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16

Als Gefängnisaufseher Hansen Paulus van Geldern die eiserne Galerietreppe heraufkommen sah, schloß er die Zelle auf und wartete, bis der Gefangene hineinging. Er beobachtete dabei voll Mitgefühl den Rechtsanwalt.

Paulus ging bis zum Fenster, blieb dort mit abgekehrtem Gesicht einige Sekunden stehen und wandte sich dann mit leeren Augen dem Beamten zu: »Ist etwas, Herr Hansen?«

Der Aufseher, der vor der Tür stand, trat ein und zog die schwere, eisengepanzerte Zellentür ins Schloß.

»Sie haben wohl wieder Fieber, Herr Rechtsanwalt?«

Paulus schüttelte den Kopf.

»Nicht mehr als sonst... aber... na, lassen wir's.. man muß sich mit den Dingen abfinden, so gut es geht!«

Er trat an den kleinen Wandschrank und nahm ein Stück Brot heraus, das er zum Frühstück nicht gegessen hatte.

»Soll ich Ihnen Ihr Essen besorgen, Herr van Geldern?«

»Nein, ich danke, lieber Herr Hansen, mir widersteht alles... ich kaue bloß ein bißchen Brot, um das Magenziehen wegzukriegen.«

»Aber dabei müssen Sie ja krank werden, und das Fieber kann gar nicht weggehen, wenn Sie so wenig essen!«

Paulus sah den jungen Beamten mit einem langen Blick an. Der merkte, daß der Gefangene allein sein wollte, und ging hinaus.

Paulus hörte die Schlüssel im Schloß klappern, ließ die an der Wand in Scharnieren hängende Bettstelle herunter und setzte sich darauf.

»Eine fürchterliche Sache«, murmelte er, »ganz furchtbar!... Wenn ich nur wüßte... wenn ich nur wüßte...«

Er ballte die Fäuste und spannte alle Sehnen und Muskeln an.

»... Man muß sich doch erinnern können!

... Man muß sich doch erinnern können!... Jeder Mensch kann sich erinnern... es ist ja Unsinn! ... So was kann man ja doch nicht vergessen!... Wo war ich in der Zeit? Wo?... Wo?... Wo ...?«

Er stand von seinem Bett auf und ging mit fünf großen Schritten durch die Zelle. Fünf Schritte her und fünf Schritte hin, fünf Schritte hin und fünf Schritte her... wieviel Tausende von Schritten er hier in diesem Raum wohl schon zurückgelegt hatte?... Es gab eine Zeit, da hatte man sich bemüht, die Schritte zu zählen. Und wenn die Zahlen zu lang wurden und man sie zu vergessen fürchtete, dann zählte man immer bis hundert und legte Merkzahlen ein zwischen die Hunderter und dann zwischen die Tausender und vergaß am Ende doch, wieviel es waren, und geriet in eine große, lächerliche Verzweiflung.

Was war denn das Fazit der heutigen Gerichtssitzung? Die Zeugin Minna Müller, dieses abscheuliche Gewürm, das er damals schon hätte zertreten sollen, als sie ihm mit Martha zusammen das Leben vergällte – sie hatte ihn heute mit Sicherheit unter ihrem Eide als den Mörder seiner Frau wiedererkannt... da half keine Widerrede, das war eine Tatzeugin! Eine Frau, die gesehen hatte, wie er in der Mordstunde bei seiner Frau war.

Aber wie konnte sie denn das...? Er war doch gar nicht... er war doch gar nicht... mit der Frau... in dem Kissenzimmer... er war doch...

Ja, wo war er nur... Wo war er denn gewesen ... in der Zeit?... In Berlin?... Mit dem Auto gefahren... mit welchem? Der Schofför hatte sich nicht gemeldet! War unauffindbar geblieben! Und wußte er selber denn, wohin er gefahren war...? In welches Café, um Kognak zu trinken? – – Nichts wußte er, nichts!

Und wenn er jetzt darüber nachdachte und wenn er sich den Kopf zerschlug und zerstieß, er konnte sich auf nichts mehr besinnen. Er wußte auch nicht, daß er wirklich mit dem Auto nach Berlin gefahren war! Wenn er ganz ehrlich sein sollte, wußte er nicht mal das!

Er zweifelte an allem, an sich selbst und an der Wahrheit dessen, was er glaubte und was er nicht glaubte.

Und wenn er jetzt darüber nachdachte, wann er mit dem Auto gefahren war... Aber er hatte doch Kognak getrunken!... Hatte er...? Hatte er wirklich?

Eine gräßliche Angst, eine Unsicherheit, ein wütender, quälender Zweifel überfiel ihn: Wenn er nicht in Berlin war, wenn er gar nicht wußte, wo er war, konnte er da nicht doch zu Hause gewesen, vielleicht gleich wieder nach Hause gefahren sein? Konnte er nicht in die Villa gekommen sein, ohne daß jemand ihn beobachtet hatte?... Von dem wüsten und wütenden Wunsch getrieben, endlich einmal Rache zu nehmen?

Er wußte ja nichts, gar nichts! Er hatte einfach nicht das Bewußtsein jener Stunde. Es war eine Taste in seiner Erinnerung, die nicht anschlug.

Er versuchte mit List in diese Dämmerung einzudringen: wenn man mit der Autodroschke davonfahren will, so muß man von seinem Hause aus durch eine Tür hinausgehen in den Garten und aus dem Garten durch die Gittertür auf die Straße, muß warten, bis ein Auto kommt, oder muß es an einer Haltestelle suchen, und dann muß man einsteigen, muß dem Schofför etwas sagen... man macht eine Bewegung ... man steht seine Hände an... zieht Handschuhe über... nimmt eine Zigarette aus dem Etui, steckt sie an – tausend Verrichtungen, die einem, da sie gewohnte Erinnerungsmomente sind, doch wieder einfallen müssen, die Anhaltspunkte geben, Merksteine, von denen aus man weitertasten, hineinfinden kann in die Tatsachen und herauskommen aus seinem Zweifel!

Aber alle diese kleinen und kleinsten Lebensvorgänge wiederholen sich ja täglich. Man hat sie alle schon hundertmal erlebt, und wenn man sich gerade für einen Tag, für eine bestimmte Stunde an sie zu erinnern meint, dann hebt das kritische Bewußtsein gleich den dürren Finger: Halt! Kein Beweis! Was du feststellst, kann gestern, vorgestern und vor einem Jahr gewesen sein!

Paulus versuchte, seinem Feind anders beizukommen. Es gab keinen zweiten Tag, an dem er sich gerade um die Mittagsstunde so bis zum Schlagen mit Martha gezankt hatte. Das war nicht tägliches Erlebnis! Das war einmalig! Geschehen mittags um drei Uhr am fünften Januar, wohl dem kältesten Tage im Jahr! Da hatte er einwandfreie, unumstößlich feststehende Tatsachen! Aber wie er nun von dieser Seite die Fäden weiterspinnen, die Linien in die Vergangenheit verfolgen wollte, verwogte alles wie Nebel und Rauch. Es gab kein Weiter. Von diesem Augenblick, von dieser Minute des Zankes und des Hausverlassens an war alles zu Ende – –

Hatte er denn das Haus verlassen? War er wirklich fortgegangen? Der gräßliche Wirbel, der Tanz der verzweifelten Gedanken schwang von neuem um ihn her und riß die arme Seele wie eine höllische Melodie immer wieder um seine Achse.

Paulus war längst wieder auf sein Lager gesunken. Als Aufseher Hansen durch den Spion blickte, lag die Riesengestalt des Gefangenen auf dem Bett; den Kopf auf das harte Kissen gedrückt, flog der Körper in wildem, atemlosem Schluchzen.


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