Jean Paul
Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf
Jean Paul

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Konjektural-Biographie

Erste poetische Epistel

Mein Gütlein Mittelspitz

Leipzig in der Böttcherwoche der
Michaelismesse, 1798.

Lieber Otto! Jetzt treibt mich eine Idee durch die Alleen und Gärten, die schon alle Wände meines Kopfes mit Grün und Hesperiden-Fruchtschnüren überzogen hat; – sie soll aber vollends herauswachsen ins Freie mit ihren vollen Zweigen dem Publikum in die Hand. Sieh! ich will meine Lebensgeschichte, die mir noch bevorsteht, treu in poetischen Episteln aufsetzen. Sollt' ich sie wider Verhoffen nicht erleben: so hab' ich doch die Komödienprobe, die gestikulierende Lufterscheinung, das Panorama davon gehabt und halb Europa die Beschreibung. – Damit ich aber nichts fingiere – und aus noch zehnmal sanftern Gründen – richt' ich alles an dich in gedruckten Briefen, wie Kaufleute senden, von denen überhaupt jedes Wort gedruckt zu werden verdient, weil jedes eine lettre toute prête für mehr als einen ist.

Für mein jetziges Leben wüßt' ich nichts Bessers als die Schilderei des nächsten; jetzt im Oktober – gerade wo ich vor einem Jahre nach Leipzig zog – mach' ich mit andern Leipziger Lerchen aus einerlei Instinkt wieder die Flügel auf und flattere nach Weimar; und wahrlich unter dem ewig wiederkommenden Einpacken des wächsernen Flugwerks für das Leben, des Federntopfes, des Papageienringes, der Flügeldecken und der Freß- und Saufnäpfchen, kann sich kein Strichvogel der Frage erwehren; wie oft pack' ich noch ein, eh' ich eingepackt werde? Dann hält man die Ohren zu nahe an das rauschende Fliegen des Lebens und an die langen Schwungfedern der Zeit. – Überhaupt sollte ein vernünftiger Mann im Herbste gar nicht fortziehen, wie ich doch wieder tue; im Frühling will das von der Natur erfrischte Herz mit so viel hundert Wünschen jedem Posthorn nach wenigstens bis nach Rom; aber im Herbste – dem Rüsttage des Winters –, wenn alle Welt ihren Dachsbau gräbt und das Winterlager weich ausfüttert, ist es für eine häusliche Seele hart, zu wissen: Du sitzest nicht mit um den warmen Ofen, für welchen sie jetzt das Winterholz abladen. – –

Lieber Otto, ich wollte etwas sagen und kam ab; denn ich meines Orts fahre – wenn andere im Herbste der Jahre wie des Lebens gleich den Schmetterlingen mit abgestoßenen Flügeln umherschwanken – wieder wie die überwinterten Papillons gerade im Lenze mit struppigen kurzen ans Licht, weil ich weiß, was mir so viele Frühlingsanfänge versprachen und schwuren und was sie hinterher hielten, und wie die Wünsche des Jugend- und Kalender-Frühlings gleich den Rauchsäulen anfangs steilrecht in die Höhe gehen, dann aber in der matten Luft waagrecht und parallel mit dem Boden streichen! – Der Herbst hingegen macht sich zu nichts als einem Frühling anheischig, und den liefert er gewissenhaft.

Ich will also die Herbst-Zeit der Träume mitnehmen und mich auf Jakobs Stein niederlegen. Wahrlich da mein künftiger Lebenslauf ja aus nichts bestehen kann als aus meinem wirtschaftlichen Feld- und Hausetat, den ich sehr klar beschreiben will, und aus der Frau, zu der ich vorher die Braut suche, und aus mir als Hausvater und aus meiner letzten Ölung und Totengräberszene: so wüßt' ich nicht, was – die letztere ausgenommen – dazwischenkommen könnte, daß nichts aus der ganzen antichambrierenden Zukunft würde; aber was mich am meisten beruhigt, ist der neckende Hang, den ich öfters am Schicksale bemerkt, immer nach dem Szenenplan meiner fremden Geschichten meine eigne auszuschneiden und so, wenn andre mit der Wirklichkeit ihre Dichtkunst wässern, schöner jene mit dieser bei mir abzusüßen. Wie bei einem Schwenkschießen erzielt' ich häufig mit den optischen Küchenstücken zugleich reelle Suppentäfelchen und kalte Küche. –

Ich kann noch nicht anfangen, bevor ich das elende Geschrei gestillet, das enge Vigesimo-Herzen in Taschenausgabe über das Zurückschlagen meiner häuslichen Fenster-Vorhänge, über mein Einsetzen des von Momus angepriesenen Brustfensters, das bei andern sonst ein blindes ist, und über die Zudringlichkeit erheben werden, womit ich von meinen Lebens-Gastrollen, vom Zuge nach Weimar, von der Heirat und vom Tode ein paar Tage vorher Komödienzettel an die Gassenecken klebe und in die Häuser trage. – – O ihr Furchtsamen, ist es nicht ohnehin die Pflicht der Literatoren, mich nach meinem Ableben – der vielen Reiseschreiber nicht zu gedenken, die mich schon bei meinem Leben abdrücken müssen in Wachspasten – mit ihren Poussiergriffeln aufzugreifen und in nekrologische Wachsfigurenkabinette zu schaffen, indes mehrere Kritiker beschäftigt sind, einzelne Glieder, die Gehirnhäute, den Herzbeutel, die Gallenblase, mit ihrem Wachs und Quecksilber künstlich auszuspritzen? – Warum wollt ihr mehr von den Personalien des elendesten Landstürzerromanen-Helden erfahren als vom Geschichtsschreiber und Schöpfer des Helden selber? – Und steckt nicht in der Geschichte eines jeden Narren eine kompendiöse Weltgeschichte, aber nicht umgekehrt? –

Meine zukünftige wird eigentlich welthistorisch, nicht in Weimar, sondern später, wo ich mein Landgütlein kaufe; und da muß sie jetzt angefangen werden. Die Chronologie wird schon Gott in die Historie hineinmachen.

In der nächsten poetischen Epistel wirst du Auskunft erhalten, warum ich über das Landgütlein – es heißet MittelspitzNämlich mit seinem fingierten Namen. – gerade im Jenner und noch dazu mit der größten Heimlichkeit und unter dem Scheine eines Mietkontrakts den völligen Kaufkontrakt abschließe. Antonin Pikatel handelte sich 1455 für seinen subhastierten Meierhof einen Livius an; ich muß umgekehrt doch leichter mit so vielen livianischen Annalen voll Patavinität den Kaufschilling eines Gütleins bestreiten können; aber komme nur zu mir oder zum Herrn Verkäufer, so sollen dir Kauf- und Schuldbriefe zum Beweise aufgeschlagen werden, daß man die teuersten Sachen kaufen kann, wenn man sie borgt, entweder zum Teil oder ganz.

Wahrscheinlich an Pauli Bekehrungs-Tage (d. 25. Jenner) werden meine Transitogüter, meine fahrende Habe, zum letzten Male gefahren und verzollt und in Spitz immobiliar gemacht; und dann setz' ich mich in den Großvaterstuhl und sage erheitert: »Endlich bist du festgeschraubt und dein Merkur fixiert, daß er wenigstens nicht stärker auf- und absteigt als in einem Wetterglas am Gleicher.« Das Schicksal rupfet uns, wie die Falkenierer andern Adlern, mehrere Federn am Gesäße und Bauche aus, damit der Frost, den wir daran leiden, wenn wir zu hoch steigen wollen, uns wieder auf den warmen Boden zurücktreibe.

Ich bitte dich aber, schau aus meinem langen Arbeitsstübchen in Spitz – denn Autoren, Seiler und Emmerlinge müssen zu ihrem Spinnen und Singen lange Bauer haben, Gäste aber wie Kanarienvögel nur hohe – in die Gegend hinaus, die freilich ihre Tafelaufsätze noch unter der Serviette des Schnees aufträgt. Sie hat die eigentlichen drei Dimensionen der schönen Natur, Tal, Ebene und Gebürge. Ein Tal hat seine herrnhutischen Seitenhöhlchen, seine aus Blätternacht und Wellenschein gemachte Dämmerung und seine von Vögeln und Bächen gesetzten Wiegenlieder nur für das Entzücken mit dem Dämpfer (con sordino), für die selige Stunde, wo der Friede, unser innerer Guido, oder auch wo der Amor in uns malt und schafft. Ich werde von meinem Tale, Christian, gehörigen Gebrauch zu machen wissen. Durch die Ebene – den besten Reitboden des Auges, wenn die Seele im mittlern Zustande zwischen Himmel und Hölle lebt – bin ich eben mit meinem Bagagewagen gegangen; aber das Beste ist, daß sie alle ihre Dörfer am Ende verlässet und am Morgen-Horizont auf lange Berge aufsteigt und da gen Himmel fährt. O niemand schleife die Berge, diese Festungswerke des Herzens, wenn der Schmerz es feindlich stürmen will! Und dabei sind sie noch die Kanzeltreppe der Seele, die sich erheben will, und der hängende Garten für die umherblickende Sehnsucht an himmelblauen Tagen.

Ich gestehe dirs, wenn mich nicht die Berge behäufeln, so fällt mein Stengel um und treibt wenig heraus. Aber nur gegenüber, nicht auf den Bergen muß man wohnen, weil man droben nichts hat als das - Untere der Karte.

Es ist eine schöne Einrichtung, daß der Mensch an jedem Ort, wohin und wenn er auch ziehe, immer drei neue Jahrszeiten noch vor sich zu erleben hat; also dieser bin ich auch meines Orts in Spitz gewärtig, besonders da ich mich gerade in dem Januar, dem magersten Voressen des Jahrs, an die Tafel setze. »Wie?« – werd' ich auf dem beschneieten Berge fragen, auf dieser Silberküste der Talbucht unter mir – »jetzt siehst du schon so viele Pracht: was wird erst werden, wenn Blumenmonde, Erntemonde, Weinmonde wie drei Horen dich umtanzen? An ganz andere, noch schönere Neuerungen erinnere ich dich aus Absichten gar nicht.« – Ja wohl schönere; aber diese gehören der zweiten Epistel, die es ohnehin motivieren muß (denn sie kanns), warum ich aus Spitz unaufhörlich in die Stadt gelaufen komme, woraus ich kaum gezogen bin. – Und Addio bis dahin! –

Fr. Richter.
 

N. S. Sehr halten mich in der gegenwärtigen die Meßfremden und Meßlustbarkeiten auf; und doch muß dieses Leben a parte post hier beschlossen werden, und sollt' ich erst tief im Oktober einsitzen. Die jetzigen ungedruckten Briefe über das a parte ante laufen ungestört, wie du siehst, wöchentlich an dich ab; indes man dir diese gedruckt auf einmal zu Ostern in die Hände legt.


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