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Es war in Krefeld, an einem Winterabend, als ich sie zum erstenmal sah. Mir ist, als ob ich mich eines Tieres erinnere, so sanft und leidend war sie, so verkommen und so unendlich gut. Sie hieß Kate.
Der Winter am Rhein ist nicht einmal winterlich – weder Schnee noch Sturm noch Eisgang auf dem Fluß – jede Wetterveränderung scheint bis auf weiteres verschoben zu sein, Sonne und Wind haben das flache Binnenland verlassen. Der Fluß wandert glanzlos dahin, er schreitet mit grauen Wogen wie ein endloser Zug von Auswanderern. Drüben auf dem Fluß biegt die Fähre dem Strom aus, und am Ufer wird das Kabel lebendig, es strammt sich und taucht zitternd ins Wasser, es bebt wie ein Nerv. Eine halbe Meile weiter fort gähnt eine Bogenbrücke in dem nebligen Tiefland, wie eine ungeheure Spannraupe. Und rings umher in der winterroten Luft erhebt sich Schornstein neben Schornstein, eine ganze Wildnis von Schornsteinen, aus denen der Rauch still blutet. In weiter, weiter Ferne steigt eine meilenhohe Pinie von Rauch in die Höhe, dort liegen die Kanonengießereien von Essen.
Ein rasselnder Bummelzug brachte mich nach Krefeld, als alle Dampfpfeifen gerade Feierabend verkündeten und die Fabrikarbeiter zu Tausenden von den Werkstätten ausgespien wurden. Die Straßen in Krefeld lagen in kaltem, lehmigem Schmutz da. Die Laternen waren schon angezündet worden, leuchteten aber noch nicht. Als ich später am Abend durch die trübselige Stadt wanderte, sah ich zwei blauweiße Bogenlampen über einem Tor und eine grüne Feuerschrift: Varietee. Dort ging ich hinein.
Abgesehen von den deutschen Unentbehrlichkeiten, dem dummen August und dem dicken Mann, der nicht singen kann, war die Vorstellung von ganz internationalem Charakter. Eine französische Sängerin trat auf, zwei amerikanische knock-abouts, ein russischer Athlet usw. Und den müden Fabriksklaven im Zuschauerraum tat das Dargebotene wohl, ihre groben Gesichter leuchteten auf. Sie hatten ihren Tag zwischen den Krallen der Maschinen verbracht, sie kamen von draußen, aus diesem elenden Land, das sogar von dem klassischen Winter, vom Schnee, von den Weihnachtsrosen und vom Jesuskind verlassen ist; jedes dieser ehrbaren Trampeltiere trug den Stempel eines klitschigen Sozialismus und der allerbilligsten, störrischen Gottesverleugnung auf dem Gesicht … der Kampf ums Leben, ohne neuen Glauben! Wie waren diese Gehirne öde, wie drängte es diese armen Münder sich auszuklagen! Welche erdrückende Seelennot! Ein großes, gähnendes Loch – nie war mir die Welt so verlassen vorgekommen!
Im Laufe des Abends trat Kate auf. Eigentlich war sie nur eine Nebenfigur im Ensemble, sie assistierte einem musikalischen Clown. Er hatte großen Beifall seiner fürchterlichen Magerkeit, der enormen Länge seiner Füße und seiner Häßlichkeit wegen; er war heiser wie ein Sterbender. Kate tanzte, sie trug einen blauseidenen Trikot, ihre runden Beine zitterten vor Kälte … und vor Angst. Ihre Arme zeigten blaue Flecke von den Schlägen, die sie hinter den Kulissen bekommen hatte. Sie gehörte zu der Sorte hübscher Kinder, mit denen herumgestoßen worden ist und die sich von klein auf gegrämt haben. Man konnte sehen, daß Kate schon ein paarmal geboren hatte, die Mutterfreude aber war ihr versagt worden. Und doch lächelte sie süß und mädchenhaft; es lag eine Glorie um ihre Person. Wie sie dort nach der Musik des rohen Knochenmannes tanzte, war sie wie eine Offenbarung des einzig Reinen und Zarten in dieser Welt.
Der Clown stieg von seinem Bock herab, auf dem er wie ein Affe gesessen und gespielt hatte, beide Beine um den Hals geschlungen, während Kate tanzte. Er bewaffnete sich mit einem neuen Instrument, einer Art Laute, die nur eine Saite hatte. Und nun folgte jenes Duett, das ich nie habe vergessen können. Kate stand ganz unbeweglich auf den Zehen und sang. Es war eine kleine, altmodische englische Weise, und sie trug sie mit schmerzlicher Schelmerei vor. Und während sie sang, stelzte das Knochengerüst mit seiner gebrochenen Laute um sie herum, die Saite gab hin und wieder einen knarrenden Laut von sich, als ob mit dem Knöchel gegen einen Sarg geschlagen würde, und der Knochenmann brachte einen Refrain hervor, ein breites, sprödes Meckern – Mma!
Kates zartes, schwärmerisches Lied und dieses Mma, das so ergreifend musikalisch und so boshaft war, hatten eine merkwürdig starke Wirkung.
Die Zuschauer saßen stumm dabei, doch als der seltsame Zwiegesang dort oben verklungen war, da hatten alle diese schweigenden Lippen geklagt! Ich sah, wie sie seufzten, so daß ihre Schultern sich hoben, ich sah ihren Augen an, daß ein Schmerz heilend durch ihr Gemüt gezogen war.
In London, einige Monate später, sah ich Kate zum zweitenmal. Es war noch derselbe Winter, in London aber vergaß ich ihn, weil ich dort alles vergaß.
Ich wohnte in der Stamford Street. Die Zimmer des Erdgeschosses waren an alleinwohnende Frauenzimmer vermietet; wenn ich des Abends nach Hause kam – es war immer Regenwetter und die Straßen waren schmutzig – erkannte ich meine Mitbewohner, sie standen durchnäßt und verzweifelt auf der Straße. Sie winkten matt durch die Dunkelheit, und bisweilen hörte ich sie unter ihrem Schal weinen, trocken und gequält wie Kinder, die sich verirrt haben.
Mein Zimmer lag nach einem Zimmerplatz hinaus, und dort wachte jede Nacht ein großer, schwarzer Hofhund. Er drohte und knurrte getreulich die ganze Nacht. Wenn ich vom Fenster auf ihn heruntersah, pflegte er gewöhnlich breitbeinig, mit gesträubten Haaren vor dem Tor zu stehen. Der Laut von Stiefelsohlen gegen die Fliesen draußen in später Nacht, ließ ihn auf eine boshafte Weise verstummen. Er war wie eine Verdichtung von Nacht und Schlaflosigkeit. Er stand stundenlang wie eine schwarze und gefährliche Sprengkraft dort unten. Wieviel Bosheit und Qual lag in diesem Wachen eines wilden Hundes! Ich warf in der Stille der Nacht, wenn er knurrte, Holzscheite auf ihn herab, und während die Stadt London im Schlaf murmelte, hörte ich, wie der Hund still wurde, während er die Holzstücke mit seinen geifernden Zähnen zersplitterte.
Vor allem erinnere ich mich der Dunkelheit, die damals in London herrschte. Nur ein einziges Mal sah ich die Stadt in hellem Licht, und da glich sie einer Stadt, die unter Wasser gestanden hat; die Häuser waren schwarz von Schlamm und streifig wie nach einer jahrelangen Überschwemmung.
Wenn ich die Treppe hinunterging, stand bisweilen die Tür zu einem Zimmer im zweiten Stockwerk offen, und dort sah ich einen alten Mann im Bett liegen. Ich bildete mir ein, daß es ein alter Seemann sei, der sich dort für seine letzten Mittel eingemietet hatte. Er lag immer sauber und kraftlos mit seinem grauen Kopf auf dem Kissen; die Hände, auf denen Anker und Buchstaben tätowiert waren, hielt er dankbar vor sich auf der Decke gefaltet. Mit jedem neuen Tag sah ich, wie er geborgen war, wie schlau und behaglich er sich dort zum Sterben gelegt hatte.
Jeden Abend aber, jeden Abend, wenn ich nach Hause kam und den Schlüssel in meiner Tasche suchte, hörte ich ein leises Pfeifen durch das Schlüsselloch in meiner Tür, einen deutlich vernehmbaren Windzug von der Leere drinnen im Zimmer.
Ich lauschte. Wie undeutlich und bang es klang. Diese Tür sollte ich allein öffnen, in diesem entsetzlichen Zimmer lauerte eine Einsamkeit, zu der ich allein den Schlüssel hatte.
Alles dies ist zu einer Mythe in meiner Erinnerung geworden – der Hund und der Seemann, der Knochenmann und Kate. Denn ich sollte sie wiedersehen. Eines Abends kam ich zufällig in ein Varietee, wo sie und der Knochenmann auftraten. Sie hatten sich nicht im geringsten verändert und gaben genau dieselbe Nummer zum besten wie an jenem Abend in Krefeld.
Als ich jetzt aber den Zwiegesang wieder hörte, Kates kleines schmerzlich schelmisches Lied und den tiefen, musikalischen Rabengesang des spindeldürren Affen, da war es mir, als hörte ich ein Duett vom Leben und vom Tode. Ach ja, Kate, das zarte, mißhandelte Weib, das lächelt und singt, so daß alles zart und gülden wird – und dann dieser Satan mit seinem geschminkten Totenkopf, der musikalisch ist, der Talent hat, der Mann, der sein ganzes Leben hindurch schlägt und zertrümmert und zugrunde richtet! Ja, Kates zarte Stimme rief jede Sehnsucht wach, und der spröde Baß mahnte grinsend, indem er um sie herumtanzte … Mma!
Eines Tages, als ich die Treppe hinunterging, stand die Tür zu der Stube des Seemanns wieder offen. Das Laken war ihm sorgfältig übers Gesicht gezogen, man konnte seine Kopfform erkennen. Er war tot. Mit ihm starb das Bewußtsein von so und so vielen Segelfahrten um das Kap der guten Hoffnung. Mit ihm erloschen die Erinnerungen an diesen und jenen Sturm im Meerbusen von Biscaya, an die Kreidefelsen bei Dover, an volle Fregattensegel vor der südamerikanischen Küste, an schwere Zeiten und an leichtsinnige Zeiten. Mit ihm starb das Andenken an einen Ring von Menschen, treulosen Leuten und lustigen Leuten, an die unbarmherzigen Mädchen der Hafenstädte, an weiße Freundinnen und kanelbraune Weiber in Batavia.