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Elftes Kapitel

Ein paar Tage später, am Vormittag, war Ulrik Fredrik in Lynge.

Er lag auf allen vieren draußen in dem kleinen Garten vor dem Hause, wo Fiedel-Karen wohnte, einen Kranz aus Rosen in der einen Hand, während er mit der andern einen kleinen, weißen Damenhund unter dem Haselgebüsch in der Ecke bald hervorzulocken, bald hervorzuzerren suchte.

» Boncoeur! petit, petit Boncoeur! Boncoeur, so komm doch, du kleiner Schelm, ach, so komm doch, du Närrchen – du Untier, Boncoeur, liebes Hundchen!– verfluchtes, eigensinniges Vieh!«

Karen stand am Fenster und lachte.

Der Hund kam nicht, und Ulrik Frederik lockte und fluchte.

» Amy des morceaux délicats

sang Karen und winkte mit einem gefüllten Weinpokal.

» Et de la dèbauche polie
Viens noyer dans nos Vins Muscats
Ta soife ta mélancolie.
«

Sie war sehr aufgeräumt, sehr erhitzt, und einzelne Töne des Liedes gingen höher, als sie eigentlich sollten.

Endlich fing Ulrik Frederik den Hund.

Triumphierend trug er ihn vor das Fenster hin, drückte ihm den Rosenkranz über die Ohren herab und reichte ihn kniend zu Karen hinauf.

» Adorable Vénus, reine des coeurs, se vous prie d'accepter de ton humble esclave ce petit agneau innocent, couronné de fleurs ...«

Im selben Augenblick öffnete Marie Grubbe die Gartentür. Sie wurde bleich, als sie Ulrik Frederik auf den Knien einen Rosenkranz, oder was es nun sein mochte, zu dem roten, lachenden Frauenzimmer hinaufreichen sah, und sie beugte sich hinab, nahm einen Stein und warf ihn mit aller Macht nach ihr; aber er traf den Rand des offen stehenden Fensters, so daß die Scheiben klirrend zu Boden prasselten.

Karen stürzte schreiend fort. Ulrik Frederik sah ihr ängstlich in die Stube nach, ließ vor Überraschung den Hund fallen, behielt aber den Kranz und stand nun erstaunt da, zornig und verlegen, und drehte ihn zwischen seinen Händen herum.

»Warte nur, warte nur!« schrie Marie, »ich traf dich nicht, aber ich werde schon, werde schon«; und sie zog eine lange, dicke, stählerne Nadel mit rubinenverziertem Kopf aus ihrem Haar, die hielt sie dann vor sich hin wie einen Dolch und eilte in einem wunderlich kleinschrittigen, fast hüpfenden Lauf auf das Haus zu; es war gleichsam, als könne sie nicht sehen, denn sie lief nicht geradeaus, sondern in seltsamen, unsicheren Windungen auf die Tür des Hauses zu.

Dort hielt Ulrik Frederik sie auf.

»Geh beiseite,« sagte sie fast jammernd, »du mit deinem Kranz!«

»So einer«, fuhr sie fort, während sie sich von der einen Seite nach der andern wandte, um hineinzuschlüpfen, und beständig die Augen auf die Türöffnung gerichtet hielt, »so einer windest du Kränze, Rosenkränze, ja–a, hier bist du der verliebte Schäfer; hast du nicht auch eine Schalmei? Hast du keine Schalmei?« wiederholte sie und schnappte ihm im selben Augenblick den Kranz aus der Hand, warf ihn an die Erde und, trampelte darauf; »und einen Schäferstab, Amaryllis, mit einer seidenen Schleife?«

»Laß mich vorbei, sag ich!« drohte sie und hob den Nadeldolch wider ihn.

Er packte sie an beiden Handgelenken und hielt sie fest; »willst du wieder stechen?« sagte er scharf.

Marie sah zu ihm auf.

»Ulrik Frederik,« sagte sie ganz leise, »ich bin dein Weib vor Gott und den Menschen. Warum liebst du mich nicht mehr? Komm mit, laß die dadrinnen sein, was sie ist, und komm mit! Komm mit, Ulrik Frederik, du weißt nicht, welch brennende Lieb ich für dich im Herzen trag, wie bitterlich ich mich sehne und härme! Komm mit, hörst du, komm mit!«

Ulrik Frederik antwortete nicht, er bot ihr den Arm und geleitete sie aus dem Garten hinaus, bis an ihren Wagen, der nicht weit davon hielt. Er half ihr hinauf, ging vorn um die Pferde herum und sah nach dem Geschirr, schnallte eine Spange um und rief den Kutscher herunter, um ihn etwas an der Koppel in Ordnung bringen zu lassen, und flüsterte ihm dann zu, als sie da vorne standen:

»Sobald du auf dem Bock sitzest, fahr zu, was die Gäule laufen wollen, und halt keine Minute an, eh ihr zu Haus seid, das sag ich, und du kennst mich wohl!«

Der Kutscher war oben, Ulrik Frederik faßte an die Seite des Wagens, wie um auch aufzusteigen, die Peitsche sauste auf die Pferde nieder, er sprang zurück, und der Wagen fuhr davon.

Einen Augenblick dachte Marie daran, den Kutscher halten zu lassen, die Zügel zu ergreifen, hinauszuspringen, allein es überkam sie auf einmal eine Ruhe der Ohnmacht und ein unendlich tiefer, namenloser Ekel, ein Übelkeit erregender Abscheu, und sie blieb ruhig und still sitzen, vor sich hinstarrend, ohne die rasende Fahrt des Wagens zu beachten.

Und Ulrik Frederik war wieder bei Fiedel-Karen.


Am Abend, als Ulrik Frederik heimkehrte, war ihm eigentlich ein klein wenig beklommen; nicht gerade ängstlich war er, aber doch von der Spannung befangen, die die Menschen beschleicht, wenn sie die bestimmte Überzeugung haben, daß sie einer ganzen Reihe von Verdrießlichkeiten und Unannehmlichkeiten entgegengehen, denen nicht zu entrinnen ist, durch die man hindurch muß.

Marie würde sich natürlich bei dem König beklagen, und der würde ihm jetzt langweilige Vorwürfe machen, die geduldig bis zu Ende angehört werden mußten; Marie würde sich in das majestätische Schweigen der gekränkten Tugendsamkeit hüllen, was zu ignorieren er sich dann bemühen mußte. Die Stimmung da oben würde äußerst bedrückend sein, die Königin würde müde und leidend aussehen, vornehm leidend, und die Hofdamen, die nichts wußten, aber alles ahnten, würden schweigend dasitzen, hin und wieder leise seufzend die Köpfe erheben und ihn mild vorwurfsvoll mit großen, verzeihenden Augen ansehen; ach, er kannte das Ganze bis hinab zu der Glorie hochherziger Treue und heroischer Selbstaufopferung, womit der arme Kammerjunker der Königin sein schmales Haupt zu umgeben suchen würde, indem er sich mit komischer Courage an seine, Ulrik Frederiks Seite, stellte und ihn mit Höflichkeit und ehrerbietig tröstenden Dummheiten überschüttete, während seine kleinen, wasserblauen Augen und seine ganze schmächtige Gestalt deutlich wie klare Worte redeten und sagten: sehet, alle wenden ihm den Rücken; mit Gefahr königlichen Zorns, des Mißfallens der Königin tröste ich den Verlassenen! Ich gebe meine treue Brust preis ... ach, wie gut er das kannte, alles, alles, das Ganze.

Er irrte.

Der König empfing ihn mit einem lateinischen Sprichwort, ein untrügliches Zeichen dafür, daß er heiter gestimmt war, und Marie erhob sich und gab ihm die Hand wie gewöhnlich, ein wenig kühler vielleicht, ein wenig abgemessener, aber jedenfalls anders, als er es erwartet hatte.

Auch nicht, als sie allein blieben, deutete sie nur mit einem Worte auf ihre Begegnung in Lynge hin, und Ulrik Frederik wunderte sich mißtrauisch darüber; er wußte nicht recht, was für Gedanken er sich über dies sonderbare Schweigen machen sollte.

Er wollte fast lieber, sie hätte geredet!

Sollte er sie verlocken zu reden, ihr danken, weil sie geschwiegen hatte, sich der Reue und Buße hingeben und das Spiel spielen, daß sie wieder versöhnt waren?

Er wagte nicht recht, den Versuch zu machen, denn er hatte bemerkt, daß sie dann und wann verstohlen zu ihm hinübersah, mit einem so seltsamen Ausdruck in den Augen, einem ruhigen, messenden, durchdringenden Blick voll stillen Wunderns und kühler, fast höhnischer Neugier. Nicht ein Funke von Rachsucht oder Haß, nicht ein Schatten von Kummer oder Klage, nicht ein zitternder Schimmer von verhaltener Wehmut! Nichts dergleichen, gar nichts!

Daher wagte er es nicht, und es wurde nichts gesagt.

Zuweilen, in den nächsten Tagen, konnten seine Gedanken wohl einmal unruhig dabei verweilen; und eine fieberhafte Lust, Aufklärung darüber zu erhalten, entstand bei ihm.

Aber es geschah nicht, und er konnte es nicht lassen zu denken, daß jene unausgesprochenen Vorwürfe jetzt wie Lindwürmer in ihrer dunklen Höhle lagen, brütend über finsteren Schätzen, und wuchsen, so wie das Schlangengezücht wuchs, blutroter Karfunkel, der sich auf goldrotem Stiel hervorhob, und bleicher Opal, der sich langsam, Zwiebel an Zwiebel ausbreitete, schwellend und sich mehrend, während die Leiber der Würmer still, aber unaufhaltsam wachsend in Windung auf Windung hinausglitten, sich Ring auf Ring emporhoben über dem üppigen Gewimmel des Schatzes.

Ja, sie mußte ihn hassen, mußte mit geheimen Rachegedanken umhergehen, denn eine solche Verhöhnung wie die, die er ihr zugefügt hatte, konnte nicht vergessen werden; und er brachte diese vermutete Rachlust in Verbindung mit dem seltsamen Auftritt, da sie ihre Hand wider ihn erhob, und mit Burrhis warnenden Worten; und er mied sie noch mehr als bisher und wünschte noch eifriger, daß ihre Wege getrennt werden möchten.

Aber Marie dachte nicht an Rache, sie hatte sowohl ihn als auch Fiedel-Karen vergessen; denn in jener Minute namenlosen Ekels war ihre Liebe ausgelöscht, spurlos ausgelöscht worden, wie eine strahlende Blase, die zu Staub zerstiebt und nicht mehr ist. Und ihr Glanz ist auch nicht mehr, und die fliegenden Farben, die sie jedem kleinen Bilde verlieh, das sie in sich abspiegelte, auch sie sind nicht mehr. Sie sind dahin, und der Blick, den sie durch ihre Pracht und unruhige Schönheit fesselte, ist nun frei, schaut frei umher und sieht weit hinaus über die Welt, die Welt, die sich in farbigen Bildern in dem Glast der Blase spiegelte.


Auf dem Schlosse war Tag für Tag die Zahl der Fremden gewachsen. Die Ballettproben waren schon im vollen Gange, und Tanzmeister und Akteurs, Pilloy und Kobbereau, waren herausbeordert, teils um zu instruieren, teils um die schwierigsten oder undankbarsten Rollen zu übernehmen.

Auch Marie Grubbe sollte im Ballett auftreten und nahm mit Eifer teil an den Übungen. Sie war seit dem Tage in Lynge viel wirksamer und geselliger, sozusagen wacher geworden.

Früher war ihr Zusammenleben mit ihrer Umgebung ziemlich äußerlich; wenn da nicht gerade irgend etwas war, das sie gleichsam wachrief, ihre Aufmerksamkeit oder ihr Interesse erregte, so schlüpfte sie gleich in ihre eigene, kleine Welt hinab und sah von da gleichgültig auf die Draußenstehenden hinaus.

Jetzt dahingegen lebte sie mit; und wäre ihr Umgangskreis nicht so in Anspruch genommen gewesen von allen den mannigfaltigen Genüssen und Abwechslungen jener Tage, so würden sie mit Erstaunen gesehen haben, wie verändert ihr Wesen geworden war. Es war eine ruhige Sicherheit über ihre Bewegungen gekommen, eine fast feindselige Feinheit in ihre Rede und eine kluge Beobachtung in ihre Mienen.

Aber es war niemand da, der es bemerkte; nur Ulrik Frederik ertappte sich vereinzelte Male darauf, daß er sie bewunderte wie eine fremde, ihm unbekannte Person.

Unter den Gästen, die der Augustmonat brachte, war auch einer von Mariens Verwandten, Sti Högh, der Gatte ihrer Schwester.

An einem Spätnachmittag, ein paar Tage nach seiner Ankunft, standen sie miteinander auf einem Hügel im Walde, von wo aus man über das Dorf und das flache, sonnenversengte Land dahinter hinaussah.

Große, langsam gleitende Regenwolken sammelten sich oben am Himmel, und von der Erde stieg ein bitterer, welker Duft empor, als sei es der matten, halb eingegangenen Kräuter Seufzen nach der Feuchtigkeit des Lebens.

Der schwache Lufthauch, der kaum stark genug war, um die Mühle da unten am Kreuzweg im Gange zu halten, sauste mißmutig in den Baumwipfeln, so daß es klang, als klage der Wald, verzagt über Sonnenglut und Sommerbrunst, – und wie der Bettler, der seine mitleiderregende Wunde entblößt, so schienen die gelben, verdorrten Grasfluren ihren kahlen Jammer den Blicken des Himmels offen zu legen.

Dichter und dichter sammelten sich die Wolken, und einzelne große Regentropfen, ganz einzelne, fielen mit einem Schlag auf Blätter oder Halme herab, die dann einen Augenblick seitwärts schwankten, zitterten und plötzlich wieder still wurden. Die Schwalben strichen niedrig längs der Erde hin, und der bläuliche Abendbrotrauch schlug verschleiernd über die schwarzen Strohdächer des nahen Dorfes nieder.

Ein Wagen rumpelte schwerfällig den Weg entlang, und unten von Pfaden und Steigen rings um den Fuß des Hügels hörte man gedämpftes Lachen und muntere Rede, Rascheln von Fächern und Seide, das Kläffen kleiner Schoßhunde und das Geräusch von dünnen Zweigen, die krachten und knackten.

Das war der Hof auf seiner Nachmittagspromenade.

Marie und Sti Högh hatten sich von den andern getrennt und waren den Hügel hinaufgegangen, jetzt standen sie schweigend da und sahen hinaus, atemlos von dem raschen Ersteigen des steilen Abhanges.

Sti Högh war damals ein paar Jahre über die Dreißig, er war ein hochgewachsener Mann, groß und mager, rothaarig und mit einem langen, schmalen Gesicht. Er war blaß und sommersprossig, und seine dünnen, weißgelben Augenbrauen wölbten sich hoch über seinen blanken, hellgrauen Augen, die einen müden, lichtscheuen Ausdruck dadurch erhielten, daß die Lider ganz rosenrot waren, und dadurch, daß er, wenn er blinzelte, langsamer blinzelte oder besser: das Auge länger geschlossen hielt, als andere Menschen. Seine Stirn war hoch, und über der Schläfe war sie stark gerundet und blank. Die Nase, schmal und leise gekrümmt, war ein wenig zu lang und das Kinn sowohl zu lang als auch zu spitz, während der Mund vollkommen schön, die Farbe der Lippen so frisch, ihre Linien so rein und die Zähne klein und weiß waren. Aber es war doch nicht dies, was diesen Mund so eigentümlich machte; sondern, daß er dies wunderliche, schwermütige, grausame Lächeln hatte, wie man es zuweilen bei großen Wollüstlingen findet, dies Lächeln, das verlangende Begier und verachtende Müdigkeit zugleich ist, zugleich zärtlich und sehnsuchtkrank wie süße Töne, und grausam und blutlüstern wie das gedämpfte Knurren der Befriedigung, das sich der Kehle des Raubtieres entringt, wenn seine Zähne an der zuckenden Beute zerren.

So sah Sti Högh aus.

Damals.

»Madame,« sagte er, »habt Ihr Euch niemals gewünscht, Ihr säßet gut und wohlverwahret hinter den Toren eines Klosters, so wie man sie in Italien und den Ländern dort hat?«

»Ich? nein, Gott bewahre mich davor! Wie sollt ich auf solche katholische Gedanken kommen?«

»Ihr seid also sehr glücklich, meine teure Anverwandte? Der Trank des Lebens ist für Euch also rein und frisch, er schmecket süß auf Eurer Zunge, nicht wahr; er wärmet Euer Blut und beschleunigt Eure Gedanken? Ist das die Wahrheit! niemals hefebitter, abgestanden und verfaulet? Niemals trübe wie von Schlangen und Wurmgezücht, so drinnen züngelt und herumkriechet? ... So hab ich mich also in Eurem Aussehen geirret?«

»Ja wenn Ihr mich auf die Weise beichten machen könntet!« sagte Marie und lachte ihm gerade ins Gesicht.

Sti Högh lächelte, führte sie zu einem kleinen Rasenhügel dort oben, und sie setzten sich nieder.

Er sah sie forschend an.

»Wisset Ihr nicht,« sagte er langsam, scheinbar verlegen und unsicher, ob er schweigen oder reden solle, »wisset Ihr nicht, Madame, daß es hier in der Welt eine geheime Sozietät gibt, so man die Kompagnie der Melancholischen nennen könnte? Das sind Leute, denen von Geburt an eine andere Natur und Beschaffenheit gegeben ist als andern; sie haben ein größeres Herz und hurtiger Blut, sie lechzen und verlangen nach mehr, begehren stärker, und ihre Sehnsucht ist wilder und brennender, als sie bei dem gemeinen Adelshaufen ist. Sie sind flugs wie Sonntagskinder, ihre Augen sind offener, alle ihre Sinne sind subtiler in ihren Empfindungen. Des Lebens Freud und Lust, die trinken sie mit ihren Herzenswurzeln, während die andern, die greifen nur mit plumpen Händen danach.«

Er hielt ein wenig inne, nahm seinen Hut in die Hand und ließ die Finger spielend über den vollen Federbusch gleiten.

»Aber«, fuhr er mit gedämpfterer Stimme und gleichsam für sich selber fort, »Wollust in Schönheit, Wollust in Pracht, in allen den Teilen, so man benennen kann, Wollust in den innersten Regungen des Gemütes, Wollust in den geheimen Trieben und Gedanken, die der Mensch selber niemalen recht zu begreifen vermag, alles dies, so anderen, wenn sie müßig sind, zu armseliger Kurzweil oder garstiger Schlemmerei dienet, das ist für ihre Seelen wie Heilkraft und köstlich Balsam. Es sind die einzigen honigtropfenden Blumen des Lebens, aus denen sie ihre tägliche Nahrung saugen, und deswegen suchen sie auch auf dem Baume des Lebens Blüten auf, wo jene niemals glauben würden, es gebe solche, – unter dunklen Blättern und an dürren Zweigen; aber sie, die anderen, was wissen die von Wollust in Trauer oder in Verzweiflung?«

Er lächelte höhnisch und schwieg.

»Aber weshalb,« fragte Marie und blickte gleichgültig von ihm hinweg, »weshalb nennet Ihr sie die Melancholischen, dieweil es doch nur die Freuden und die Lust der Welt sind, so sie in ihren Gedanken haben, und weder was schwer noch was traurig ist?«

Sti Högh zuckte die Achsel und machte Miene, sich zu erheben, als sei er es müde, länger bei diesem Gegenstand zu verweilen, und wolle das Gespräch abbrechen.

»Aber weshalb denn?« wiederholte Marie.

»Weshalb?« rief er ungeduldig und mit einer verächtlichen Betonung aus; »weil alle Wonnen des Erdenreiches so flüchtig und vergänglich, so falsch und unvollkommen sind; weil jede Wollust in der Stunde, wo sie aufflammet wie eine reiche Rose, sich entlaubet gleich einem Baum im Herbst; weil jedwede prächtige Lust des Lebens, strahlend in Schönheit und im fruchtbarsten Flor ihrer Kraft, flugs wenn sie dich mit gesunden Armen umfaßet, von dem Krebs des Todes eiternd verzehret wird, so daß du gerade, wenn sie deinen Mund berühret, spürst, wie sie von den Krämpfen der Vergänglichkeit erschüttert wird. Ist das denn wonnevoll? Muß sich nicht dieser Gedanke gleich rotem Rost in jede glückschimmernde Stunde hineinfressen, ja, gleich wie schädlicher Rauhreif jedes üppige Sentiment der Seele bis zu seiner tiefsten Wurzel hinab totfrieren machen?«

Er sprang von dem Hügel auf und sprach mit heftigen Gebärden auf sie ein.

»Ihr fraget noch, weshalb sie die Melancholischen genannt werden, wo alle Wollust, sobald man sie ergreifet, das Kleid wechselt und zu Ekel wird, wo aller Jubel nur der letzte, schmerzensvolle Atemzug der Freude ist, wo alle Schönheit eine Schönheit ist, die entschwindet, und alles Glück ein Glück, das zerbricht!«

Er begann vor ihr auf und nieder zu gehen.

»Also das ist es, was Euch auf Klostergedanken bringet?« sagte Marie und sah lächelnd nieder.

»So ist es, Madame; gar manches Mal stelle ich mir vor, daß ich in einer einsamen Klosterzelle eingesperret bin oder in einem hohen Turm gefangen gehalten werde, wo ich einsam an meinem Fenster sitze und achtgebe, wie das Licht verrinnet und die Dunkelheit hervorquillet, während die Einsamkeit, stumm und still, jedoch stark und üppig sich um meine Seele ranket und ihre labenden Traubensäfte in mein Blut gießet. – Ach, aber ich weiß sehr wohl, daß solches Dichtung ist und Trug; niemalen würde die Einsamkeit Macht über mich erlangen, ich würd mich sehnen wie Brand und rote Lohe, würd mich um Sinn und Verstand wieder nach dem Leben sehnen und nach allem, was des Lebens ist ... aber Ihr verstehet nichts von alledem, was ich hier predige. Lasset uns gehen, ma chère! es wird bäldiglich regnen jetzt, wo sich der Wind gänzlich geleget hat.«

»Aber es klärt sich ja auf! Sehet, wie hell es rings um den ganzen Himmelsrand ist!«

»Jawohl, es lichtet sich und dichtet sich.«

»Ich meine: nein«, sagte Marie und erhob sich.

»Ich schwöre: ja, mit Eurem günstigen Verlaub.«

Marie lief den Abhang hinab.

»Mannes Wille ist Mannes Himmelreich!« rief sie zurück, »kommt Ihr jetzt in das Eure hinab!«

Als sie unten waren, bog Marie ab, vom Schlosse weg, und Sti Högh folgte ihr zur Seite.

Er schien gedankenvoll und machte keine Miene, das unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen.

»Höret jetzt,« sagte Marie alsdann, »Ihr hegt im Grunde gute Gedanken von mir, Sti Högh; aufs Wetter verstehe ich mich nicht, und was die Leute zu mir reden, verstehe ich auch nicht.«

»Ach doch!«

»Aber nicht, was Ihr zu mir gesprochen habt.«

»Nein.«

»Jetzt schwöre ich: ja!«

»Schwören beißt kein Auge aus, wie Ihr wisset, es folge denn die Faust nach.«

»Nun ja, glaubet es, wenn Ihr wollet; aber ich kenne, weiß Gott, gar gründlich die schwere, stille Betrübnis, so einen überkommt, man weiß nicht warum. Herr Jens, der sagte immer, es sei das Heimweh nach dem Himmelreiche, wo einer jeden Christenseele rechte Heimat ist, aber ich glaub das kaum. Man hanget und banget und weiß keine lebende Hoffnung, so einen trösten kann; nein, nein, die bitteren Tränen, die mich das oft gekostet hat! Es kommet so unergründlich schwer und zehrend über einen, so daß man im tiefsten Herzen hinsiechet und sich so müde fühlt von seinen Gedanken und wünschet, man wäre niemalen geboren. Doch keinerzeit ist es des Glückes und der Welt Vergänglichkeit gewesen, so mir schwer in den Gedanken gelegen hat, als sei es das, um was ich traure; nein, niemalen! Es war etwas ganz anderes, es war ... ja, es ist nun so platterdings unmöglich, dieser Trauer einen Namen zu geben; aber es bedeucht mich, als sei es zuweilen am meisten gleichsam eine Trauer um einen heimlichen Mangel in unserer Natur, um einen inwendigen Schaden an unserer Seele, so uns ganz anders machet als andere Leute, geringer in jedweder Hinsicht ... nein, es ist nun so über die Maßen schwer, es in Worte zu fassen, geradeso wie man es meinet! Sehet, das Leben, die Welt, erschienen mir so unsagbar prächtig und schön, es mußte so stolz sein und lustig über die Maßen, daran teilzuhaben; ob in Leid oder Glück, das machte keinen Unterschied, wenn ich nur so recht wirklich litt oder mich freute, nicht zum Schein wie in einem Mummenschanz oder Fastnachtsspiel. Ich wollte, daß mich das Leben so stark packen sollte, daß ich niedergebeugt oder erhoben würde, so daß kein Gedankenraum in meinem Sinn blieb für anderes als für das, was mich erhöbe, oder das, was mich niederbeugte; ich wollte mit meinem Kummer dahinschmelzen oder mit meiner Freude zusammenglühen. Ach, Ihr fasset es niemalen! – wann ich würde wie einer von den Feldherren des römischen Reiches, die in Triumphwagen durch die Straßen geführet wurden, so wollt ich es solchermaßen sein, daß ich der Sieg und das Jubilieren wäre und der Stolz und das Freudengeschrei des Volkes und der Ton der Posaunen, die Macht und die Ehre, alles zusammen in einem einzigen schmetternden Klang; solchermaßen wollt ich es sein, doch nicht wie der, so in erbärmlicher Ehrsucht und kaltem Hochmut, während der Wagen dahinrollet, in seinem Herzen daran denket, wie stolz er in den neidsüchtigen Augen des Pöbels strahlet und wie ohnmächtig die Wellen der Mißgunst nach seinen Füßen lecken, während er mit Wohlbehagen den Purpur weich um seine Schultern und den Kranz kühl auf seiner Stirn fühlt. – Verstehet Ihr, Sti Högh, das, glaube ich, heißt Leben, das ist das Leben, nach dem mich dürstete; aber ich wußte bei mir selber, daß es so niemals für mich werden könne, und es wollte mir scheinen, daß ich selber schuld daran sei, auf die eine oder die andere unbegreifliche Weise, daß ich mich gegen mich selbst versündiget habe oder mich selbst in die Irre geführet; ich weiß nichts, aber es schien mir, als quelle all mein bitterer Kummer daraus, daß ich eine Saite berühret habe, die nicht tönen durfte, und bei ihrem Klingen sei etwas in mir zerrissen, das nimmermehr heilen könne, so daß ich niemalen mehr die Gesundheit erlangen würde, um die Tür des Lebens offen zu zwingen, sondern müßte da draußen stehen bleiben und den Tönen des Festes lauschen, ungeladen und ungesucht, wie eine mißgebildete Magd.«

»Ihr!« rief Sti Högh wie in Staunen aus; dann veränderten sich seine Mienen plötzlich, und er sagte mit einem ganz andern Klang der Stimme: »Nein, nein, jetzt sehe ich, was es ist,« und er schüttelte den Kopf über sie, »du gütiger Gott, wie leicht es dem Menschen doch wird, sich selbst in diesen Materien zu betrügen. So selten schlagen unsere Gedanken die Richtung ein, daß wir nicht Weg noch Steg kennen, aber wir rennen dann blindlings drauflos, ganz lustiglich, wenn wir nur etwas erblicken, so einer Spur verglichen werden kann, und sind bereit zu schwören, daß es die Landstraße ist. Oder hab ich unrecht, ma chère? Sind wir nicht alle beide, jedweder für sich und eins wie das andere, allwo wir eine Ursache für unsere Melancholie suchten, hingegangen und haben den ersten, besten Gedanken, auf den wir zufällig stießen, zu der einzig wahrhaftigen Erklärung erkoren? Sollte eins nicht nach dem, was wir gesagt haben, denken, daß ich umherginge, schwer bedrücket von dem Gedanken an die Vergänglichkeit der Welt und an die Dinge, so in der Welt sind, an ihren Unbestand und ihre Nichtigkeit, und daß Ihr, meine herzliebe Anverwandte, fest davon überzeuget wäret, daß Ihr ein Aschenbrödel seid, dem die Tür verschlossen und das Licht ausgelöscht ist und das kaum Mut hat zu hoffen? – Aber das hat alles nur wenig auf sich, denn wenn wir auf das Kapitel zu sprechen kommen, so trinken wir uns so leicht trunken an unsern eigenen Worten, und wir reiten so hartnäckig auf einem jeden Gedanken herum, dem wir nur einen Halfter überzuwerfen vermögen!«

Unten auf dem Steige kam die übrige Gesellschaft, und sie schlossen sich ihr an auf dem Wege nach dem Schlosse.


Die Uhr war halb acht am Abend des sechsundzwanzigsten September, als der Knall der Kanonen und die schmetternden Trompetenklänge eines festlichen Marsches zu erkennen gaben, daß beide Majestäten, begleitet von Seiner kurfürstlichen Hoheit, dem Prinzen Johann Georg von Sachsen, und seiner fürstlichen Frau Mutter, sich an der Spitze der vornehmsten Männer und Frauen des Landes vom Schloß durch den Garten hinabbegaben, um dem Ballett beizuwohnen, das dort jetzt seinen Anfang nehmen sollte.

Eine Reihe von Pechflammen warfen einen brandroten Schein über die roten Mauern der Gartenfassade, machten Taxus und Buchsbaum in einem Glanz von Bronze erröten und alle Wangen in der dunkel-starken Färbung kräftiger Gesundheit erglühen.

Seht, scharlachrote Trabanten in doppelter Reihe halten blumenumwundene Kerzen in die dunkle Luft empor, Lichtkronen und Harzpfannen, Feuerbälle und künstliche Lampetten, in gleicher Höhe mit der Erde und hoch oben zwischen dem vergilbenden Laub der Bäume, verscheuchen die Finsternis und halten dem prächtigen Zug einen strahlenden Weg offen.

Und das Licht funkelt in Gold und goldenen Fäden, spiegelt sich blank in Silber und Stahl und gleitet in glanzvollen Streifen an seidenen Kragen und seidenen Schleppen hinab. So weich wie rötlicher Tau ist es hingehaucht über den dunklen Samt, und sprühend weiß setzt es sich gleich Sternen auf Rubinen und Diamanten, und rote Farben brüsten sich mit gelben, das klare Himmelblau bildet einen Abschluß von dem Braunen, zwischen Weiß und Veilchenblau sticht Seegrün leuchtend hervor, Korallenrot versinkt zwischen Schwarz und Lila, und Gelbbraun und Rosa, Stahlgrau und Purpur werden durcheinander gewirbelt, Licht und Dunkel, Farbe auf Farbe in buntem Wogen.

Vorüber – unten auf dem Wege nicken noch die buschigen Federn weiß, weiß in der dämmernden Luft ...

Das Ballett oder die Masquerada, die nun agieret wird, heißt »Die Waldlust.«

Der Schauplatz ist ein Wald.

Kronprinz Christian als Jäger dolmetscht seine Freude über das fröhliche Jägerleben unter den laubreichen Kronen, lustwandelnde Damen singen von dem Duft der Veilchen, Kinder spielen Verstecken zwischen den Stämmen und pflücken Beeren in niedliche kleine Körbe, und muntere Bürgersleute jubilieren über die reine Luft und den klaren Traubensaft, während zwei närrische alte Weiber einen hübschen Bauernjungen mit verliebten Gebärden verfolgen.

Dann schwebt die Waldgöttin herbei, die jungfräuliche Diana, Ihre königliche Hoheit Prinzessin Anne Sofie.

Entzückt erhebt sich der Kurprinz und wirft ihr mit beiden Händen Fingerküsse zu, während der ganze Hof jubelt.

Und die Waldgöttin deklamiert, und ihr fürstlicher Freier führt in überströmend froher Dankbarkeit die Hände der hohen Eltern an seine Lippen.

Kaum ist die Göttin verschwunden, als Bauer und Bäuerin hervortreten und ein Duett von dem Glück der Liebe singen.

Nun folgen lustige Auftritte, Schlag auf Schlag; drei junge Herren putzen und verlustieren sich im Grünen, vier Offiziere sind munter, zwei Bauerknechte kehren wohlgemut vom Markt heim, ein Gärtnerbursche singt und ein Poet singt und schließlich sechs Personen, die auf allerhand tollen Instrumenten eine sehr ausgelassene Musik ausführen.

Und dann die Schlußszene.

Es sind elf Schäferinnen, nämlich Ihre königlichen Hoheiten die Prinzessinnen Anne Sofie, Friderika Amalie und Wilhelmina Ernestina, Madame Gyldenlôve und sieben schöne adlige Fräulein.

Sie tanzen nun mit großer Kunstfertigkeit einen ländlichen Tanz, worin dargestellt wird, daß Madame Gyldenlôve von den anderen geneckt und gehänselt wird, weil sie in Liebesgedanken versunken ist und nicht an ihrem lustigen Menuett teilnehmen will, und sie verspotten sie, weil sie ihrer Freiheit entsagt und ihren Nacken unter das Joch der Liebe gebeugt hat; aber da tritt sie vor und in einem zierlichen Pas-de-deux, den sie mit Prinzeß Anne Sofie tanzt, drückt sie dieser das reiche Entzücken und die Seligkeit der Liebe aus, und dann tanzen sie alle froh hervor, verschlingen sich untereinander in schwierigen Touren, während ein unsichtbarer Chor hinter der Bühne, von einer schönen Streichmusik begleitet, zu ihrem Preise singt:

»Ihr Nymphen hochberühmt, ihr sterblichen Göttinnen,
Durch deren Trefflichkeit sich lassen Heldensinnen
Ja, auch die Götter selbst bezwingen für und für,
Laßt nun durch diesen Tanz erblicken eure Zier,
Der Glieder Hurtigkeit, die euch darum gegeben,
So schön und prächtig sind, und zu dem End erheben,
Was an euch göttlich ist, auf daß je mehr und mehr
Man preisen mög an euch des Schöpfers Macht und Ehr.«

Damit war das Ballett zu Ende, und man zerstreute sich im Garten und lustwandelte zwischen den erleuchteten Bosketten oder ruhte in schön eingerichteten Grotten, während Edelknaben, als italienische oder hispanische Fruchtverkäufer ausstaffiert, Wein und Backwerk und Konfitüren in geflochtenen Körben umherreichten, die sie auf ihren Köpfen trugen.

Die Mitspielenden mischen sich nun auch in die Gesellschaft und nehmen Komplimente über ihre Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit in Empfang; aber alle sind sich einig darüber, daß nächst dem Kronprinzen und der Prinzessin Anne Sofie niemand seine Rolle so gut agiert habe wie Madame Gyldenlôve, und beide Majestäten, wie auch die Kurfürstin zollten ihr hohes Lob, und der König sagte, daß selbst Mademoiselle La Barre die Rolle nicht mit größerer Grazie oder lebenswahreren Gebärden hätte ausführen können.

Bis tief in die Nacht hinein wurde jetzt das Fest in den erleuchteten Gängen und in den nach dem Garten hinausliegenden Sälen fortgesetzt, wo Geigen und Flöten zum Tanz und reichbeladene Tische zum Trinken und Pokulieren einluden. Selbst auf den See hinaus erstreckte sich das Fest, und munteres Lachen klang aus mit Lampions behängten Gondeln da draußen in den Garten hinein.

Überall waren Menschen, – am meisten, wo das Licht strahlte und die Töne spielten, am wenigsten, wo das Licht fern war; aber selbst wo die Finsternis allein herrschte und die Töne halb untergingen in dem Flüstern des Laubes, wandelten lustige Reihen und stumme Paare. Ja, selbst in der entlegenen Grotte im äußersten Ostende hatte sich ein einsamer Gast zum Sitzen niedergelassen. Aber er war trübe gesinnt; die kleine Lampe oben in dem Laubgehänge der Grotte warf ihr flimmerndes Licht auf betrübte Mienen und mißmutige Brauen.

Weißgelbe Brauen.

Es war Sti Hôgh.

»... E di persona
Anzi grande, che no; di vista allegra,
Di bionda chioma, e coloria alquanto«

flüsterte er vor sich hin.

Er war nicht ungestraft während der letzten vier, fünf Wochen beständig mit Marie Grubbe zusammen gewesen. Sie hatte ihn gänzlich bezaubert. Er ersehnte nur sie, träumte nur sie, sie war seine Hoffnung und seine Verzweiflung. Er hatte früher geliebt, jedoch niemals so, niemals so weich und sanft und mutlos. Es war nicht, daß sie Ulrik Frederiks Gemahlin war, auch nicht, daß er mit ihrer Schwester verheiratet war, was ihm die Hoffnung benahm. Aber es war nun einmal das Wesen dieser seiner Liebe, daß sie mutlos war, seiner Schülerliebe, wie er sie bitter nannte. Sie hatte in sich so wenig Begier, so viel Furcht und Bewunderung, und doch auf andere Weise so viel Begier. Eine fieberbrennende, wehmütige Sehnsucht zu ihr hin, ein krankhaftes Schmachten danach, mit ihr in ihren Erinnerungen zu leben, mit ihr in ihren Träumen zu träumen, ihre Leiden mitzuleiden und ihre kühnen Gedanken zu teilen, nicht mehr, nicht minder. Sie war in den Tänzen so schön gewesen, aber noch fremder, noch ferner; die runden, blendenden Schultern, der volle Busen und die schlanken Glieder, das machte ihm geradezu bange; alle diese Leibespracht, die sie noch schöner und vollkommener machte, er fürchtete sich davor; sie machte ihn zittern und erschwerte ihm das Atemholen; er wagte nicht, sich davon fesseln zu lassen; er fürchtete sich vor seiner Leidenschaft, vor dem verzehrenden, himmelan lodernden Brand, der dadrinnen schwelte; denn dieser Arm um seinen Nacken, diese Lippen auf die seinen gepreßt, das war Wahnsinn, törichter Wahnsinnstraum; dieser Mund ...

»Paragon di dolcezza!
...............
... bocca beata,
... bocca gentil, che può ben dirsi
Conca d'Indo odorata
Di perle orientali e pellegrine;
E la porta, che chuide
Et apre il bel tesoro
Con dolcissimo mel porpora mista.«

Er erhob sich einen Augenblick von der Bank wie in Schmerz; nein, nein! und er klammerte sich wieder an seine demütige Liebessehnsucht, er warf sich in Gedanken in den Staub zu ihren Füßen, hakte sich fest an der Hoffnungslosigkeit seiner Liebe, hielt sich das Bild ihrer Gleichgültigkeit vor Augen, da – stand Marie Grubbe vor ihm in der gewölbten Öffnung der Grotte, Licht gegen die Finsternis draußen.

Sie war den ganzen Abend in einer seltsam glückseligen Stimmung gewesen; sie fühlte sich so sicher und gesund und mächtig; die Pracht des Festes und seine Klänge, die Huldigung und Bewunderung der Männer, sie schritt darüber hin, als sei es ein Scharlachteppich, der ausgebreitet war, damit ihr Fuß darauf trete. Denn sie war so ganz hingerissen, gänzlich berauscht von ihrer Schönheit. Es war, als dränge sich das Blut in reichen, funkelnden Strahlen aus ihrem Herzen heraus und würde zu Schönheitslächeln auf ihren Lippen, zu Strahlenglanz in ihrem Auge und Wohllautklang in ihrer Stimme. Es war eine jubelgesättigte Ruhe in ihrem Gemüt, eine wolkenlose Klarheit über ihren Gedanken, ein üppiges Entfalten in ihrer Seele, ein seliges Gefühl von Macht und Harmonie.

Niemals war sie so schön gewesen wie jetzt, mit dem übermütigen Lächeln des Glückes auf den Lippen und in Blick und Mienen die stolze Ruhe einer Königin; und so stand sie nun in der gewölbten Öffnung der Grotte, Licht gegen die Finsternis draußen. Sie sah auf Sti Hôgh herab und begegnete seinem hoffnungslos bewundernden Blick, und sie beugte sich zu ihm hinab, legte mitleidsvoll ihre weiße Hand auf sein Haar und küßte ihn. Nicht in Liebe, nein, nein! Gleich einem König, der einem getreuen Vasallen einen köstlichen Ring schenkt als Zeichen seiner königlichen Huld und Gnade, so gab sie ihm ihren Kuß in ruhiger Freigebigkeit.

Aber dann! dann wich einen Augenblick die Sicherheit von ihr, sie errötete und schlug die Augen nieder.

Hätte Sti Högh jetzt zugegriffen, hätte er den Kuß für mehr genommen denn eine fürstliche Gabe, er würde sie für immer verloren haben. Aber er kniete stumm vor ihr nieder, preßte dankbar ihre Hand an seine Lippen, wich dann ehrerbietig zur Seite und grüßte sie tief und ehrfurchtsvoll mit entblößtem Haupt und gebeugtem Nacken. Und sie schritt stolz vorüber, hinweg aus der Grotte, hinweg in die Finsternis.


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