Jean Paul
Selberlebensbeschreibung
Jean Paul

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Um dieselbe Zeit geschah es dann, daß wir Kinder uns auskleiden und in bloßen langen Schlepphemden herumhüpfen durften. Idyllenfreuden verschiedner Arten wechselten. Entweder trug der Vater in eine mit leeren Folioblättern durchschoßne Quartbibel bei jedem Verse die Nachweisung auf das Buch ein, worin er über ihn etwas gelesen; oder er hatte gewöhnlicher sein rastriertes Folioschreibbuch vor sich, worauf er eine vollständige Kirchenmusik mit der ganzen Partitur mitten unter dem Kinderlärmen setzte: in beiden Fällen, in letztem aber am liebsten sah ich dem Schreiben zu und freuete mich besonders, wenn durch Pausen mancher Instrumente schnell ganze Viertelseiten sich füllten. Er dichtete seine innere Musik ohne alle äußere Hülftöne – was auch Reichard den Tonsetzern anriet – und unverstimmt von Kinderlärm. Wir saßen spielend alle am langen Schreib- und Eßtische, ja sogar auch unter ihm. Unter die Freuden, welche auf immer der schönen Kinderzeit nachsinken, gehört auch die, daß zuweilen ein so grimmiges Frostwetter eintrat, daß der lange Tisch der Wärme wegen an die Ofenbank geschoben wurde –, und wir hofften in jedem Winter auf dieses frohe Ereignis. Um den Kutschkasten von unförmlichem Ofen liefen nämlich zwei Holzbänke; und unser Gewinn bestand darin, daß wir auf ihnen sitzen und laufen konnten, und daß wir Ofensommer nah an der Haut sogar unter der Mahlzeit hatten.

Wie stieg wöchentlich mehrmal der Winterabend an Wert, wenn die alte Botenfrau mit Schnee überzogen mit ihrem Frucht- und Fleisch- und Warenkorbe aus der Stadt in der Gesindestube einlief und wir alle im Stübchen die ferne Stadt im kleinen und Auszuge vor uns hatten und vor der Nase wegen einiger Butterwecken!

In den frühern kindischern Zeiten wurde vom Vater nach dem frühen Abendessen noch ein Lustnachtisch des Winterabendes erlaubt, welchen die Viehmagd am Spinnrocken in der Gesindestube bei aller der Beleuchtung auftrug, welche die Kienspäne geben konnten, die man wie in Westfalen von Zeit zu Zeit in den Kienstock angezündet steckte. Auf diesem Nachtisch stand nun – außer mehren Konfekttellern und Eistassen mit Volkmärchen wie der Aschenbrödel – die von der Magd selber erzeugte Ananas von Geschichte eines Schäfers und seiner Tiergefechte mit Wölfen, wie zur einen Zeit die Gefahr immer größer wurde, und zur andern seine Verproviantierung. Noch fühl' ich das Glücksteigen des Schäfers als ein eignes nach; und merke dabei nur aus eigner Erfahrung an, daß Kinder in Erzählungen von den Steigerungen des Glücks weit mehr als von denen des Unglücks ergriffen werden und daß sie die Himmelfahrten ins Unendliche hinauf-, aber die Höllenfahrten nur so tief hinabgetrieben wünschen als zur Verherrlichung und Erhöhung des Himmelthrones nötig ist. Diese Kinderwünsche werden Männerwünsche; und man würde deren Erfüllung auch vom Dichter öfter fodern, wäre nur ein neuer Himmel so leicht zu schaffen als eine neue Hölle. Aber jeder Tyrann kann unerhörte Schmerzen geben; aber unerhörte Freuden zu erfinden muß er selber Preise aussetzen. Die Grundlage davon ist die Haut; auf ihr können hundert Höllen von Zoll zu Zoll ihr Lager aufschlagen; aber die fünf Sinnenhimmel schweben luftig und einfarbig über uns. –

Nur das Ende der Winterabende streckte für den Helden eine verdrüßliche Wespenstachelscheide oder Vampyrenzunge aus. Wir Kinder mußten uns nämlich um 9 Uhr in die Gaststube des zweiten Stocks zu Bett begeben, meine Brüder in ein gemeinschaftliches in der Kammer und ich in eines in der Stube, das ich mit meinem Vater teilte. Bis er nun unten sein zweistündiges Nachtlesen vollendet hatte: lag ich oben mit dem Kopfe unter dem Deckbette im Schweiße der Gespensterfurcht, und sah im Finstern das Wetterleuchten des bewölkten Geisterhimmels und mir war als würde der Mensch selber eingesponnen von Geisterraupen. So litt ich nächtlich hülflos zwei Stunden lang, bis endlich mein Vater heraufkam und gleich einer Morgensonne Gespenster wie Träume verjagte. Am andern Morgen waren die geisterhaften Ängste rein vergessen wie träumerische; obgleich beide abends wieder erschienen. Jedoch hab' ich nie jemand anderem etwas davon gesagt als der – Welt heute.

Dieser Geisterscheu wurde allerdings durch meinen Vater selber – erzeugt nicht sowohl als – ernährt. Er verschonte uns mit keiner von allen Geistererscheinungen und Geisterspielen, wovon er gehört ja selber einige erfahren zu haben glaubte; aber er verband wie die alten Theologen, zugleich mit dem festen Glauben daran den festen Mut davor und Gott oder das Kreuz war ihr Schild gegen das Geisterall. Manches Kind voll Körperfurcht zeigt gleichwohl Geistermut, aber bloß aus Mangel an PhantasieManchen Proseseelen sollte man ein bißchen Geisterfurcht als Religion und Poesie einimpfen oder lassen. ; ein anderes hingegen – wie ich – bebt vor der unsichtbaren Welt, weil die Phantasie sie bevölkert und gestaltet, und ermannt sich leicht vor der sichtbaren, weil diese die Tiefen und Größen der unsichtbaren nie erreicht. So machte mich eine, auch schnelle, körperliche Gefahrerscheinung – z. B. ein herrennendes Pferd, ein Donnerschlag, ein Krieg-, ein Feuerlärm – nur ruhig und gefaßt, weil ich nur mit der Phantasie, nicht mit den Sinnen fürchte; und sogar eine Geistergestalt würde, hätt' ich nur den ersten Schauder überlebt, mir sogleich zu einem gemeinen Körper des Lebens gerinnen, sobald sie nicht wieder durch Mienen und Laute mich ins endlose Reich der Phantasie überstürzte. Wie aber ist nun vom Erzieher der tragischen Übermacht der geisterrufenden Phantasie zu wehren? Nicht durch Widerlegen und durch Biestersche und Wagnersche Auflösungen des Ungemeinen ins Alltägliche – denn die Möglichkeit der unaufgelöseten Ausnahmen bleibt ja festgehalten vom tiefsten Gefühl – sondern einesteils durch prosaisches Angewöhnen, Vorführen und Einquartieren an Orte und Zeiten, welche sonst die Phantasie zu ihrem Zauberrauche anzündeten, und andernteils dadurch, daß man die Phantasie selber gegen die Phantasie bewaffnet und den Geistern den Geist gegenüberstellt, dem Teufel Gott und Recht.

Sogar am Tage befiel mich bei einer besondern Gelegenheit zuweilen die Gespensterscheu. Wenn nämlich bei einem Begräbnis der Leichenzug mit Pfarrer, Schulmeister und Kindern und Kreuz und mir von der Pfarrwohnung an bei der Kirche vorüber zu dem Kirchhof neben dem Dorfe sich mit seinem Singgeschrei hinausbewegte, so hatt' ich die Bibel meines Vaters durch die Kirche in die Sakristei zu tragen. Erträglich und herzhaft genug ging es im Galopp durch die düstere stumme Kirche bis in die enge Sakristei hinein; aber wer von uns schildert sich die bebenden grausenden Fluchtsprünge vor der nachstürzenden Geisterwelt auf dem Nacken und das grausige Herausschießen aus dem Kirchentore? Und wenn einer sichs schildert, wer lacht nicht? – Indes übernahm ich jedesmal das Trägeramt ohne Widerrede und behielt mein Entsetzen still bei mir.

Wir kommen jetzo in eine größere Idyllenzeit, in den Joditzer Frühling und Sommer. Beide Jahrzeiten fallen aus Gründen in eine Idylle zusammen, zumal auf dem Lande. Eigentlich wohnt der Frühling nur im Herzen, außen in Beeten gibt es bloß Sommer, der überall nur auf Früchte und Gegenwart berechnet ist. Nur der Schnee ist der Vorhang, der bloß von der Bühne oder Erde aufgezogen zu werden braucht, so fangen für das Dorf – denn die Stadt hat ihre Lustbarkeiten nur im Winter – die Sommerlustbarkeiten an; denn schon Ackern und Säen sind dem Landmann Lenzernten und jeder Tag bringt für einen Pfarrer, der seinen Feldbau hat, und für seine immer eingesperrten Söhne neue Szenen. Da werden wir armen vom ganzen Winter und Kerkermeister in den Pfarrhof eingeschloßnen Kinder, durch den vom Himmel gesandten Engel der Jahrzeit befreiet und hinausgelassen in die freien Felder und Wiesen und Gärten. Da wird geackert – gesäet – gepflanzt – gemäht – Heu gemacht – Korn geschnitten – geerntet – und überall steht der Vater dabei und hilft mit und die Kinder helfen ihm nach, besonders ich als ältestes. Ihr lieben Zuhörer solltet nur wissen, was das heißt, auf einmal nicht etwa aus Stadtmauern, welche viel Feld umschließen, sondern aus Hofmauern, und zwar sogar über das ganze Dorf hinweg zu kommen in mauerfreie Bezirke hinaus und in das Dorf von oben zu sehen, in das man nicht von unten gesehen.

Mein Vater stand aber neben den Feldarbeiten nicht als ein Fronvogt (obwohl sie durch Fronbauern geschehen), sondern als freundlicher Seelenhirt, der an der Natur und an den Beichtkindern zugleich Anteil nahm. Wenn ich andere Geistliche und Rittergutbesitzer und Geizige so reichlich vom Kopf bis zum Fuße ausgerüstet sehe mit Saugerüsseln, Saugestacheln und allen Einsauggefäßen, so daß sie immer an sich ziehen: so find' ich bei meinem Vater leider das äußere Einsaugsystem fast in gar zu siechem schwachen Zustande und er dachte zehnmal des Tags wohl an das Geben – er hatte nur aber wenig dazu – aber kaum einmal an das Nehmen, womit er doch sich selber hätte etwas geben können; und wenn ich später an so manchem Mensch-Insekt gute Freßzangen zu bewundern hatte, so hielt er weiter nichts als Geburtzangen in der Hand, welche bloß fremdes Leben hervorziehen und befestigen. Himmel! wie anders – und warum sieht man es nicht mehr ein – sind rechte Kauf- und Pfarr- und Edelleute, welche, da sie auch wissen, was sich gehört, ihre Hand als einen guten Vogelkloben gebrauchen, welcher sich nur auf- und zumacht zum Fangen, und die nur die Hand eröffnen, um sie zuzuschließen.

Jetzo fing das Leben in dem, nämlich unter dem Himmel an. Die Morgen glänzen mir noch mit unvertrocknetem Tau, an welchen ich dem Vater den Kaffee in den außer dem Dorfe liegenden Pfarrgarten trug, wo er im kleinen nach allen Seiten geöffneten Lusthäuschen seine Predigt lernte, so wie wir Kinder den Lange später im Grase. Der Abend brachte uns zum zweiten Male mit der Salat brechenden Mutter in den Garten vor die Johannis- und die Himbeeren. Es gehört unter die unbekannten Landfreuden, daß man abends essen kann ohne Licht anzuzünden. Nachdem wir diese genossen hatten, setzte sich der Vater mit der Pfeife ins Freie, d. h. hinaus in den ummauerten Pfarrhof, und ich samt den Brüdern sprang im Hemdtalare in der frischen Abendluft herum und wir taten als seien wir die noch kreuzenden Schwalben über uns und wir flogen behend hin und her und trugen etwas zu Nest.

Der schönste Sommervogel indes, ein zarter blauer Schmetterling, welcher den Helden in der schönen Jahrzeit umflatterte, war seine erste Liebe. Es war ein blauaugiges Bauermädchen seines Alters, von schlanker Gestalt, eirundem Gesicht mit einigen Blatternarben, aber mit den tausend Zügen, welche eben wie Zauberkreise das Herz gefangennehmen. Augusta oder Augustina wohnte bei ihrem Bruder Römer, ein feiner Jüngling, als guter Sänger im Chore und als Rechner bekannt. Zu einer Liebeerklärung kam es zwar bei Paul nicht – sie müßte denn meine Vorlesung gedruckt in die Hand bekommen – aber von weitem spielte er doch seinen Roman lebhaft so, daß er in der Kirche von seinem Pfarrstuhle aus sie in ihrem Weiberstuhle ziemlich nahe genug ansah und nicht satt bekam. Und doch war dies nur Anfang – denn wenn sie abends ihre Weidekühe nach Hause trieb, die er am unvergeßlichen Glockengeläute erkannte, so kletterte er auf die Hofmauer, um sie zu sehen und heranzuwinken, und dann wieder herab an den Torweg um durch eine Spalte die Hand hinauszubringen – mehr vom Körper durfte nicht von den Kindern aus dem Hofe – und ihr etwas Eßbares, Zuckermandeln oder sonst etwas Köstliches, das er aus der Stadt gebracht, in die Hand zu geben. Leider trieb ers in manchen Sommern nicht dreimal soweit, sondern er mußte meistens alles Gute, besonders den Gram dazu, in sich fressen. Waren jedoch seine Mandeln einmal nicht auf einen steinigen Acker gefallen, sondern in das Eden seines Auges: so erwuchs freilich aus ihnen ein ganzer blühender, im Kopfe hängender Garten voll Duft und er ging darin wochenlang spazieren. Denn die reine Liebe will nur geben und nur durch Beglücken glücklich werden; und gäb' es eine Ewigkeit fortsteigernder Beglückung, wer wäre seliger als die Liebe? –

Die Kuhglockenspiele blieben ihm lange Zeit die Kuhreigen der hohen fernen Kindheitalpen; und noch würde sein altes Herzblut wogen und wallen, wenn diese Klänge ihm wieder begegneten; »es sind Töne,« würd' er sagen, »von Windharfen hergespielt aus weiter weiter schöner Ferne und ich möchte dabei fast weinen vor Lust.« Denn man gebe der Liebe auch nur den kleinsten Ton, und wäre die Kuh die Glöcknerin: so verdoppelt er seine orphische Zauber- und Baukraft und seine unsichtbaren Wogen wiegen und ziehen das Herz ins Ewige hin und es weiß nicht, ist es zu Hause oder in der Ferne, und der Mensch weint froh zugleich über Haben und Entbehren.

Und in dieser Brennweite der Liebe blieb Augustine gegen Paul; und er erlebte in Jahren nie eine Zeit, ihr nur die Hand zu drücken. An einen Kuß wollen wir gar nicht denken. Zuweilen flog er einem gewöhnlichen Dienstmädchen seiner Eltern, das er nicht einmal liebte, verschämt und heftig an den Mund und schon in dem Kusse brauseten Seele und Körper unbewußt und schuldlos miteinander auf; aber vollends der Mund einer Geliebten, welche gerade in der Sonnenferne auf die geistigste innigste Liebe am wärmsten herabschien, hätte ihn in heißen Himmeln eingetaucht und ihn in einen glühenden Äther zerlassen und verflüchtigt. Und doch wollte ich, er wäre schon in Joditz ein oder ein paar Male verflüchtigt geworden. – Als er oder vielmehr sein Auge in seinem dreizehnten Jahre zwei Meilen weit von der Geliebten vertrieben war, da sein Vater eine reichere Pfarrei bekommen: so packte er einem jungen Schneider aus Joditz, den der Vater aus Liebe gegen sein liebes geräumtes Dörfchen mitgenommen und mehre Wochen im neuen großen Pfarrhaus behalten, mehre artige Potentaten auf, die er mit Fett und Ruß nach ihrem gemalten Leben gezeichnet und mit dem Farbenkästchen täuschend illuminiert hatte, und ließ den Schneider Augustinen sie mit dem Auftrage überbringen, die Reiter und Fürsten wären von ihm und er schenk' ihr sie zum ewigen Angedenken.


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