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Keinen Blick verwandte Greta, in dem geschlossenen Wagen sitzend, von der hohen Tür, die, halb offen, einen Blick in das Justizgebäude gestattete. Die Sekunden fielen wie heiße Tropfen. Bis Greta jäh zusammenzuckte: die Erwartete trat auf die Straße und ging eilig davon.
Luise Ocker war hell gekleidet. Auf ihrem blonden Haar trug sie eine kleine Kappe aus durchbrochenem Silbergeflecht. Und Greta überlegte sofort, daß man sie im Straßengewühl an dieser silbernen Kopfbedeckung leicht erkennen würde.
In diesem Augenblick trat Doktor Vierklee aus dem Tor, lief über die Straße, sprang ins Auto und rief dem Schofför zu: »Ganz langsam!«
Der Wagen fuhr Schritt.
Greta, mit ihren Augen unverrückt an der Gestalt hängend, die drüben eilig hinschritt, rief laut: »Sie steigt in ein Auto!«
Joachim Vierklee lächelte.
»Und wir sitzen schon drin!«
Durch die halboffene Scheibe befahl er dem Schofför: »Der Dame, die dort eben ins Auto steigt, immer in demselben Abstand nachfahren!«
»So, gnädiges Fräulein, jetzt haben wir Zeit, alles zu besprechen... Wie sah der Mann aus, der vorhin mit Fräulein Ocker im Zeugenraum zusammenstand?«
Greta schilderte ihn bis ins kleinste.
Der Rechtsanwalt nickte.
»Das Wichtigste ist, daß wir erst einmal feststellen, wo Lula hin will und ob sie sich etwa mit ihrem Kavalier trifft... später... hm... ja, sagen Sie, gnädiges Fräulein, machte dieser Mann, ich meine der Schwarzhaarige, machte er denn aus Sie den Eindruck, als ob er für das Verbrechen überhaupt in Frage käme?«
Greta wurde förmlich traurig. Sie sagte offen: »Nein, Herr Rechtsanwalt, so sah er nicht aus.«
»Was für einen Eindruck hatten Sie denn von ihm?«
Greta suchte nach einem Wort, schien es auf den Lippen zu haben.
»Na, sagen Sie es mal ganz offen!«
»Ja, Herr Doktor, wenn ich sagen darf? Er sah aus wie ein schöner Teufel!«
»Soo.« Vierklee lachte. »Aber schön war er, dieser Teufel?« Er blickte durchs Fenster am Rücken des Schofförs vorbei.
»Die gute Lula scheint ins Tiergartenviertel zu wollen... der richtige Boden für ihresgleichen...«, zu Greta blickend: »Aber das wird Sie weniger interessieren, gnädiges Fräulein...«
Greta sagte energisch: »Im Gegenteil, Herr Rechtsanwalt, das interessiert mich außerordentlich! Alles, was mit Paulus' Sache zusammenhängt, interessiert mich!«
Vierklee nickte, immer am Schofför vorbeisehend: »Ach, sie biegt in die Viktoriastraße... sollte sie vielleicht zu Miß Ellinor wollen?« Und zum Schofför: »Wenn die Droschke vor Nummer 21 hält, fahren Sie ruhig weiter.«
Die Taxe hielt in der Tat vor Nummer 21. Vierklees Auto fuhr in mäßigem Tempo vorbei und blieb fünfzig Schritt entfernt stehen.
Der Schofför fragte aufmerksam, ob er vielleicht bis zur Querstraße fahren und umdrehen dürfe: »Sie können sie sonst schlecht beobachten, Herr Doktor!«
Aber ehe dieses Manöver ausgeführt werden konnte, trat die Verfolgte schon wieder aus dem Schönheitssalon auf die Straße. Sie kam zurück, ging die Viktoriastraße nach der Tiergartenstraße zu und bog endlich in die Friedrich-Wilhelm-Straße ein. Dort war sie, ehe das Auto heran war, in einem Hause verschwunden.
Vierklee ließ halten.
»Wohnen tut sie hier nicht... aber vielleicht der schwarze Kavalier... warten Sie einen Augenblick, gnädiges Fräulein... ich will nur mal telefonieren.« Er stieg aus, ging in das gegenüberliegende Zigarrengeschäft, ließ sich dort die Nummer 177 17 Amt Lützow geben und sagte, als der Teilnehmer sich meldete, ein paar knappe Sätze in lateinischer Sprache. Hing den Hörer an und saß gleich darauf wieder neben Greta im Auto.
Die Arme befand sich in einer furchtbaren Aufregung.
Der Anwalt nahm die Hände des Mädchens und strich leise darüber: »Solange ein Mensch lebt, darf und muß man hoffen. Und bevor das Urteil nicht gesprochen ist, soll man nicht verzweifeln. Ich habe soeben mit einem der geschicktesten Detektive Berlins gesprochen, und ehe noch der Abend vergeht, werde ich wissen, wohin und zu wem sich Fräulein Ocker jetzt begeben hat.«
Im Grunde seines Herzens war Vierklee nicht so überzeugt, daß seine Nachforschungen schnellen Erfolg haben würden. Aber man mußte dem armen Mädchen solange wenigstens die Hoffnung erhalten.
Trotzdem wollte er sie auf einen möglichen Mißerfolg vorbereiten, der ihm um so wahrscheinlicher vorkam, als er an einen Zusammenhang zwischen der Mordsache und Lula de la Rocca oder ihrem Kavalier innerlich nicht glaubte.
»Sehen Sie, gnädiges Fräulein, wir dürfen uns davon nicht allzuviel versprechen. Wenn wirklich die Lula damals Schmucksachen an die Ermordete verkauft hat, so will das noch nicht allzuviel bedeuten. Die Martha Streckaus hat eben zu jeder Zeit von den verschiedensten Frauen – vielleicht auch von Männern – Schmuck gekauft. Daran, daß diese Wertsachen zum Teil unrechtmäßig erworben waren, zweifle ich keinen Augenblick. Aber hier handelt sich's um die Pretiosen, die bei dem gewaltsamen Tode der Streckaus geraubt worden sind. Und von diesen Schmucksachen kann kein Mensch behaupten, daß sie gestohlen waren. Im Gegenteil; die beiden sachverständigen Juweliere sind einwandfreie Leute. Und die haben bekundet, daß die sämtlichen im Prozeß bezeichneten Stücke von ihnen stammen und daß sie bar bezahlt worden sind.«
Greta schüttelte merkwürdig ruhig den Kopf.
»Ja, ja, Herr Rechtsanwalt, das habe ich mir alles auch schon gesagt. Und dennoch komme ich nicht los von der Idee: Die blonde Frau und ihr Begleiter haben etwas mit dem Mord zu tun!«
Vierklee hatte den Wagen nach der Kaiser-Friedrich-Straße beordert.
Jetzt hielt er vor den hohen Schwesterhäusern, in deren einem Greta mit ihrer Mutter wohnte.
»Verlieren Sie nicht die Geduld, mein liebes Kind«, sagte der Anwalt und hielt die Hand, die ihm Greta reichte, einen Augenblick in der seinen. »Ich hoffe bestimmt, Ihnen heute oder spätestens morgen Neues und, ich glaube, auch Tröstliches sagen zu können.« Er zögerte ein wenig. »Wenn wir aber nicht so schnell zu Rande kommen sollten mit unseren Erkundigungen; wenn wirklich ein Urteil – ja, mein liebes Fräulein, Sie dürfen nicht so ängstlich sein!... Man muß den Dingen ins Auge sehen, wenn man ihnen wirksam begegnen will! Wenn das Urteil Anfang nächster Woche gesprochen werden sollte – dann bleibt uns in jedem Fall die Revision! Und dann haben wir Zeit! Dann finden wir, was wir suchen!« Er drückte noch einmal ihre beiden Hände und half ihr aus dem Wagen.
Als habe sie Blei in den Füßen, schleppte sich Greta die vier Treppen hinauf und sank neben dem Lehnstuhl ihrer Mutter auf das kleine Fußbänkchen nieder. Aber die Gedanken rasten weiter und bewahrten den erschöpften Körper vor dem Zusammenbruch ... Irgendwo auf der Welt mußte ein Mensch sein, der ihr helfen konnte... irgendeiner mußte doch etwas wissen von den wahren Zusammenhängen der Tragödie.
Gretas Mutter war wach. Voller Angst zog sie ihre Tochter an sich. Aber sie konnte ihr nicht mehr geben als Worte, die voller Liebe und ohne Nutzen waren.
Plötzlich stand Greta auf, küßte ihre Mutter auf die Stirn und bat sie, ihr nicht böse zu sein, sie könne nicht bleiben! Sie müsse hinaus auf die Straße, in die Stadt hinein, vielleicht zum Rechtsanwalt noch einmal... jemand suchen – –
Sie zuckte wie im Fieber.
»Am Abend bin ich wieder hier, Mutter! Leb wohl und ängstige dich nicht um mich!«
Sie war fort. Frau Heerström hörte draußen die Tür ins Schloß fallen.
Greta flog die Treppen hinab... Jetzt, jetzt wußte sie, an wen sie sich wenden mußte!