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Im Mai sechzehnhundertundsechsundneunzig starb Erik Grubbe, siebenundachtzig Jahre alt.
Die Erbschaft wurde gleich zwischen seine drei Töchter geteilt, aber Marie Grubbe bekam nicht viel; denn der Alte hatte vor seinem Tode durch Schein-Schuldverschreibungen und auf andere Weise, zum Schaden für Marie und zum Vorteil für die beiden andern, der Erbmasse den größesten Teil des Vermögens entzogen.
Der Anteil, den Marie erhielt, war indessen groß genug, um sie und ihren Mann aus Bettlern zu Bürgern zu machen, und durch eine vernünftige Anwendung der Erbschaft hatten sie sich ein mäßiges Auskommen bis an das Ende ihrer Tage sichern können; aber unglücklicherweise beschloß Sören, sich auf den Pferdehandel zu werfen, und nach Verlauf weniger Jahre war der größte Teil des Geldes verloren. Der Rest war jedoch ausreichend, daß Sören dafür in den Besitz der Fahrstelle Burrehus auf Falster gelangen konnte, und dazu wurde es denn auch verwendet.
Im Anfang mußten sie sehr hart arbeiten, und Marie nahm oft selbst das Ruder; später jedoch war es meistens ihr Geschäft, den Bierausschank zu besorgen, der mit dem Fährprivilegium verbunden war. Sie lebten im ganzen sehr glücklich, denn Marie fuhr fort, ihren Mann über alles in der Welt zu lieben, und wenn er sich auch oftmals betrank und sie schlug, so machte das nicht soviel; Marie wußte ja, das war Alltagsbrauch in der Gesellschaftsschicht, in die sie sich hatte einschreiben lassen; und ward sie hin und wieder einmal ungeduldig, so gab sie sich doch bald zufrieden, wenn sie daran dachte, daß der Sören, der so hart und barsch war, derselbe war, der einstmals um ihretwillen auf einen Menschen geschossen hatte.
Die Leute, die sie überzusetzen hatten, waren zumeist Bauern und Roßkämme, aber zuweilen konnten ja auch solche kommen, die höheren Ranges waren. So kam Sti Högh eines Tages dahin. Marie und ihr Mann ruderten ihn, und er setzte sich achtern in das Boot, um mit Marie reden zu können, die das hintere Ruder führte. Er erkannte sie sofort, als er sie sah, verriet aber kein Zeichen der Verwunderung; vielleicht hatte er gewußt, daß er sie hier treffen würde. Marie mußte ihn zweimal ansehen, ehe sie ihn zu erkennen vermochte; denn er war sehr verändert. Sein Gesicht war rotglänzend und aufgedunsen geworden, die Augen schwimmend, und der Unterkiefer hing, als sei er lahm in den Mundwinkeln, und dann waren seine Beine dünn und sein Bauch stark und hängend; kurz, es waren alle deutlichen Anzeichen eines Lebens voll erschlaffender Ausschweifungen nach jeder Richtung hin da, und das war auch der Hauptinhalt seines Lebens gewesen, seit er sich von Marie getrennt hatte. Nach außen hin war seine Geschichte die gewesen, daß er eine Zeitlang gentilhomme und maître d'hôtel bei einem fürstlichen Kardinal in Rom gewesen, zum Katholizismus übergetreten und zu seinem Bruder Just Högh gereist war, der sich damals als Gesandter in Nimwegen aufhielt; dann war er wieder zu dem Luthertum übergegangen und nach Dänemark heimgekehrt, wo er nun das Gnadenbrot bei dem Bruder aß.
»Ist das,« fragte er und nickte mit dem Kopf in der Richtung nach Sören hin, »ist das der, von dem ich weissagte, daß er nach mir kommen würde?«
»Ja, das ist er«, antwortete Marie ein wenig widerwillig; sie hätte am liebsten gar nicht geantwortet.
»Und er ist größer, als ich – war?« fragte er wieder und richtete sich auf.
»Ach, da ist gar kein Vergleich, Euer Gnaden«, antwortete sie mit angenommenem bäurischen Wesen.
»Ja, wahrhaftig, so gehts, – wir haben beide ablassen müssen, so gut wie alle andern, und uns dem Leben um einen billigeren Preis ergeben, als wir jemals gedacht hätten, daß wir es tun würden – Ihr auf die eine Weise und ich auf eine andere.«
»Nun, Euer Gnaden habens doch wohl gut genug?« fragte Marie in demselben einfältigen Ton.
»Gut genug,« lachte er, »gut genug ist halb verdorben; ich habs wahrhaftig gerade gut genug, und Ihr, Marie?«
»O, danke, wir sind gesund, und wenn wir unsern starken Balg recht schinden, haben wir Brot und Branntwein dazu.«
Sie waren am Land, und Sti stieg aus und sagte Lebewohl.
»Herrgott!« sagte Marie und sah ihm mitleidig nach, »dem sind Schwingen und Schopf beschnitten!«
Friedlich und einförmig verstrich die Zeit den Leuten im Burrehaus mit täglicher Arbeit und täglichem Gewinn. Nach und nach arbeiteten sie sich zu besseren und besseren Verhältnissen hinauf, hielten Knechte, die den Fährdienst besorgten, trieben allerlei Kleinhandel und bauten ihr altes Haus höher auf. Sie lebten das alte Jahrhundert zu Ende und ein Jahrzehnt in das neue hinein; und Marie wurde sechzig, und sie wurde fünfundsechzig und hielt sich gesund und rüstig, arbeitsfähig und arbeitslustig, als sei sie eine angehende Fünfzigerin; aber dann, an ihrem achtundsechzigsten Geburtstag im Frühling siebzehnhundertundelf, geschah es, daß Sören unter sehr verdächtigen Umständen durch einen fahrlässigen Schuß einen Schiffer aus Dragör tötete und deswegen in Gewahrsam kam.
Das war ein harter Schlag für Marie, und die lange Ungewißheit, wie die Strafe ausfallen würde, denn das Urteil ward erst im Hochsommer des nächsten Jahres gefällt, und ihre Angst, daß die alte Geschichte mit dem Mordversuch auf Ane Trinderup wieder aufleben könne, machte sie sehr altern.
Eines Tages zu Anfang dieser Wartezeit ging Marie hinaus, um die Fähre in Empfang zu nehmen, die gerade anlegte. Es waren zwei Reisende an Bord, und der eine von ihnen, ein Handwerksbursche, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, indem er sich weigerte, sein Wanderbuch zu zeigen, das er den Fährknechten gezeigt zu haben behauptete, was diese indessen bestritten. Da sie dem Burschen indes drohte, daß er die ganze Taxe bezahlen müsse, wenn er nicht durch sein Wanderbuch beweise, daß er ein reisender Geselle sei und als solcher nur verpflichtet, die Hälfte zu zahlen, fügte er sich. Erst als dies abgemacht war, beachtete Marie den andern Passagier, eine kleine, schmächtige Erscheinung, die bleich und frierend infolge der eben überstandenen Seekrankheit, stramm eingehüllt in seinen schwarzgrünen, grobfädigen Mantel, dastand und sich gegen die Reling eines an den Strand gezogenen Bootes stützte. Er fragte in mürrischem Ton, ob er Logis im Burrehaus bekommen könne, und Marie antwortete, er möge sich die Wohnung ansehen.
Sie zeigte ihm dann eine kleine Kammer, die außer Bett und Stuhl eine Tonne Branntwein mit Trichter und Traufuntersatz, einige große Fässer mit Sirup und Essig und endlich einen Tisch mit perlgraubemalten Beinen und einer Platte aus viereckigen Tonkacheln enthielt, auf denen in schwarz-violetten Zeichnungen Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament dargestellt waren. Der Fremde bemerkte sogleich, daß drei von den Kacheln alle Jonas darstellten, der aus dem Rachen des Walfisches ans Land gespieen wird; und als er die Hand auf eine davon legte, durchschauerte es ihn, und er sagte, er würde Schnupfen bekommen, falls er so unvorsichtig wäre, mit den Ellenbogen auf dem Tisch dazusitzen und zu lesen.
Auf Mariens Frage erklärte er, daß er der Pest halber aus der Hauptstadt fortgegangen sei und hierorts bleiben wolle, bis sie wieder erloschen sei; er esse nur dreimal am Tage und könne kein Salzfleisch und auch kein frischgebackenes Brot vertragen; im übrigen sei er Magister, zurzeit Alumnus in Borchs Kollegium und heiße Holberg, Ludwig Holberg.
Magister Holberg war ein sehr stiller Mann mit einem außerordentlich jugendlichen Aussehen; er schien auf den ersten Blick nur achtzehn, neunzehn Jahre alt zu sein, beachtete man aber seinen Mund und seine Hände und den Ausdruck in seiner Stimme, so konnte man wohl erkennen, daß er beträchtlich älter sein mußte. Er hielt sich sehr für sich, sprach wenig und, wie es schien, nicht gern. Doch scheute er keineswegs Gesellschaft, wenn sie nur so beschaffen war, daß man ihn in Ruhe ließ und ihn nicht in die Unterhaltung hineinziehen wollte; und es war ihm offenbar ein Vergnügen, wenn die Fähre Reisende hin- oder herbrachte, oder, wenn die Fischer mit ihrem Fang ans Land kamen, aus der Entfernung ihre Geschäftigkeit zu beobachten und ihrem Wortaustausch zu lauschen. Überhaupt sah er die Leute gern arbeiten, mochten sie nun pflügen oder Heuschober aufrichten oder Boote ins Wasser schieben; und war einer da, der einen richtigen Griff tat, so den gewöhnlichen Durchschnitt menschlicher Kräfte überstieg, so konnte er ganz zufrieden darüber lächeln und in stillem Wohlbehagen die Achseln zucken. Als er einen Monat lang im Burrehaus gewesen war, begann er, sich Marie Grubbe zu nähern, oder gestattete ihr, sich ihm zu nähern; und sie saßen oft an den warmen Sommerabenden und sprachen ein oder auch zwei Stunden hintereinander zusammen in der Schankstube, wo dann die Tür offen stand und Aussicht gab über das blanke Wasser bis zu der bläulich dämmernden Insel Möen hinüber.
In einer Abendstunde, als ihre Bekanntschaft schon ziemlich alt geworden war, hatte ihm Marie ihre Geschichte erzählt und sie mit einem Klageseufzer darüber beendet, daß Sören ihr genommen war.
»Ich muß bekennen,« sagte Holberg, »daß ich ganz unvermögend bin zu begreifen, wie Ihr habet einen gemeinen Stallknecht und Bettler einem so perfekten Kavaliere präferieren können wie Seine Exzellenz der Statthalter, der ja doch von allen als ein Meister in Lebensart und feinen Manieren, ja als Muster von allem, was sonderlich galant und aimabel ist, gerühmet wird.«
»Und wäre er davon so voll gewesen wie das Buch, so die alamodische Sittenschule benennet wird, das würde nicht so viel wie eine Feder gewogen haben, sintemal ich nun einmal einen solchen dégout und Abscheu vor ihm hatte, daß ich ihn kaum vor meinen Augen dulden konnte; und Ihr wisset, wie gänzlich unüberwindbar ein derartiger dégout sein kann, also daß, wenn einer die Tugend und die Prinzipien eines Engels hätte, so würde der natürliche Abscheu dennoch den Sieg davontragen. Mein armer gegenwärtiger Mann hingegen, für ihn ward ich von einer so heftigen und unvermuteten Neigung entzündet, daß ich nicht anders kann, als es einer natürlichen Attraktion zuschreiben, so ebenfalls nicht zu widerstehen war.«
»Solches nenne ich wohl räsonieret! Wir haben also nur alle Moral der Welt in eine Kiste zu packen und sie nach dem Blocksberg zu schicken und nach unseres Herzens Lüsten zu leben; denn es gibt ja keine Unsittlichkeit, so man nennen kann, die man nicht als eine natürliche und unüberwindliche Attraktion ausstaffieren könnte, und ebenfalls gibt es keine Tugend unter allen den Tugenden, die man herzählen kann, von der man sich nicht leichthin lossagen könnte; denn es wird sicherlich einen geben, so dégout vor Mäßigkeit hat, und einen, so vor Wahrheit oder vor Ehrbarkeit dégout hat, und so ein natürlicher dégout ist ganz unüberwindlich, werden sie sagen, und der, so damit behaftet ist, der ist daher ganz unschuldig. Aber Ihr seid zu wohl aufgekläret, Mütterchen, als daß Ihr nicht solltet wissen, daß solcherlei nur schändlich Hirngespinst ist und Tollhäuslergeschwätz.«
Marie antwortete nicht.
»Glaubet Ihr denn nicht an einen Gott, Mütterchen,« fuhr der Magister fort, »und an das ewige Leben?«
»Gott sei Lob und Dank, das tue ich; ich glaube an den lieben Gott.«
»Aber die ewige Strafe und den ewigen Lohn, Mütterchen?«
»Ich glaube, jeder Mensch lebet sein eigenes Leben und stirbt seinen eigenen Tod, das glaube ich.«
»Das ist gar kein Glaube; glaubet Ihr an die Auferstehung?«
»Wie soll ich auferstehen? als das junge, unschuldige Kind, das ich war, da ich zuerst hinauskam unter die Leute und nichts wußte und nichts kannte; oder wie damals, wo ich geehret und beneidet als des Königs Liebling des Hofes Zierat war; oder soll ich auferstehen als die alte, arme hoffnungslose Fährmanns-Marie, soll ich das? und soll ich verantworten, was die andern, das Kind und das lebensstolze Weib, was die gesündigt haben, oder soll eine von denen für mich eintreten? Könnet Ihr mir das sagen, Herr Magister?«
»Aber Ihr habet ja doch nur eine Seele gehabt, Mütterchen?«
»Ja, hab ich das?« fragte Marie und versank in Gedanken. »Lasset mich recht aufrichtig mit Euch reden,« fuhr sie fort, »und antwortet mir, wie Ihr denket: glaubet Ihr, daß der, so sein ganzes Leben lang sich schwer wider seinen Gott und Schöpfer versündiget hat, aber in der letzten Stunde, wann er dalieget und mit dem Tode ringet, seine Sünd aus einem aufrichtigen Herzen bekennet und bereuet und sich Gott ohne Zweifel und ohne Bedenken anheimgibet, glaubet Ihr, der ist Gott wohlgefälliger als einer, so sich ebenfalls mit Sünde und Ärgernis schwer gegen ihn vergangen hat, aber dann viele Lebensjahre lang gestritten hat, seine Pflicht zu tun, und jede Last getragen hat, ohne zu murren, nie aber im Gebet oder offener Reue sein früheres Leben beweinet hat; glaubet Ihr, daß die, so da gelebet hat, wie sie gemeinet hat es sei rechtlich zu leben, aber ohne Hoffnung auf Belohnung da droben und ohne darum zu beten: glaubet Ihr, Gott werde sie von sich stoßen und verwerfen, wiewohl sie niemalen ein Gebetswort zu Gott gebetet hat?«
»Darauf vermag kein Mensch zu antworten«, sagte der Magister und ging.
Bald darauf reiste er ab.
Im August des nächsten Jahres wurde das Urteil über Fährmann Sören gefällt und lautete auf drei Jahre Arbeit in Eisen auf Bremerholm.
Es war eine lange Zeit, das zu leiden, eine längere Zeit, zu harren; dann verging auch die.
Sören kam nach Hause, aber die Gefangenschaft und die harte Behandlung hatten seine Gesundheit untergraben, und ehe Marie ihn ein Jahr lang gepflegt hatte, trugen sie ihn auf den Kirchhof.
Noch ein langes, langes Jahr mußte sich Marie mit dem Leben quälen. Dann ward sie plötzlich krank und starb. Sie war während ihrer ganzen Krankheit gar nicht im Besitz ihres Verstandes, und der Pfarrer konnte daher weder mit ihr beten noch ihr das Abendmahl reichen.
An einem sonnenhellen Sommertag begruben sie sie an Sörens Seite, und über den blanken Sund und die korngelben Felder sang das ärmliche Leichengefolge, müde von der Wärme, ohne Trauer und ohne Gedanken:
»Herrgott, dein Zorn tu von uns wenden.
Dein blutig Zuchtrut an allen Enden
Uns plaget redlich und uns tät schinden,
Dieweil wir voll Sünden.
Denn wolltest nach unsrer Sünd und Gebrechen
Uns strafen und unser Urteil sprechen,
Müßt alles gehn zugrund und Falle,
Ja, ich und wir alle ...«