche Ausdehnbarkeit des Maules erinnert noch an das Nagermundwerk vor so und so vielen Milliarden Jahren. Ein anderer Vetter war so verworfen, daß er Fleisch fraß – Fluch über seinen Namen! – und aus ihm wurde ein Hund mit einem großen, verzweigten Raubtiergeschlecht in alle Richtungen, ein Hund, der noch mit dem Haß, der sich an den hängt, der Unrecht tut, sein eigen Fleisch und Blut verfolgt. Pfui!
Ja, ja, alle waren gut vorwärtsgekommen, nur nicht der Hase, der bieder auf seiner Urstufe verharrte, sich nicht entwickelte, sondern nur fortpflanzte, immer im Wochenbett, und den man deshalb mit einem Frauenzimmer verwechselte und mit leicht erklärlichem Aberglauben umgab, und den man schleunigst niederschoß, um nicht selbst zum Werwolf zu werden …
Lampe, Lampe, ich liebe dich! Und wenn ich dich serviert bekomme, will ich mich deiner Gangart erinnern, deines schwachen Versuches dich auch mal auf den Hinterbeinen zu erheben, wodurch du dir aber nur die Hölle zuzogst.
Und wenn ich ein Schrotkorn zwischen die Zähne bekomme, will ich des weiten Himmels, des wilden, schönen Herbsttages draußen in den Schären gedenken.