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Es war spät, und die Straßen lagen ganz öde da. Der Frostmond hing wie eine weiße Krypte über den bereiften Dächern, die Stadt füllte den Horizont wie mit einem erstarrten Feld von lauter seltsamen, leblosen Dingen, von denen ein zarter Ton ausging, ein Frostklingen, als ob die ganze Erde eine Sphäre von Kristalleis sei, die immer kälter wurde und dabei klang. Von weit draußen aber, aus dem Raum selbst, kam ein undeutliches Sausen; es war der Vogel Rock, der zwischen den erkalteten Weltkörpern mit großen Flügelschlägen kreiste. Wenn er jetzt über die Stadt streichen und nur die äußerste Spitze eines Turmes abbrechen würde, fiele gewiß die ganze weitgestreckte Stadt wie das feinste Eispulver zusammen …
Es war so still im Hause, daß ich einen unendlichen Zug von schweigenden Wesen durch den Raum ziehen zu hören meinte. Plötzlich ging ich, von einer entsetzlichen Eingebung getrieben, ans Telephon – ich konnte nicht anders – und klingelte.
»Amt« antwortete eine trockene Frauenstimme ganz dicht an meinem Ohr, und ich nannte aufs Geratewohl eine Zahl, schauderte, als ich hörte, wie das Telephonfräulein sie wiederholte, überlegte aber nicht weiter, woher ich diese Zahl wußte und warum ich gerade sie genannt hatte. »Werde rufen,« klang es automatisch vom Amt, und darauf folgten die röchelnden Metalllaute und dann das gedämpfte Kochen im Hörer, das der Verbindung vorausgeht. Aber der Ton änderte sich und ging in einen anderen über, den ich nicht kannte, in ein ungeheures, fernes Sausen, als ob der Draht in die fernen Weiten des Weltraumes hinausführte, und während ich lauschte, begann ich am ganzen Körper vor Kälte zu zittern.
Nachdem es eine Weile im Hörer geraschelt hatte, ertönte eine Stimme weit, weit fort, winzig klein, aber ganz deutlich, eine verschleierte, seltsame Stimme, die ich sofort erkannte. Das war – ja, ein Name, ein Freund – die Stimme eines Freundes, die mir einst teuer gewesen war. Jetzt hatte sie einen fremden, einen hoffnungslosen Klang, war hohl, als lägen Meilen von Erde darüber, aber er war es dennoch, und es fiel mir nicht ein, daß er vor vielen Jahren ausgewandert war, und daß ich nie wieder etwas von ihm gehört hatte. Seine Stimme, wenn sie auch verändert klang, machte ihn ganz gegenwärtig, ich dachte keinen Augenblick daran, daß wir getrennt gewesen und Jahre vergangen waren.
Bist du es! rief ich erfreut aus.
Ja, antwortete seine Stimme etwas schleppend und düster, und jetzt schwieg er eine Weile. Ich hörte ihn einen Seufzer ausstoßen, einen Hauch, der wie der Nachtwind klang. Ja, ich bin es, begann seine Stimme von neuem. Wie geht es dir?
Danke, gut. Und dir?
Ach …
Er sagte es zögernd, wie mir schien, verstummte dann wieder, und ich hörte ein unendlich fernes Sausen.
Ach, wie soll es mir wohl gehen …
Ich liege hier so allein.
Kurz darauf:
Ich mußte plötzlich an dich denken. Etwas Bestimmtes wollte ich eigentlich nicht von dir … Hm …
Er fragte mich nach meinen äußeren Verhältnissen, und als ich ihm geantwortet hatte, entstand eine lange Pause. Die klingende Stille im Telephon war so empfindlich, daß ich ihn fühlen konnte, obgleich er schwieg.
Wo bist du eigentlich? fragte ich so leise, wie es mir möglich war. – Geht es dir nicht gut?
Doch, antwortete er mit müder Stimme. Doch. Ich isolierte mich zur rechten Zeit, ich will nicht klagen. Ich hab es selbst so gewollt, wie du vielleicht gehört hast. Du erinnerst dich wohl, daß das Rumoren in meinem Kopf bereits angefangen hatte, als wir uns kannten, bevor ich fortreiste. Ja, ja, die Ewigkeit hat mir zeitig in den Ohren geklungen, und wie ich es erwartet hatte, so geschah es, sie wurde immer unendlicher. Weißt du noch, wie häufig wir die Frage von der Identität und dem Weltall erörterten.
Er sprach jetzt eine Weile von unseren Studienjahren und von all dem, was damals in uns gärte und nun geklärt sei, ohne daß wir uns verändert hätten, und dann begann er von seinem Schicksal zu erzählen, immer mit seiner alten, wohlbekannten Stimme, die bald Vorstellungen von einer ungeheuren Einsamkeit in mir erweckte, bald nur wie das mikroskopische Kratzen eines Insektes auf dem Boden des Hörers klang:
Ja, siehst du, ich hatte ja von jeher an Kopfschmerzen gelitten. Abgesehen davon, daß die Welt und das Bewußtsein an sich eine Migräne Gottes ist, hatte ich stets nagende Schmerzen im Kopf und Sphären vor den Ohren. Das machte mich zeitig einsam. Dennoch wurde ich ein gemeinnütziger und vermögender Mann, wie du vielleicht gehört hast. Es schadet nicht, daß man einsam ist, man kann darum doch das Durchschnittspensum ausrichten. Ich leistete wirklich etwas zu meiner Zeit und war im besten Sinne ein glücklicher Mann. Aber du machst dir keinen Begriff, wie ich zuletzt unter den Schmerzen in meinem Kopf litt. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, erinnere ich mich der Zeit wie einer totalen Finsternis. Ja, wie einer völligen Finsternis, mit mir selbst als Mittelpunkt …
Hier senkte er seine Stimme, und ich konnte merken, wie er sich kopfschüttelnd in sich selbst vertiefte.
Ich litt an etwas Schlimmerem als an Weltgefühl, fuhr er schwermütig fort, denn wenn man damit behaftet ist, kann man doch vergessen. Ich aber hatte Tag und Nacht Schmerzen von wahrlich sehr irdischer Art. Oft redete ich mir ein, daß mir ein Ohrwurm in den Kopf gekrochen sei, der sich dort vermehrt hatte, so daß ich ein ganzes Nest davon mit mir herumtrug. Durch das Leiden entstanden verschiedene Gerüche in meinem Bewußtsein, von all den Geräuschen gar nicht zu reden. Ich litt sehr an Erdbebengefühlen, und mir schwindelte immer schrecklich im Raum. Schließlich konnte ich das Dasein nicht mehr ertragen, obgleich ich das Gefühl hatte, es selbst erschaffen zu haben, ich mußte den Kampf aufgeben. Ach, während der letzten Jahre konnte ich mir nur eine Freude vorstellen, die ich mir dann auch schließlich gönnte, den Tod. Du glaubst nicht, wie wohltuend es war, als ich den Schlag des Weltunterganges auf den Kopf bekam. Ich legte mich eines Tages nieder, legte mich auf einen wundervoll harten Stein und bat, daß man zuschlagen möge. Meine Frau tat es, die einzige, die mich lieb hatte, sie zerschlug mir, wie ich es wünschte, den Kopf mit einem Beil …
Er tat einen langen und stillen Seufzer, vermischte seinen Atem mit dem Ewigkeitswind, der weit draußen pfiff.
Ja, das tat wohl. Als mein Kopf gespalten war, zeigte es sich, daß er hohl war. Vollständig hohl, keine einzige Gehirnzelle war mehr übriggeblieben. Aber daraus hervor wälzte sich eine widerwärtig entzündete Ansammlung von Asien und Afrika und allen Hauptstädten der Welt und von Meeren und Bergketten, Eisenbahnen und Dampfschiffen, Schornsteinen, Dynamos, Schrauben, Kabeln, Akkumulatoren und anderem säurestinkendem Material, Zeitungen, Büchern und Kohlen, Schnee, Rauch, Wind und Dunst ganz ähnlich wie das Ungeziefer aus dem Götterbild, das entzwei geschlagen wurde und im selben Augenblick ging die Sonne auf, wie geschrieben steht.
Weißt du aber, was ich in der Tiefe meines Kopfes hatte? Einen Meteorstein! Einen schweren Magnetstein von ungewiß kosmischem Ursprung. Er war noch warm. Mit anderen Worten, einen kleinen Stern. Es scheint eine Sternschnuppe in mein Gemüt gefallen zu sein, als ich ganz jung war. Und dieser Meteor hatte zeit meines Lebens in der Wurzel meiner Seele gelegen und geeitert! Hierdurch die Weißglühhitze, mit der ich nach dem Weltraum minus 273° verlangt hatte! Ich sage dir, es tat wohl, den glühenden Bolzen loszuwerden. – Ja, du, so bin ich gestorben.
Er schwieg, und wie mir schien, in einer gewissen Erregung.
Geht es – geht es dir jetzt besser? fragte ich.
Keine Antwort. Ich lauschte, konnte aber nicht hören, ob er noch da sei. Es sauste hohl aus weiter Ferne.
Da ertönte die Stimme wieder, abwesend und immer leiser werdend, als entschwinde ihr das Gedächtnis:
Lebewohl.
Kurz darauf klappte es leise im Telephon, Tausende von Meilen weit fort, und das Sausen veränderte sich, indem ein anderes Zahnrad der Sphären in die Auswechslung eingriff, und jetzt kochte es wieder näher und vertrauter, unser eigener Laut, die Stimme der Stadt und der nächtlichen Stille.