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Der Gefangene schlief so fest, daß er das Läuten der Morgenglocke überhörte und der hereintretende Aufseher ihn wecken mußte.
Mühsam aus einem nicht erkannten Traum sich lösend, setzte sich Paulus auf. Er war noch ganz verwirrt, aber er fühlte, daß der Fieberanfall vorüber war.
»Was ist denn, Herr Hansen?«
Der Aufseher mit dem jungen, gar nicht militärischen Gesicht nickte seinem Gefangenen zu: »Es ist Sonntag, Herr van Geldern!«
Der bewegte nachdenklich zustimmend den Kopf: »Sonntag – – ja, ja, es gibt hier auch Sonntag!«
Der Aufseher trat näher an das Bett und sah mit einem guten, fast kindlichen Ausdruck zu dem Gefangenen nieder, der sich noch einmal ausgestreckt hatte: »So lange kann es ja nicht mehr dauern, Herr van Geldern ...
»Nein, nein, jetzt bin ich ja bald frei!«
Ein Erschrecken lief über das Gesicht des blonden jungen Menschen. Er beherrschte sich aber schnell. Nickte, als sei er innerlich auch fest überzeugt, daß dieser Mordprozeß nur mit einem glatten Freispruch enden könnte. Aber sein Gewissen ließ ihm doch keine Ruhe: »Herr Rechtsanwalt«, zögernd kamen ihm die Worte, »haben Sie nicht auch schon mal jemand verteidigt, der unschuldig war ... wirklich unschuldig ... und der doch verurteilt worden ist?«
Mit jenem überlegenen Lächeln, das ihn um Jahre älter erscheinen ließ, nickte van Geldern: »Gewiß, ja, das kommt vor ... aber mit meinem Fall, das liegt doch anders! ... Das ist doch alles so sonnenklar!... Sie haben gewiß gehört, daß der Vorsitzende gestern so ... so wenig freundlich zu mir war? ... Aber das sind rein persönliche Dinge ... das Urteil kann davon nicht berührt werden!«
Da wandte sich der Aufseher nach dem Fenster und dem braunen Schränkchen, das hoch an der Wand hing, und schloß die Tür, die Paulus in der Nacht offen gelassen hatte: War diese Zuversicht ehrliche Überzeugung oder wollte dieser Mann sich selbst damit den Nacken steifen?
»Sie werden es ja besser wissen, Herr Rechtsanwalt ... bei solcher Praxis, wie Sie sie haben ... aber ja«, er drehte sich rasch wieder zu van Geldern um, »weswegen ich eigentlich gekommen bin: der Herr Professor Grolly will Sie nachher aufsuchen.« Der Wärter sah nach der Uhr: »Schon nach acht ... da kann er jede Minute hier sein!«
»Er ist schon da!« sagte eine tiefe, klangvolle Stimme von der sich öffnenden Zellentür her, und ein schlanker, noch junger Mann trat herein, der hinter seiner Hornbrille den scharfen Blick auf den ruhenden Gefangenen richtete.
Paulus, der mit Erlaubnis der Gefängnisverwaltung seinen Schlafanzug trug, war mit einem Satz aus dem Bett. Er grüßte den berühmten Arzt militärisch stramm stehend. Der schüttelte den Kopf: »Nicht doch, Herr Rechtsanwalt! Ich bin ja kein Oberstabsarzt! Wir wollen uns auf Ihr Bett setzen, 'ne andere vernünftige Sitzgelegenheit sehe ich hier nicht ... so nun erzählen Sie mal was über sich selber!«
Paulus kannte derartige Explorationen im Gefängnis. Er hatte sie oft genug für seine Mandanten herbeigeführt. Aber jetzt, wo er selber das Objekt sein sollte, jetzt kroch ihm etwas wie ein heißer Schauer in der Brust empor. Ein Würgen im Hals beraubte ihn sekundenlang der Sprache. Er fühlte, daß sein Kopf sich rötete, und im nächsten Augenblick hatte er wieder Fieber. Aber der Schauer ging schnell vorüber, und die Selbstdisziplin, mit der er von Anbeginn seiner Gefangenschaft alle seine Funktionen regelte, gewann die Oberhand.
»Darf ich einige Fragen au Sie richten?«
Sie saßen unweit voneinander auf dem harten Kissen der eisernen Bettstelle, und ihre Augen, beide klar und ruhig, hielten einander fest.
»Was war Ihr Vater? ... sein Beruf? ... seine Tätigkeit? ... sein Gesundheitszustand? ... Woran ist er gestorben, und was hat er für besondere Eigenheiten gehabt, die sich vielleicht auf Sie übertragen haben können?«
»Mein Vater war Bankdirektor. Er ist, ebenso wie meine Mutter, früh gestorben. Ich war damals noch nicht zehn Jahre alt. Erzogen wurde ich bei meinem Onkel, der ebenfalls Bankfachmann war ... Mein Vater war ein – ich habe ihn sehr liebgehabt und es liegt mir fern, eine Kritik an ihm zu üben – er war ein Lebemann. Man darf wohl sagen, daß er gern getrunken hat, besonders schwere Rotweine. Er starb an Gehirnschlag wenige Tage nach dem Tode meiner Mutter, die auf der Landstraße von einem Lastwagen überfahren wurde. Ich erinnere mich, daß ich damals, obwohl ich, wie gesagt, erst zehn Jahre alt war, meinem Leben ein Ende machen wollte. Ich hatte beschlossen, mich aufzuhängen. Aber mein Onkel, der meinen Seelenzustand erkannte, hat mich davon zurückgehalten.«
Professor Grolly nickte bedächtig: »Sind Ihnen sonst Fälle von Selbstmord, von Wahnsinn, Schwachsinn oder überhaupt von schwerer psychischer Belastung in Ihrer Familie bekannt?«
»Nein, nicht daß ich wüßte ... oder doch, eine Schwester meiner Mutter ist ewig Kind geblieben. Tante Frieda hieß in der Familie nicht anders wie Kleinchen. Sie galt als geistig minderwertig.«
Der Psychiater machte sich Notizen: »Und Sie selbst, Herr Rechtsanwalt, haben Sie irgendeine außergewöhnliche Krankheit in Ihrer Jugend gehabt?«
»Ja, Herr Professor: Meningitis!«
»So ... hm ... wie alt waren Sie damals?«
»Das war gleich nach dem Tode meiner Mutter. Eine regelrechte Hirnhautentzündung, an der ich monatelang gelegen habe.«
»So ... und nachher, später, als Sie erwachsen waren? Vielleicht irgendeine Blutkrankheit?«
»Nein, Herr Professor, mit Ausnahme der erwähnten Kopfgeschichte bin ich in meinem Leben niemals krank gewesen. Nicht die kleinste Grippe; und wenn eine Erkältung, so habe ich sie jedenfalls kaum bemerkt ...
Der Professor prüfte nun flüchtig die Reflexe an van Gelderns Knie und Auge: »Ihre Nerven sind trotz der doch gewiß nicht einfachen seelischen Erschütterung überraschend wenig irritiert.« Er sah dem jungen Anwalt nochmals lange und prüfend in das von der Gefängnisluft ein wenig bleiche Gesicht: »Sind Ihnen in Ihrem eigenen Leben irgendwelche Besonderheiten, Abweichungen von der Norm aufgefallen?«
»Nein, Herr Professor. Ich bin, soweit ich mich im Vergleich mit anderen Männern beurteilen kann, ein durchaus normaler Mensch. Oder – – aber das brauche ich vielleicht gar nicht zu erwähnen –«
»Doch, doch, gerade das, was die Patienten für unwichtig halten, das gibt dem Psychiater oft die allerwichtigsten Fingerzeige. Was wollten Sie sagen? Was ist Ihnen aufgefallen?«
Paulus sah – absichtlich oder nicht – an Professor Grolly vorüber, als er sagte: es ist auch schon ziemlich lange her, mindestens ein Jahr, daß es mir zuletzt passiert ist. Ich vergesse manchmal Dinge, und zwar derart, daß ich keine Ahnung habe, daß sie jemals vorhanden waren. Es kommt vor, daß die Erinnerung daran viel später wieder auftaucht. Aber ich habe den Beweis, daß ich auch gewisse Dinge vergessen habe, die nie wieder an die Oberfläche gekommen sind.«
Der Gelehrte zog die hohe Stirn in Falten. Er hatte seine Brille abgenommen und rieb sich die Augen:
»Das wären denn deutliche Gedächtnislücken, denen eine unvollständige oder überhaupt nicht einsetzende Erinnerung gegenübersteht.«
Paulus nickte mehrmals
Dieselbe plötzliche Unsicherheit, die er im Gerichtssaal gezeigt hatte, als Landgerichtsdirektor Hallmann von dem geraubten Schmuck Martha Streckaus' zu reden begann, dasselbe ängstliche Tasten zeigte sich jetzt wieder bei Paulus.
»Ist denn das so ... wie soll ich sagen? ... Ist das irgendwie bedeutsam, Herr Professor?«
Der machte eine abwägende Gebärde:
»Bedeutsam? Gott, wie soll man darauf antworten? ... Bedeutsam ist eben alles im Leben. Wir Psychiater sind uns längst darüber klar geworden, daß es häufig recht geringfügige Dinge sind, die Veränderungen und Verschlechterungen der menschlichen Hirnsubstanz ankündigen. Aber freilich, ebensogut können solche Symptome gar nichts besagen ... Sie haben jedenfalls nicht die geringste Veranlassung, sich irgendwie zu beunruhigen!«
Der Professor stand vom Bett auf.
Er reichte dem Angeklagten van Geldern die Hand and sagte: »Es ist eine nicht leichte Situation, in der Sie sich befinden; was Sie als Strafverteidiger ja selbst vollkommen begreifen und richtig übersehen werden!«
Auf Paulus van Gelderns Gesicht erschien wieder jenes Lächeln einer erschütternden Zuversicht.
»Wie meinen Sie das, Herr Professor!«
»Na ...«
Und ehe der Gelehrte weiter sprechen konnte, fuhr Paulus beinahe mit Humor fort:
»Ich muß an meiner Person, verehrter Herr Professor, das Monstrum eines Indizienbeweises ad oculos demonstrieren!«
»Immerhin müssen Sie zugeben, daß die Indizien, die gegen Sie vorliegen, recht umfangreich und sehr gravierend sind!«
»Ich leugne den Wert aller Indizien, soweit es nicht absolute kriminalistische Sachfunde sind. Die Indizienkette beruht meist zum überwiegenden Teil auf Zeugenaussagen. Und Zeugenaussagen sind und bleiben immer und ewig Fiktionen. Kein Mensch ist imstande, auch selbst gesehene Dinge, besonders wenn sie im Affekt wahrgenommen werden, so zu werten, so in sich aufzuheben und so wiederzugeben, daß sie der Wirklichkeit entsprechen. Wir empfangen einen Eindruck ... von außen oder von innen ..., den nehmen wir auf, verarbeiten ihn, geben ihm die Farbe unserer eigenen Individualität, vermischen ihn mit den Säuren und Salzen der eigenen Seele und reproduzieren so etwas, das der Wirklichkeit nahe kommen kann, das aber in den allermeisten Fällen ein Zerrbild der Tatsachen bleibt.«
Der Professor hatte nachdenklich zugehört. Er wandte sich halb nach der Tür, als er sagte:
»Sie mögen nicht unrecht haben. Vergessen Sie aber bitte nicht, lieber Herr Rechtsanwalt, daß das Theorien sind, nach denen heute nicht gerichtet werden kann. Vielleicht niemals, weil es nie möglich sein wird, Ersatz für die Zeugenaussage zu schaffen! ... Ich habe weder das Recht noch die Absicht, Sie von dem zu unterrichten, was mir in meiner Stellung als Sachverständiger in diesem Prozeß zu Ohren gekommen ist, aber ich darf und ich will Ihnen sagen: Sie sind wie einer, der nachts mit geschlossenen Augen auf einem Turmseil hin und her geht. Ein Anruf, eine falsche Bewegung kann Sie herunterstürzen lassen!«
Damit reichte er dem Gefangenen seine schmale kühle Rechte. Und es war Paulus plötzlich, als sei die ihm aus dem Unsichtbaren und Wesenlosen hinübergestreckt worden.