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Joditz – Dorfidyllen
Verehrteste Herren und Frauen!
Sie finden jetzo den Professor der Selbergeschichte im Pfarrdorfe Joditz, wo er in einer Weiberhaube und einem Mädchenröckchen mit seinen Eltern eingezogen; die Saale, gleich mir am Fichtelgebirge entsprungen, war mir bis dahin nachgelaufen, so wie sie, als ich später in Hof wohnte, vorher vor dieser Stadt unterwegs vorbeiging. Der Fluß ist das Schönste, wenigstens das Längste von Joditz, und läuft um dasselbe an einer Berghöhe vorüber, das Örtchen selber aber durchschneidet ein kleiner Bach mit seinem Stege kreuzweise. Ein gewöhnliches Schloß und Pfarrhaus möchten das Bedeutendste von Gebäuden da sein. Die Umgegend ist nicht über zweimal größer als das Dörfchen, wenn man nicht steigt. – Und doch ist das Dorf für einen Professor der eignen Geschichte noch wichtiger als die Stadt der Geburt, weil er in ihm das Wichtigste, nämlich die Knabenolympiaden verlebte.
Niemals konnt' ich den 19 Städten, die sich (nach Suidas) um die Ehre homerische Geburtörter zu sein, zankten, meine Stimme geben, ebensowenig als den verschiednen holländischen Ortschaften, die (nach Bayle) sämtlich den Erasmus geboren haben wollten; denn sogar am Orte des Grabes konnten Einwohner mehr Anteil des Verdienstes – vielleicht auch Tadels – haben als an dem Orte der Wiege. Obgleich im ganzen so gar viele Fürsten in Residenzstädten geboren werden: so rühmen sich doch London, Paris, Berlin und Wien nicht damit; sonst müßten sich im umgekehrten Verhältnisse alle die Städte und Dörfer schämen, wo große Spitzbuben geboren worden. Höchstens Geburtländer möchten die Ehre der Geburtörter sich anmaßen dürfen, wenn in ihnen durch die Mehrheit guter Geburten etwas für ihren Himmelstrich und die Bewohner desselben entschieden wird; aber ein Pindar in Bäotien macht aus diesem noch keinen Schwalbensommer.
Aber die eigentliche Geburtstadt und zwar die geistige ist der erste und längste Erziehort; sogar schon für die weltberühmten Männer, welche Erziehung selten brauchen und selten gebrauchen; wieviel mehr aber für dorf- und stadtberühmte Mittel-Männer, wie mein Held ist, der so viel durch Erziehen und Verziehen gewonnen und der durch beides in Verbindung mit Lektüre (nur eine größere Er- und Verziehanstalt) wirklich das geworden, was er eben ist, ein Hildburghäuser Gesandtschaftrat, ein Heidelberger Doktor der Philosophie und nachher ein dreifaches Mitglied verschiedener Gesellschaften und gegenwärtiger unwürdiger Besitzer dieses selberhistorischen Professorats.
Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen. Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein. Das Leben erschöpft sich an ihm in der Knabenzeit und er hat nun nach dem Größten nichts mehr zu wünschen als höchstens das Kleinere, die Dorfschaften. Man gewinnt und errät aber nicht so viel, wenn man aus der Stadt ins Dorf kommt als umgekehrt aus Joditz nach Hof. Denk' ich vollends an das Wichtigste für den Dichter, an das Lieben: so muß er in der Stadt um den warmen Erdgürtel seiner elterlichen Freunde und Bekanntschaften die größern kalten Wende- und Eis-Zonen der ungeliebten Menschen ziehen, welche ihm unbekannt begegnen und für die er sich so wenig liebend entflammen oder erwärmen kann als ein Schiffvolk, das vor einem andern fremden Schiffvolk begegnend vorübersegelt. Aber im Dorfe liebt man das ganze Dorf und kein Säugling wird da begraben, ohne daß jeder dessen Namen und Krankheit und Trauer weiß; Joditzer haben sich alle ineinander hineingewohnt und hineingewöhnt; – und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens. – Und dann, wenn der Dichter aus seinem Dorfe wandert, bringt er jedem, der ihm begegnet, ein Stückchen Herz mit und er muß weit reisen, eh er endlich damit auf den Straßen und Gassen das ganze Herz ausgegeben hat. –
Allerdings gibt es noch ein größeres Unglück als das, in einer Hauptstadt erzogen zu sein – nämlich das, unterwegs erzogen zu werden als ein vornehmes Kind, das nun jahrelang durch fremde Städte und Menschen fährt und kein Haus kennt als den Kutschenkasten.
Wir nähern uns wieder mehr unserem Pfarrsohne, dessen Leben in Joditz ich am besten darzustellen glaube, wenn ich dasselbe später als einen ganzen Idyllenjahrgang vorüberziehen lasse. Aber wie Nebelwetter gehe das voraus, was nicht zu den hellen Tagen gehört – und dies ist mein Unterricht; obwohl freilich am Ende – erst nach 10 Jahren –- dieser Nebel fiel. Alles Lernen war mir Leben, und ich hätte mit Freuden, wie ein Prinz, von einem Halbdutzend Lehrern auf einmal mich unterweisen lassen, aber ich hatte kaum einen rechten. Noch erinnere ich mich der Winterabendlust, als ich aus der Stadt endlich das mit einem Griffel als Zeilenweiser versehene Abcbuch in die Hand bekam, auf dessen Deckel schon mit wahren goldnen Buchstaben (und nicht ohne Recht) der Inhalt der ersten Seite geschrieben war, der aus wechselnden roten und schwarzen bestand; ein Spieler gewinnt bei Gold und rouge et noir weniger an Entzücken als ich bei dem Buche, dessen Griffel ich nicht einmal anschlage. Damit bezog ich nun – nachdem ich bei meinem Innern Privatissima genug genommen und die tiefern Schulklassen durchgemacht – in einer grüntaftnen Haube, aber schon in Höschen (die Schulmeisterin ersetzte öffentlich dabei meine schwachen Händchen) die hohe Schule, nämlich die der Pfarrwohnung gegenübergelegene Schulmeisterwohnung und sagte gleich jedem auf mit dem Griffel. Wie gewöhnlich gewann ich alles Lebende in der Stube lieb, und den lungensüchtigen magern, aber aufgeweckten Schulmeister zuerst, mit welchem ich alle Wartangst teilte, wenn er hinter seinen zum Fenster hinausgehaltenen Finkenkloben auf einen anfliegenden Stieglitz lauerte, oder wenn er das Zuggarn über die Emmerlinge auf dem Vogelherde draußen im Schnee herüberzuschlagen vorhatte. Aus der grönländischen Winterschwüle der vollen Schulstube erinnre ich mich noch vergnügt der langen ausgestopften Zapfen aus Leinwand, welche in kleinen durch die Holzwand gebohrten Luftlöchern steckten und die man nur herauszuziehen brauchte, um in den offnen Mund die herrlichsten Erfrischungen von Luft aus dem Froste draußen einzunehmen. Jeder neue Schreibbuchstabe vom Schulmeister erquickte mich wie andere ein Gemälde; und um das Aufsagen der Lektion beneidete ich andere, da ich gern wie die Seligkeit des Zusammensingens auch die des Zusammenbuchstabierens genossen hätte.
War es 12 Uhr und das Essen noch nicht fertig: so konnte mir und meinem verstorbnen Bruder Adam, ob ihm gleich jedes Vogelnest lieber war als ein ganzer Musensitz, nichts Erwünschteres begegnen; denn wir flogen mit unserem Hunger in die Schule, um keine Minute zu versäumen, sondern ihn erst nachher zu stillen. Man machte viel aus dieser lernbegierigen Aufopferung; aber ich weiß noch gut, daß an ihr die gewöhnliche Neigung der Kinder, von der täglichen Ordnung abzuweichen, den größern Anteil hatte; wir wollten gern um 3 Stunden später essen; gerade so wie wir deshalb uns auf das Spätessen des Fast- und Bußtags freueten. Geht alles im Hause recht durcheinander – z. B. durch Ausweißen der Zimmer, oder gar durch Ausziehen in ein fremdes Haus oder durch Ankunft vieler Gäste – so wissen sich die kleinen Menschnarren nichts Schöneres.
Leider schloß ich mir selber durch eine unzeitige Klage bei meinem Vater, daß ein langer Bauersohn ( Zäh ist sein Name für die Nachwelt) mich mit einem Einlegmesser ein wenig auf die Fingerknöchel geschlagen, auf immer die Schulstube zu. Er, in seinem ehrgeizigen Zorne, gab nun mir und meinen Brüdern allein den Unterricht; und mir gegenüber mußt' ich jeden Winter die Schulkinder in einen Hafen einlaufen sehen, der mir versperrt war. Indes blieb mir doch die Nebenfreude, häufig dem Schulmeister die Bullen und Dekretalen seines Dorfpapstes zu überbringen und statt der römischen agnus dei oder geweihten Windeln und Rosen Christgeschenke, die Schlachtschüssel, oder sonst einen Teller mit Essen.
Vier Stunden vor- und drei nachmittags gab unser Vater uns Unterricht, welcher darin bestand, daß er uns bloß auswendig lernen ließ, Sprüche, Katechismus, lateinische Wörter und Langens Grammatik. Wir mußten die langen Geschlechtregeln jeder Deklination samt den Ausnahmen, nebst der beigefügten lateinischen Beispiel-Zeile lernen, ohne sie zu verstehen. Ging er an schönen Sommertagen über Land: so bekamen wir so verdammte Ausnahmen wie panis piscis zum Hersagen für den nächsten Morgen auf, von welchen mein Bruder Adam, dem der ganze lange Tag kaum zu seinem Herumrennen und Kindereien aller Art zulangte, gewöhnlich kein Achtel im Kopfe übrig hatte. Denn nur selten erlebte er das Glück, so köstliche Deklinationen wie scamnum oder gar wie cornu in der Einzahl, wovon er allerdings jedesmal wenigstens die lateinische Hälfte trefflich herzusagen wußte, aufgegeben zu bekommen. Übrigens glauben Sie mir, meine Herren und Frauen, wars gar nichts Leichtes, an einem blauen Juniustag, wo der Allherrscher Vater nicht zu Hause war, sich selber in einen Winkel festzusetzen und gefangen zu nehmen und zwei oder drei Seiten von Vokabeln desselben Buchstabens und ähnlichen Klanges auswendig zu lernen, an einem blauen langen Wonnetag, sag' ich, war es nichts Leichtes, sondern mehr an einem weißdunkeln kurzen Dezembertag und man muß sich nicht wundern, wenn mein Bruder Adam desfalls immer Schläge von solchen Tagen davontrug. Professor dieser eignen Geschichte darf aber den allgemeinen Satz aufstellen, daß er überhaupt niemal in seinem ganzen Schülerleben ausgeprügelt worden, weder gliederweise, geschweige vollends im ganzen; der Professor wußte immer das Seinige.
Nur werfe dieses bloße Auswendiglernenlassen kein falsches Licht auf meinen unverdroßnen und liebevollen Vater. Er, der den ganzen Tag dem Aufschreiben und Auswendiglernen der Predigten für seine Bauern opferte bloß aus überstrenger Amtgewissenhaftigkeit, da er die Kraft seiner improvisierenden Beredsamkeit mehrmal erfahren hatte, und er, der im wöchentlichen Besuche der Schulstube und im Verdoppeln öffentlicher Kinderlehren und überall die Pflichten mit Opfern überbot, und der mit einem weichen warmen Vaterherzen an mir am meisten hing und leicht über kleine Zeichen meiner Anlagen oder Fortschritte in frohes Weinen ausbrach, dieser Vater machte in seiner ganzen Erziehweise keine andern Fehler – so seltsame auch noch vorkommen mögen – als die des Kopfes, nicht des Willens.
Eigentlichen Schullehrern ist sogar diese Methode anzuempfehlen, weil bei keiner so viel Zeit und Mühe zu ersparen ist, als bei dieser wahrhaft bequemen, wo der Zögling am Buche den Vikarius oder Adjunktus des Lehrers oder dessen curator absentis bekommt und wie ein kräftiger Hellseher, sich selber magnetisiert. Ja dieses geistige Selberstillen der Kinder läßt eine solche Ausdehnung zu, daß ich mir getraue, durch die bloße Briefpost ganzen Schulen in Nordamerika vorzustehen oder in der alten Welt funfzig Tagreisen entfernten, indem ich meiner Schuljugend bloß schriebe, was sie täglich auswendig zu lernen hätte, und einen unbedeutenden Menschen hielte, dem sie es hersagte, und ich genösse das Bewußtsein ihrer schönen geistigen Fastensonntage reminiscere.
Im Speccius übersetzte ich auf Befehl viel vom Anfange ins Lateinische mit der Freude, womit ich jeden neuen Zweig des Lernens abbeerte; die letzte Hälfte desselben bracht' ich von selber ins Latein, aber ohne einen Korrektor der Fehler zu finden. Die Colloquia (Gespräche) in Langens Grammatik weissagt' ich mir deutsch aus Sehnsucht ihres Inhalts; aber mein Vater ließ mich in Joditz nichts übersetzen. In einer lateinisch geschriebnen Grammatik der griechischen Sprache studiert' ich durstig und hungrig das Alphabet und schrieb am Ende ziemlich griechisch, was nämlich die Handschrift anlangt. Wie gern hätt' ich mehr gelernt und wie leicht! Wenn nicht der Leib, doch der Geist einer Sprache fuhr leicht in mich hinein, wie die dritte Vorlesung unseres Winterhalbjahrs wohl der Welt am besten zeigen wird.
Nur einmal an einem Winter-Nachmittage – ich mochte etwa 8 oder 9 Jahre alt sein – als mein Vater ein kleines lateinisches Wörterbuch mit mir treiben wollte, d. h. es mich auswendig lernen lassen und ich ihm die erste Seite vorher abzulesen hatte: las ich lingua ungeachtet seiner Verbesserung nicht lingwa, sondern immer lin-gua; und wiederholte denselben Fehler allen Korrekturzeichen zum Trotze so oft, daß er wild wurde und in zorniger Ungeduld auf immer mir das Vokabelnbuch und dessen Erlernen entzog. Noch jetzo kann ich der Quelle dieser hartnäckigen Dummheit nicht auf den Grund kommen; mein Herz aber – dies sagt' es selber mir durch mein ganzes Leben hindurch – war mit keinem Mutwillen im Spiele, so wie überall nicht, so am wenigsten hier gegen den Vater, der mir ja durch ein neues Lernbuch eine neue Knabenlust anbot. Es wird aber absichtlich dieser historische Zug in unserem Hörsaale erzählt, damit die Unparteilichkeit des Geschichtforschers und Geschichtprofessors sich durch die Mängel erweise, auf die er sogar geradezu an einem Helden anerkennend hinweiset, den er sonst gern überall, wo nur Wahrheit es verstattet, im glänzendsten Licht vorführt. Übrigens aber wie oft sagen unverstanden und mißverstanden die armen unschuldigen Menschen im Leben lin-gua anstatt des so richtigen ling-wa, und noch dazu mit der Zunge (lingua), die zugleich auch Sprache bedeutet! –
Geschichte übrigens – sowohl alte als neue –, Naturgeschichte, ferner das Wichtigste aus der Erdbeschreibung, desgleichen Arithmetik und Astronomie so wie Rechtschreibung, alle diese Wissenschaften lernt' ich zwar hinlänglich kennen, aber nicht in Joditz – wo ich recht gut ohne ein Wort von ihnen zwölf Jahre alt wurde – sondern mehre Jahre später schriftlich und brockenweise aus der Allgemeinen Bibliothek. Desto lechzender war mein Durst nach Büchern in dieser geistigen Saharawüste. Ein jedes Buch war mir ein frisches grünes Quellenplätzchen, besonders der orbis pictus und die Gespräche im Reiche der Toten; nur war die Bibliothek meines Vaters, wie manche öffentliche, selten offen, ausgenommen wenn er nicht darin und daheim war. Wenigstens lag ich doch oft auf dem platten Dache eines hölzernen Gitterbettes (ähnlich einem vergrößerten Tierkäfig) und kroch wie der große Jurist Baldus auf Büchern, um eines für mich zu haben. Man erwäge nur, in einem volkleeren Dorfe, in einem einsamen Pfarrhause mußten für eine so hörbegierige Seele Bücher sprechende Menschen, die reichsten ausländischen Gäste, Mäzene, durchreisende Fürsten und erste Amerikaner oder Neuweltlinge für einen Europäer sein.