Jean Paul
Selberlebensbeschreibung
Jean Paul

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Ich verstand zwar die Quartbände der Gespräche im Reiche der Toten als ein historischer Abcschütz nicht im geringsten; aber ich las sie so gut wie die Zeitungen als ein geographischer, und konnte aus beiden viel berichten. So wie ich meinem Vater aus jenen erzählte – einmal abends ohne seine Mißbilligung die während seiner Abwesenheit gelesene Liebegeschichte der Roxelane mit dem türkischen Kaiser – so trieb ich es ebensoweit mit Zeitungen-Extrakten bei einer alten Edelfrau. Er bekam nämlich von seiner Patronatherrin Plotho in Zedwitz die Baireuther Zeitung geschenkt; monatlich, oder vierteljährig – sooft er eben nach Zedwitz ging – brachte er einen Monat- oder Vierteljahrgang auf einmal nach Hause und ich und er lasen sie mit Nutzen, eben weil wir sie mehr band- als blattweise bekamen. Eine politische Zeitung gewährt, nicht blatt- sondern heft- und bandweise gelesen, wahrhafte Berichte, weil sie erst im Spielraume eines ganzen Heftes Blätter genug zum Widerruf ihrer andern Blätter gewinnt, und sie kann gleich dem Winde ihre wahre Farbe nicht in einzelnen Stößen und Stücken zeigen, sondern nur in ihrem großen Umfang, wie eben gedachte Luft erst in Masse ihre himmelblaue Farbe. Gewöhnlich am Morgen trug ich meinen Neuigkeiten-Atlas in das Schloß zur alten Frau von Reizenstein und weissagte ihr am Kaffeetischchen eines und das andere von dem, was ich ihr gebracht, und ließ mich loben. Noch erinnere ich mich einer damals oft vorkommenden Mehrzahl »Konföderierte«. Höchst wahrscheinlich war in Polen der Plural; aber ich entsinne mich nicht des geringsten an ihnen genommenen Anteils, wahrscheinlich weil ich nichts vom ganzen Handel verstand. So parteilos und ruhig wurden nun in unserem Dorfe die polnischen Affären beurteilt, sowohl von mir als von der alten Frau von Reizenstein, meiner Zuhörerin.

Die lerndurstigen Wurzeln unsers Helden drängten und krümmten sich überall umher, um zu erfassen und zu saugen. Er verfertigte Uhren, bei denen ihm die Zifferblätter am besten gerieten und welche ihren Perpendikel und ein Rad und Gewichter hatten und gut standen. Sogar eine Sonnenuhr erfand er, indem er auf einem Holzteller ein Zifferblatt mit Dinte schrieb und den Teller mit dem Zeigerblech nach der Turmuhr stellte und befestigte; und so wußt' er häufig, welche Zeit es war. Zifferblätter macht' er, wie viele Staaten, am liebsten an Uhren und voraus und, wie Lichtenberg den Buchtitel, früher als das Werk. Den gegenwärtigen Schriftsteller zeigte schon im kleinen eine Schachtel, in welcher er eine Etui-Bibliothek von lauter eignen Sedezwerkchen aufstellte, die er aus den bandbreiten Papierabschnitzeln von den Oktavpredigten seines Vaters zusammennähte und zurechtschnitt. Der Inhalt war theologisch und protestantisch und bestand jedesmal aus einer aus Luthers Bibel abgeschriebenen kleinen Erklärnote unter einem Verse; den Vers selber ließ er im Büchelchen aus. So lag in unserem Friedrich Richter schon ein kleiner Friedrich von Schlegel, der gleichfalls in seinem Auszuge »Lessings Geist« dessen Meinungen über gewisse Schriftstellen auszog, die Stellen selber aber nicht besonders angab.

Gleicherweise warf sich unser Held auch auf die Malerei; mehre reitende Potentaten saßen oder vielmehr lagen ihm, wenn er mit einer Gabel alle ihre Züge so durchfuhr, daß ein fettiges Rußblatt unter ihnen sie mit der Kehrseite treffend auf einem weißen Blatte nachdruckte. Ob er nicht zu einem zweiten Raphael Mengs, den man nicht wie den ersten zu dem Malen hin, sondern von ihm weg zu prügeln hatte, unter einem andern Sonnenstande aufgeschossen wäre, weil sich daraus etwas vermuten lasse, daß er nach dem Geschenke eines Farbenkästchens den ganzen orbis pictus (die gemalte Welt) nach dem Leben durchgefärbt, das im Kästchen war, sollt' ich vor der Hand nicht glauben, so farbig auch in seiner Erinnerung die ersten rotgefleckten Lederbälle und die viereckten roten Ziegel und die von ihm geformten Schiefer und die herrlichen Farbenmuscheln im Kästchen und die grünlichen Goldkäfer noch nachschimmern. Es wäre nur um etwas weniges richtiger als wenn man aus seiner Kunst, im Winter Heringe zu machen, auf einen künftigen großen Kameralkorrespondenten schließen wollte. Sein Kunstgriff nämlich, sich auf dem Lande den Hering zu ersetzen in solcher Ferne von der Küste, bestand darin, daß er, wenn er Semmel holen mußte, in den Bach watete und leise einen Stein aufhob, worunter eine Grundel oder ein noch kleineres Fischchen zu fangen war. Diese tat er in einen ausgehöhlten Krautstrunk (er stellte eine Heringtonne vor) und salzte sie gehörig ein und so hätt' er, sobald das Tönnchen voll war, Heringe zu essen gehabt, wenn nicht alles gestunken hätte. Nicht besser, sonderte noch schlechter würden zu Vorläufern eines kleinen Kameralkorrespondenten Surrogat-Erfindungen wie solche sich eignen, daß er braun getrocknete Birnhälften für kleinere Schinken, in Scherben gebratene abgeschnittene Taubenfüße für ein fertiges Essen gab oder daß er Schnecken auf die Weide trieb. In der Tat äußerst lächerlich würde mir jeder künftige Geschichtforscher des gegenwärtigen Geschichtforschers sein, der aus aufgelesenen Bruchstücken, wie sie in jeder andern Kindheit umhergestreuet sind, etwas besonderes zusammenlesen wollte; der närrische Mann würde mir bloß wie jener Pariser Balbier vorkommen, der mit Beistand eines Jesuiten mehre Elefantenknochen zusammenstellte und sie für das wahre Gerippe des deutschen Riesen Teutobachs verkaufte. Nicht der Bart macht einen Philosophen, obwohl einen Matrosen oder einen Missetäter, wenn beide damit aus Schiff und Kerker steigen, weil sie darin nicht unter das Balbiermesser kommen.

Da die uferlose Tätigkeit unseres Helden sich mehr auf geistige als auf körperliche Spiele warf – die er aber alle mit unsäglicher Wollust trieb –: so erfand er auch statt neuer Sprachen neue Buchstaben. Er nahm geradezu die Kalenderzeichen – oder geometrische aus einem alten Buche – oder chemische – oder neueste aus seinem Kopfe und setzte daraus ein ganz neues Alphabet zusammen. Hatt' er es fertig: so war sein erstes, daß er selber von seinem alphabetischen Solitär Gebrauch machte und eine oder ein paar Seiten voll abgeschriebner Materien darein kleidete. So war er zwar sein eigner Geheimschreiber und Versteckens-Spieler mit sich selber: konnte aber doch – ohne nur in die Büttnerschen Vergleichtafeln aller Schriftarten zu gucken – auf der Stelle seine neue so leicht weglesen wie eine gewöhnliche, weil er diese eben buchstabenweise schon als Steckbrief unter die heimliche gestellt und er bloß nachzusehen brauchte. Diesmal könnte man es vielleicht dem mehr besagten Geschichtforscher weniger verdenken, wenn er aus diesem Verziffern und Entziffern, das schon in so früher Zeit weniger im Inhalte als in der Einkleidung seinen Wert setzte, eine Anlage zu einem Gesandtschaftrate oder wirklichen Gesandten sehen wollte; und in der Tat hab' ich später mir den Charakter eines Legationrates erworben und könnte noch heute manches verziffern.

Der Tonkunst war meine Seele (vielleicht der väterlichen ähnlich) überall aufgetan und sie hatte für sie hundert Argus-Ohren. Wenn der Schulmeister die Kirchengänger mit Finalkadenzen heimorgelte; so lachte und hüpfte mein ganzes kleines gehobnes Wesen wie in einen Frühling hinein; oder wenn gar am Morgen nach den Nachttänzen der Kirchweihe, welchen mein Vater am nächsten Sonntage lauter donnernde Bannstrahlen nachschickte, zu seinem Leidwesen die fremden Musikanten samt den gebänderten Bauerpurschen vor der Mauer unseres Pfarrhofes mit Schalmeien und Geigen vorüberzogen: so stieg ich auf die Mauer und eine helle Jubelwelt durchklang meine noch enge Brust und Frühlinge der Lust spielten darin mit Frühlingen und an des Vaters Predigten dacht' ich mit keiner Silbe. Stunden widmete ich auf einem alten verstimmten Klaviere, dessen Stimmhammer und Stimmeister nur das Wetter war, dem Abtrommeln meiner Phantasien, welche gewiß freier waren als irgend kühne in ganz Europa, schon darum, weil ich keine Note kannte und keinen Griff und gar nichts; denn mein so klavierfertiger Vater wies mir keine Taste und Note. Aber wenn ich doch zuweilen – wie gute neue Tonsetzer für Seil- und Hexentänze und Finger auf Klaviersaiten – eine kurze Melodie oder Harmonie von drei bis sechs Saiten aufgriff: so war ich ein seliger Mann und wiederholte den Fingerfund so unaufhörlich wie jeder gute neuere deutsche Dichter einen Gehirnfund von Manier, womit er den ersten Beifall gefunden; weil er freundlicher handelnd als Heliogabalus, der den Koch einer schlechten Brühe so lange zum Fortessen derselben verurteilte, bis er eine bessere ausgeforscht, umgekehrt die Lesewelt vielmehr mit einer trefflichen Brühe so viele Leipziger Messen hindurch bewirtet bis sie so abgestanden schmeckt wie die schlechte des kaiserlichen Kochs.

In der künftigen Kulturgeschichte unsers Helden wird es zweifelhaft werden, ob er nicht vielleicht mehr der Philosophie als der Dichtkunst zugeboren war. In frühester Zeit war das Wort Weltweisheit – jedoch auch ein zweites Wort Morgenland – mir wie eine offne Himmelpforte, durch welche ich hineinsah in lange lange Freudengärten. Nie vergeß' ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht »ich bin ein Ich« wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen in eine bloß im verhangnen Allerheiligsten des Menschen vorgefallne Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, sich mit Zusätzen mengen konnte.

Um das Joditzer Leben unsers Hans Paul – denn so wollen wir ihn einige Zeit lang nennen, jedoch immer mit andern Namen abwechseln – am treuesten darzustellen, tun wir glaub' ich am besten, wenn wir dasselbe durch ein ganzes Idyllenjahr durchführen und das Normaljahr in vier Jahrzeiten als ebenso viele Idyllenquatember abteilen; vier Idyllen erschöpfen sein Glück.

Niemand übrigens wundere sich über ein Idyllenreich und Schäferweltchen in einem kleinen Dörfchen und Pfarrhaus. Im schmalsten Beete ist ein Tulpenbaum zu ziehen, der seine Blütenzweige über den ganzen Garten ausdehnt; und die Lebenluft der Freude kann man aus einem Fenster so gut einatmen als im weiten Wald und Himmel. Ist denn nicht selber der Menschengeist (mit allen seinen unendlichen Himmelräumen) eingepfählt in einen fünf Fuß hohen Körper mit Häuten und malpighischem Schleim und Haarröhren und hat nur fünf enge Weltfenster von fünf Sinntreffen aufzumachen für das ungeheure rundaugige und rundsonnige All; – und doch sieht und wiedergebärt er ein All.

Kaum würd' ich wissen, mit welchem unter den vier Idyllenquatembern anzufangen wäre, da jeder ein kleiner Vorhimmel des nächsten ist; indes gerät doch, wenn wir mit dem Winter und Januar anheben, das Steigern der Freuden am besten. In der Kälte war der Vater, wie ein Senne, gewöhnlich von der Treppenhöhe der Studierstube herabgezogen und hielt zur Freude der Kinder sich in der Ebene der allgemeinen Wohnstube auf. Am Morgen saß er an einer Fensterecke und lernte seine Sonntag-Predigt auswendig und wir drei Brüder Fritz (das bin ich selber) und Adam und Gottlieb (denn Heinrich kam erst gegen das Ende des Joditzer Idyllenlebens dazu) trugen abwechselnd die volle Kaffeetasse zu ihm, um noch froher die leere zurückzuholen, weil der Träger die ungeschmolzenen Reste des gegen Husten genoßnen Kandiszucker frei aus ihr nehmen durfte. Draußen deckte zwar der Himmel alles mit Stille zu, den Bach durch Eis, das Dorf mit Schnee; aber in der Wohnstube war Leben, unter dem Ofen ein Taubenstall, an den Fenstern Zeisig- und Stieglitzenhäuser, auf dem Boden die unbändige Bullenbeißerin, unsere Bonne, der Nachtwächter des Pfarrhofs, und ein Spitzhund und der artige Scharmantel, ein Geschenk der Frau von Plotho, – und darneben die Gesindestube mit zwei Mägden; und weiter gegen das andere Ende des Pfarrhauses der Stall mit allem möglichen Rind-, Schwein- und Federvieh und dessen Geschrei; unsere auch vom Pfarrhofe umschloßne Drescher könnt' ich mit ihren Flegeln auch rechnen. So von lauter Gesellschaft umgeben brachte nun leicht der ganze männliche Teil der Wohnstube den Vormittag mit Auswendiglernen nahe neben dem weiblichen Kochen zu.

Ferien fehlen keinem Geschäfte in der Welt; und so hatt' auch ich die Luftferien, – ähnlich den Brunnenferien – daß ich in den Schnee des Hofs gehen durfte und an die dreschende Scheune. Ja, war im Dorfe ein schweres Redegeschäft auszurichten, z. B. bei dem Schul-, oder bei dem Schneidermeister, so wurde ich dahin mitten aus meinen Lerngeschäften verschickt; und so kam ich denn immer ins Freie und Kalte und konnte mich mit dem neuen Schnee messen. Mittags konnten wir Kinder noch vor unserem Essen die hungrige Freude haben, daß wir die Drescher in der Gesindstube einbeißen und aufessen sahen.

Der Nachmittag wurde schon bedeutender und freudenreicher. Der Winter verkürzte und versüßte die Lernstunden. In der langen Dämmerung ging der Vater auf und ab und die Kinder trabten unter seinem Schlafrock nach Vermögen an seinen Händen. Unter dem Gebetläuten stellten sich alle in einen Kreis und beteten das Lied einstimmig ab: »Die finstre Nacht bricht stark herein.« Nur in Dörfern – nicht in der Stadt, wo es eigentlich mehr Nacht- als Tagarbeiten und Freuden gibt – hat das Abendläuten Sinn und Wert und ist der Schwanengesang des Tags; die Abendglocke ist gleichsam der Dämpfer der überlauten Herzen und ruft wie der Kuhreigen der Ebene die Menschen von ihren Läufen und Mühen in das Land der Stille und des Traums. – Nach dem süßen Warten auf den Mondaufgang des Talglichtes unter der Türe des Gesindestübchens, wurde die weite Wohnstube zu gleicher Zeit erleuchtet und verschanzt; nämlich die Fensterladen wurden zugeschlossen und eingeriegelt und das Kind fühlte nun hinter diesen Fensterbasteien und Brustwehren sich traulich eingehegt und hinlänglich gedeckt gegen die verdammten Spitzbuben, und auch gegen den Knecht Ruprecht, der draußen nicht hereinkam sondern nur vergeblich brummte


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