Jean Paul
Selberlebensbeschreibung
Jean Paul

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In meinen historischen Vorlesungen wird zwar das Hungern immer stärker vorkommen – bei dem Helden steigts sehr – und wohl so oft als das Schmausen in Thümmels Reisen und das Teetrinken in Richardsons Clarisse; aber ich kann doch nicht umhin, zur Armut zu sagen: sei willkommen, sobald du nur nicht in gar zu späten Jahren kommst. Reichtum lastet mehr das Talent als Armut und unter Goldbergen und Thronen liegt vielleicht mancher geistige Riese erdrückt begraben. Wenn in die Flammen der Jugend und vollends der heißen Kräfte zugleich noch das Öl des Reichtums gegossen wird: so wird wenig mehr als Asche vom Phönix übrig bleiben; und nur ein Goethe hatte die Kraft, sogar an der Sonne des Glücks seine Phönixflügel nicht kürzer zu versengen. Der arme historische Professor hier möchte um vieles Geld nicht in der Jugend viel Geld gehabt haben. Das Schicksal macht es mit Dichtern wie wir mit Vögeln und verhängt dem Sänger so lange den Bauer finster, bis er endlich die vorgespielten Töne behalten, die er singen soll.

Nur aber verschone, gerechtes Geschick, einen alten Menschen mit Darben! Der, gerade dieser soll und muß etwas haben; seinen Rücken haben schon die schweren Jahre zu krumm gebogen, und er kann sich nicht mehr aufrichten und wie Jünglinge Lasten leicht tragen auf dem Kopfe. Der alte Mensch braucht die Ruhe in der Erde schon auf ihr; denn er hat ja keine pflanzende blühende Zukunft mehr als Folie für seine Gegenwart. Er will zwei Schritte vom letzten und tiefsten Schlafbette ohne andere Vorhänge als Blumen im Großvaterstuhl des Alters noch ein wenig ruhen und schlummern und noch einmal halb im Schlafe die Augen aufmachen und die alten Sterne und Wiesen seiner Jugend anschauen, und ich habe so wenig dagegen – da er doch sein Wichtigstes getan hat, sogar für die andere Welt – wenn er sich abends freuet auf sein Frühstück und am Morgen auf sein Bett und wenn ihn als zum zweiten Male ein Kind die Welt unter den unschuldigen Sinnenfreuden entläßt, womit sie ihn als erstes aufgenommen.

Nur einen einzigen Fehlentschluß meines Vaters könnte man vielleicht auf die Rechnung der Dürftigkeit setzen, daß er nämlich anstatt sein ganzes musikalisches Herz der Tonmuse zu geloben, wie ein Mönch sich dem Predigtamte hingab und daß er sein Ton-Genie in eine Dorfkirche begraben ließ. Freilich war damals – zumal nach der Meinung bürgerlicher Schwiegereltern – das Kirchenschiff das Proviant- und Luftschiff und der dürftige Musensohn suchte in den Kanzelhafen einzulaufen. Aber wer eine nicht von Bedürfnissen und Abrichtungen aufgedrungne mit ihm aufgewachsene Deklination und Inklination seiner Magnetnadel in sich fühlt: der folge ihrer Weisung getrost als einer Nadel durch die Wüste hin. Hätte gegenwärtiger Professor der eignen Geschichte seinem Vater, wie dieser es selber begehrte, nachgeahmt: so hielte er jetzo statt dieser Vorlesungen heilige Amtreden, sowohl Kasual- als andere Reden und etwan im »allgemeinen Magazin für Prediger« dürft' er stehen, nur leider dasselbe über Gebühr anschwellend.

Aber mein Vater wurde im Grunde weder sich noch der Ton-Muse untreu. Besuchte sie ihn denn nicht als alte Geliebte im Nonnengewande der heiligen Jungfrau und brachte ihm im einsamen tonlosen Pfarrdorf Joditz jede Woche Kirchenmusiken mit? – Und auf der andern Seite wohnte noch eine andere Kraft neben seiner musikalischen in ihm und suchte ihren Spielraum, die Kanzel; denn wenn gewöhnlich der große Tonkünstler nach einer alten Bemerkung nur das sinnliche Trinken und nach Lavater das sinnliche Essen sucht und so der Kapellmeister als sein Selbkellermeister und als sein Selbspeisemeister erscheint: so hört man eben nicht, daß sie besondere Kanzelredner dabei waren. Beredsamkeit, die prosaische Wand- und Türnachbarin der Poesie, wohnte im Predigerherzen meines Vaters; und dieselben Sonnenstrahlen des Genius, die am Morgen seines Lebens in ihm wie in einem Memnons-Bild Wohllaute weckten, wurden später auf der Kanzel warmes Licht und endlich der Donner der Gesetzpredigten.

– Ich merke wohl, meine Zuhörer, daß ich lange von meinen Anverwandten rede und sie sehr lobe; aber ich will ja sogleich von mir zu reden anfangen und kaum damit aufhören. Zwar das Lob selber, das ich meinen Vätern hier erteile, käme ihm, wenn er noch lebte, noch so bedeutend vor als es mir selber leer erscheint, wenn ich mir ihn in der Ewigkeit vorstelle, wo er sich unter den Seligen nicht sonderlich damit brüsten wird, daß er im Jahr 1818 von meinem Lehrstuhl herab wieder als Kirchenkomponist der Baireuther Markgrafschaft ausgerufen worden; – und ganz dasselbe und dieselbe Kälte gegen alles Loben soll mein Sohn von mir voraussetzen, wenn er einst in der Zeit, wo ich schon ein Seliger bin, den allgemeinen Beifall, den meine Werke gewonnen, feurig der Welt erzählt; er soll aber, sowenig als ich, deshalb kälter oder kürzer malen.

Meine verehrtesten Herren, ich würde überhaupt Ihnen zehnmal lieber historische Vorlesungen über meine Voreltern halten als über mich selber. Wie anders gestaltet sich die sonst uns fremdartige Vorzeit, wenn unsere Verwandten durch sie ziehen und sie mit unserer Gegenwart verbrüdern und verketten! Und zu beneiden ist der Mann, welchen die Geschichte von Voreltern zu Voreltern namentlich zurückbegleitet und ihm eine graue Zeit in eine grüne umfärbt. Denn wir können uns die Zeiten, worin unsere Vor- und Ureltern lebten, und diese selber sogar in ihrem Alter nicht anders als im Jugendglanz und Jugendfrische denken, so wie wir unsere Nachwelt uns eigentlich aus Greisen, nicht aus Jünglingen zusammensetzen. – –

Ich kehre endlich zu dem Helden und Gegenstande unserer historischen Vorlesungen zurück und hebe besonders den Umstand heraus, daß ich in Wonsiedel (unrichtiger Wunsiedel), einer Stadt am Fichtelgebirge, geboren bin. Das Fichtelgebirge, fast die höchste Gegend Deutschlands, gibt seinen Anwohnern Gesundheit (sie können am ersten das Alexandersbad entbehren) und starken hochgebaueten Wuchs; und der Professor läßt seine Zuhörerinnen entscheiden, ob er in seiner Lehrkanzel als Bestätigung davon oder als Ausnahme erscheint. Verdrüßlich ists übrigens für einen Mann, der am liebsten in seiner Geburtstadt sich einen Namen machen will, daß die Wonsiedler gerade das R bei Mitte und Ende der Wörter verschlucken, mit welchem doch bekanntlich der Name Richter beginnen und beschließen muß. Übrigens standen von jeher die Wonsiedler mit den Lorbeerkränzen der Kriegtapferkeit da, die ich von ihnen als meinen Geburtstadt-Ahnen mir wünschen muß; und es ist hinlänglich bekannt, wie sie den Hussiten widerstanden und obgesiegt; und ich bin, wenn man statt der Hussiten Rezensenten setzt, vielleicht nicht aus der tapfern Art geschlagen, wenn man meine Siege über meine Feinde zählen will, vom Hussiten Nicolai an bis zum Hussiten Merkel. – Von jeher war in Wonsiedel, der sechsten Stadt in den sogenannten Sechsämtern, wenigstens für Patriotismus und für Vereine zu Hülfe und zu Recht, ein sechster Schöpfungtag und deutsche Treue und Liebe und Kraft hielten sich da auf. – Ich bin gern in dir geboren, Städtchen am langen hohen Gebirge, dessen Gipfel wie Adlerhäupter zu uns niedersehen! – Deinen Bergthron hast du verschönert durch die Thronstufen zu ihm; und deine Heilquelle gibt die Kraft – nicht dir, sondern dem Kranken, hinaufzusteigen zum Thronhimmel über sich und zum Beherrschen der weiten Dörfer- und Länderebene. – Ich bin gern in dir geboren, kleine, aber gute lichte Stadt! –

Es ist eine bekannte Beobachtung, daß die Erstgebornen gewöhnlich weiblichen Geschlechtes sind. Von dieser Beobachtung macht der Gegenstand dieser Geschichte keine Ausnahme ungeachtet seines Rechts der Erstgeburt; denn da die Eltern im Oktober 1761 getrauet und er 1763 im März geboren worden: so ging ihm (wie er gehört) ein Wesen – für die Erde nur ein Schatten – voraus; und fing vielleicht, ohne das Licht der Weit erblickt zu haben, im Lichte einer andern das Dasein an.

Tief hinunterreichende Erinnerungen aus den Kindjahren erfreuen, ja erheben den bodenlosen Menschen, der sich in diesem Wellendasein überall festklammern will, unbeschreiblich und weit mehr als das Gedächtnis seiner spätern Schwungzeiten; vielleicht aus den zwei Gründen, daß er durch dieses Rückentsinnen sich näher an die von Nächten und Geistern bewachten Pforten seines Lebens zurückzudrängen meint und daß er zweitens in der geistigen Kraft eines frühen Bewußtseins gleichsam eine Unabhängigkeit vom verächtlichen kleinen Menschkörperchen zu finden glaubt. Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr liebgehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert. –

Da mein Vater schon im Jahre 1765 als Pfarrer nach Joditz berufen worden: so kann ich mein Wonsiedler Kindheitreliquiarium desto reiner von den ersten frühen Joditzer Reliquien und Erinnerungen abscheiden.

Das Pfarrdorf ist nun der zweite Aufzug dieses kleinen historischen Monodramas, wo Sie, hochgeehrteste Herren und Frauen, den Helden des Stücks schon in ganz andern Entwicklungen antreffen werden in der zweiten Vorlesung. Denn jede Vorlesung spielt an einem andern Wohnorte. Es ist überhaupt die ganze Geschichte dieser Vorlesungen – oder die Vorlesungen dieser Geschichte – so kunstmäßig und glücklich durch alles geordnet, daß von den gewöhnlichen drei Einheiten eines historischen Stücks nur nach der ersten des Orts – da ich ja in den verschiedenen Orten meines Aufenthaltes vorkommen und auftreten muß – keine weiter als die Einheit der Zeit verletzt wird, weil der Held vom Antritt seines Lebens bis zum Antritt seiner Professur ja immer aus einer Zeit in die andere gehen muß, noch abgerechnet, daß er unter dem Darstellen und Spielen des Stücks ja selber durch Älterwerden die Einheit der Zeit beleidigt. Dafür entschädigt aber die durchgängige Einheit des Interesses, die schwerlich größer zu denken ist. Schon hebt aber das Steigen unseres Helden an und wir haben die Freude, die historische Person, die wir als bloßen Tertiussohn in der ersten Vorlesung verlassen, schon nach zwei Jahren als Pfarrsohn in der zweiten anzutreffen; denn 1765 wurde mein Vater nach Joditz voziert von der Freifrau von Plotho in Zedwitz, eine geborne Bodenhausen, die Gemahlin desselben Plotho, der unter Friedrich dem Einzigen im Reichstag einen österreichischen Gesandten geradezu aus Gründen die Treppe herabgeworfen.


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