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Die Joditzer Herbstidylle ist durch voriges fast ausgemalt. Der Herbst führt nämlich die Menschen nach Hause und läßt ihnen sein Füllhorn da, für das Nest des Winters, das sie bauen, wie der Kreuzschnabel im Eismonate Nest und Junge hat. Von damals her muß kommen, daß Paul noch das erste Dreschen, die lauten Krähenzüge in die Wälder, der Zugvögel Schreien oder Blasen zum Aufbruche mit einem nachgebliebenen Vergnügen als die Vorboten der engen häuslichen Winter-Einnistung hört; und es tut mir seinetwegen leid, daß er auch die Gänse im Herbste, die dann in Herden gehen, mit ziemlicher Lust schreien hört als Vorsänger und Vorredner der Winterzeit. Aus diesem Stuben- und Wintersinn hab' ich mir von jeher erklärt, warum er mit so ungemeinem Behagen Reisebeschreibungen von Winterländern wie Spitzbergen und Grönland las; denn das Anschauen einer bloßen Not auf dem Druckpapier erklärt das Vergnügen dabei nicht, weil sonst das nämliche auch bei der Lesung der Glutnot der heißen Länder wieder dasein müßte. Hingegen die bekannte Freude des Mannes über jede Viertelstunde, um welche im Herbste die Tage abnehmen, würd' ich mehr seiner Vorliebe für Superlative – welche es auch seien – für unendliches Großes und unendliches Kleines, kurz für die Maxima und Minima zuschreiben, besonders da er ja ganz ebensosehr sich über das Wachsen der Tage erfreuet und nichts dabei wünscht als gar einen langen Schwedentag. Man sieht aber aus allem, mit welcher unschätzbaren Genügsamkeit und Geschicklichkeit Gott den Mann auf seinen Lebensweg, auf welchem nicht viel rechts und links zu finden war, zugerüstet und ausgestattet, so daß er, es mochte noch so schwarz um ihn sein, immer Weiß aus Schwarz machen konnte und mit einem beidlebigen Instinkte für Land und Meer weder ersaufen noch verdursten konnte.
Es sind dies lauter autobiographische Züge, meine Herren, die ein künftiger Lebenbeschreiber desselben recht bequem zu einer Lebenbeschreibung verarbeitet und für welche er mir vielleicht dankt.
Auch wüßt' ich nichts als jenen behaglichen Stuben- und Wintergeschmack, um mir begreiflich zu machen, warum Paul eine andere an sich so hagere Herbstlust mit solchem Wohlgeschmacke wiederkäuet. In den Herbstabenden (noch dazu an trüben) ging nämlich der Vater im Schlafrocke mit ihm und seinem Bruder auf ein über der Saale gelegenes Kartoffelfeld; der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen. Draußen wurden nun neue Kartoffeln, soviel für das Abendessen nötig waren, vom Vater ausgegraben; Paul warf sie aus dem Beete in den Korb, während Adam an dem Haselnußgebüsche die besten Nüsse erklettern durfte. Nach einiger Zeit mußte dieser von den Ästen herunter ins Beet und Paul stieg seinerseits hinauf. Und so zog man denn mit Kartoffeln und Nüssen zufrieden nach Hause; und die Freude, auf eine Viertelstunde weit und eine Stunde lang ins Freie gelaufen zu sein und zu Hause bei Lichte das Erntefest zu feiern, male sich jeder selber so stark wie der Empfänger.
Besonders frisch und grün aber sind noch zwei andere Herbstblumen der Freude in seinen Gehirnkammern erhalten und aufbewahrt, und beide sind Bäume. Der eine ist bloß ein dickzweigiger hoher Muskatellerbirnbaum im Pfarrhofe, an dessen herrlichen Fruchtgehängen die Kinder den ganzen Herbst hindurch künstliches Fallobst hervorzubringen versuchten, bis endlich an einem der wichtigsten Tage der Jahrzeit der Vater den verbotenen Baum selber auf der Leiter bestieg und das süße Paradies herunterholte für das ganze Haus und für den Bratofen. – Der andere immer grüne und noch herrlicher fortblühende Baum ist aber kleiner, nämlich die abgehauene Birke, welche jährlich an dem Andreasabend bei dem Stamme vom alten Holzhauer in die Stube geschleppt und darin in einen weiten Topf mit Wasser und Kalk gepflanzt wurde, damit sie gerade zur Weihnachtzeit, wenn die goldnen Früchte an sie gehangen wurden, schon die rechten grünen Blätter dazu trüge. Es hatte diese Birke, keine Trauer- sondern eine Jubelbirke, das Eine an sich, daß sie den dunkeln Dezemberweg bis zum Christfest mit Freudenblumen bestreuete, nämlich mit ihren hervorgenötigten Blättchen, wovon jedes neue wie ein Uhrzeiger auf einen zurückgelegten Tag hinwies, und daß jedes Kind unter diesem Maienbaum des Winters sein Laubhüttenfest der Phantasien feiern konnte.
Pauls Weihnachtfest selber zu beschreiben, erlassen mir wohl gern alle die Zuhörer, welchen in Pauls Werken Gemälde davon, die ich am wenigsten übertreffen kann, zu Händen gekommen. Bloß zwei Zusätze dürften nachzuholen sein. Wenn Paul nämlich am Weihnachtmorgen vor dem Lichterbaum und Lichtertische stand und nun die neue Welt voll Gold und Glanz und Gaben aufgedeckt vor ihm lag und er Neues und Neues und Reiches fand und bekam: so war das erste, was in ihm aufstieg, nicht eine Träne – nämlich der Freude –, sondern ein Seufzer – nämlich über das Leben –; mit einem Worte schon dem Knaben bezeichnete der Übertritt oder Übersprung oder Überflug aus dem wogenden spielenden unabsehlichen Meere der Phantasie an die begrenzte und begrenzende feste Küste sich mit dem Seufzer nach einem größern schönern Lande. Aber ehe dieser Seufzer sich veratmete und ehe die glückliche Wirklichkeit ihre Kräfte zeigte: so fühlte Paul aus Dankbarkeit, daß er sich im höchsten Grade freudig zeigen müßte vor seiner Mutter; – und diesen Schein nahm er sofort an und auf kurze Zeit, weil sogleich darauf die angebrochnen Morgenstrahlen der Wirklichkeit das Mondlicht der Phantasie auslöschten und entfernten.
Hier mag auch einer väterlichen Eigenheit gedacht werden welche in dieselbe Minute fiel: der Vater nämlich – immer so froh teilnehmend, jede Freude so bereitwillig gönnend und gebend – kam an dem Christmorgen wie mit einem Trauerflor bedeckt aus seiner Stube in die lustige leuchtende Wohn- und Gesindestube herab; die Mutter selber versicherte ihre Unwissenheit über diese jährliche Traurigkeit und niemand hatte Mut zur Frage. Auch überließ er der Mutter die ganze Mühe und Freude, die Tafeldeckerin der h. Christnacht zu sein, und hier blieb er vielleicht beträchtlich hinter Paul zurück, und holte den Sohn nicht ein, welcher immer bei der Weihnachtoper der Kinder seiner Frau viel half, wenn nicht gar sie bloß ihm; denn in der Tat hatte er – zumal früher, da sie dümmer waren – schon Monate vor der Aufführung dieser Zauberoper den Lügen-Zettel-Träger, den Theaterdichter und Szenenmaler auf dem Kanapee gespielt, und hatte endlich abends als vollständiger Operdirektor und Maschinenmeister alles auf den Tischen und Bäumchen so lichtervoll und verständig ausgebreitet und zusammengeordnet, daß das Ganze glänzte und sein Auge dazu.
Demungeachtet ist der Vater aus dem Sohne und die väterliche Trauer fast zu erklären und zwar daraus, daß dieser seit vielen Jahren selber eine ähnliche bei aller äußern Freudigkeit und Tätigkeit zu verhüllen hat. Es ist eben bei beiden nur das von Kirchenstücken und Romanen wunde Wehgefühl der Vergleichung zwischen dem männlichen Herbste der Wirklichkeit und dem kindlichen Frühlinge vor ihnen, in welchem noch dicht aus dem Stamme der Wirklichkeit die Blüten des Ideals ohne Umwege von Blättern und Ästen wachsen.
Bedurfte doch damals sogar der kindliche Honig und Wein der Freude des idealen Ätherzusatzes von dem Glauben an ein darreichendes Christkindchen. Denn sobald er zufällig sich mit Augen überzeugt hatte, daß nur Menschen, nicht Überirdische, die Freudenblüten und Früchte bringen und auf die Tafel leeren: so war diesen der Edenduft und Edenglanz ausgegangen und abgewischt und das alltägliche Gartenbeet da. Indes unglaublich ists, wie er gleich allen Kindern, sich gegen die Himmelstürmer seines himmlischen Glaubens gewehrt und wie lange er seine übernatürliche Offenbarung festgehalten gegen alle Einsichten seiner Jahre, gegen alle Winke des Zufalls, bis er endlich sah und siegte weniger als besiegt wurde. So schwer läßt sich der Mensch in allen Religionen zu den Menschen herunterziehen, welche oben im Lufthimmel die lebenden Götter spielen.
– So weit gehen die Joditzer Idyllen, welche für Eltern und Kinder lange genug gedauert, nämlich so lange wie der trojanische Krieg. Die Schulden und die Ausgaben für vier Söhne wuchsen und diesen wurde die versprochene bessere Schule immer nötiger. Auch den Vater faßte zuweilen ein Unmut an, daß er schöne Jahre und schöne Kräfte in einer so engen Dorfkirche abmatte und verzehre. Endlich starb der Pfarrer Barnickel in Schwarzenbach an der Saale, einem kleinen Städtchen oder großen Marktflecken. Der Tod ist der eigentliche Schauspieldirektor und Maschinenmeister der Erde. Er nimmt einen Menschen wie eine Ziffer aus der Zahlenreihe vorn, mitten, oder hinten heraus und siehe, die ganze Reihe rückt in eine andere Geltung zusammen. Die Pfarrstelle, welche der Fürst von Reuß und die Frau von Bodenhausen wechselnd besetzten, bekam diesesmal die Gönnerin Richters in die Hand, welche sich lange und unverhohlen auf die Gelegenheit gefreuet, den guten uneigennützigen heitern und verarmenden Pfarrer zu erretten und zu belohnen.
Aber deshalb ging er jetzo nicht öfters nach Zedwitz, sondern seltener. Vollends eine Bittschrift um die Pfarrei, oder nur eine mündliche Bitte zu bringen, dies hätte ihn nach seiner altglaubigen Überzeugung, daß nur der heilige Geist zum heiligen Amte rufen müsse, als eine Simonie befleckt. So mußte denn die geburtstolze Gönnerin sich den festen amtstolzen ärmlichen Mann ohne Bitte und ohne Gesuch gefallen lassen. Ich teile Ihnen hier ein Geheimnis des Zedwitzer Hofes mit – das er selber längst vergessen –, wenn ich aus dem Munde des alten Pfarrers erzähle, wie es dort am Tage seiner Berufung zugegangen. Da er gewöhnlich zuerst bei dem alten Herren (von Plotho) vorgelassen wurde: so konnte dieser vor Liebe und Freude ihm die Nachricht seiner Beglückung nicht zurückhalten, sondern gab sie ihm geradezu, oder gar die Vokation selber, indes eigentlich erst dessen Gemahlin als die wahre Patronatherrin ihm das Schreiben hätte geben sollen. Natürlicherweise war nachher, als der neugeschaffne Pfarrer vor sie mit seinem Danke eintrat, einige Verstimmung der Freiin gegen ihren Gemahl dem Hofe nicht ganz zu entziehen. Übrigens hatten beide mit der eigenhändigen Übergabe der Vokation gleichgesinnt dem geldlosen Freunde allerlei Gratiale und Douceurs der Überbringer – fatale Worte für die eine Partei – ersparen wollen.
Da ich Ihre wohlwollenden Gesinnungen für Vater und Sohn so gut kenne, so wollt' ich wohl erraten, daß Sie jetzo innerlich im Jubel rufen: »Dies ist ja köstlich, daß der Mondwechsel der Pfarreien endlich ihm ein anderes schönes Wetter bringt; und wir sehen den jovialen Tonkünstler ordentlich früher als sonst von der Herrschaft (er unterhielte sie aus Dank gern länger) mit seiner Bullenbeißerin nach Hause laufen, bloß um nur so früh wie möglich seine Selberentzückung unter die Seinigen, besonders an die arme Gattin auszuteilen, welche durch das bisherige Ährenlesen ja Zehenden-Sammeln auf den elterlichen Feldern wahrlich genug geduldet hat.« –
Ich bemerke dagegen nichts als daß Sie sämtlich fehlschießen und mich wundert der Fehlgriff. Ernst und traurig brachte er die Freudenpost; aber nicht bloß weil auf dem Blumen- und Erntekranz des Glücks wie auf dem Brautkranz immer einige Tautropfen hangen, die wie Tränen aussehen, sondern auch weil in ihm schon der Abschied von der geliebt-liebenden Gemeinde zu weinen anfing, welche seit so vielen Jahren seine zweite Familie, nur im größern Familienbetsaal der Kirche gewesen, und zuletzt noch, weil nun das stille, ruhige, unbegabte, einfache Stilleben des Dorfes in der Zukunft nur als ein fernes Gemälde in seiner Erinnerung hangen sollte. Freilich ist das Landleben gleich dem Seeleben einfarbig, ohne Abwechsel kleiner, nur großer Gegenstände; aber es gibt eine Art einförmiger Freude, welche stärkt, so wie das einfarbige Meer auf Lungensüchtige freundlich wirkt, weil keine Staubwolken einzuatmen sind und keine Insekten quälen.
– Nun glaub' ich meine Pflicht als selbhistorischer Professor in Rücksicht auf das Erziehdörfchen Joditz so erfüllt zu haben, daß ich in der nächsten Vorlesung mit dem Helden und den Seinigen in Schwarzenbach an der Saale einziehen kann, wo freilich der Vorhang des Lebens um mehre Schuh hoch aufgeht und man vom Hauptspieler schon etwas mehr zu sehen bekommt als die bloßen Kinderschuhe, wie leider bisher. Denn in der Tat aus der heutigen Vorlesung schicken wir ihn in die nächste als einen mehr als zwölfjährigen Menschen mit zehnmal weniger Kenntnissen als der dreijährige Christian Heinrich Heineken hatte, da ihn nach dem Examen die Amme wieder an den Busen legte – so ohne alle Natur- und Länder- und Weltgeschichte ausgenommen das Teilchen davon, welches er selber war – so ohne alles Französische und Musikalische – im Lateinischen nur mit ein bißchen Lange und Speccius angetan – kurz als ein solches leeres durchsichtiges Skelett oder Geripplein ohne gelehrte Nahrung und Umleib, daß ich mit Ihnen allen kaum Zeit und Ort erwarten kann, wo er doch einmal anfangen muß, etwas zu wissen und das Gerippe zu beleiben in Schwarzenbach an der Saale.
Wir verlassen nun mit ihm das unbekannte Dörfchen; aber ob es sich gleich noch keinen Lorbeerkranz wie so manches anderes Dorf durch eine Schlacht aufgesetzt: so darf er, glaub' ich, es doch hoch in seinem Herzen halten und zu ihm, als wenn er heute schiede, sagen: »Liebes Dörflein! du bleibst mir teuer und wert! Zwei kleine Schwestern ließ ich in deinem Boden – Mein zufriedener Vater hat auf ihm seine schönsten Sonntage gefunden – Und unter dem Morgenrote meines Lebens sah ich deine Fluren stehen und glänzen. Zwar sind deine mir bekannten Bewohner, denen ich danken will, längst fortgegangen wie mein Vater; aber ihren unbekannten Kindern und Enkeln geh' es wohl, wünscht mein Herz, und jede Schlacht ziehe weit vor ihnen vorbei.«