Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Zweiter Band
Victor Hugo

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6. Drei verschieden gebildete Menschenherzen.

Phöbus indessen war nicht gestorben. Menschen dieses Schlages haben ein zähes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, der peinliche Anwalt des Königs, zur armen Esmeralda gesagt hatte: »Er liegt im Sterben«, so war das aus Irrthum oder aus Scherz geschehen. Als der Archidiaconus der Verurtheilten wiederholt gesagt hatte: »Er ist todt«, so wußte er tatsächlich nichts davon, glaubte es aber, rechnete darauf, zweifelte nicht daran, hoffte es ganz gewiß. Es wäre für ihn doch gar zu hart gewesen, dem Weibe, welches er liebte, gute Nachrichten über seinen Nebenbuhler zu hinterbringen. Jeder Mann an seiner Stelle hätte ebenso gehandelt.

Nicht etwa, als ob die Verwundung des Phöbus nicht gefährlich gewesen wäre, aber sie war es nicht in dem Maße gewesen, wie der Archidiaconus sich schmeichelte. Der Heilkünstler, zu welchem die Soldaten der Wache ihn im ersten Augenblicke getragen, hatte acht Tage lang für sein Leben gefürchtet, und er hatte ihm das sogar auf Lateinisch gesagt. Gleichwohl hatte seine Jugend wieder die Oberhand gewonnen; und, was ungeachtet Vermuthungen und Krankheitszeichen häufig vorkommt: die Natur hatte sich gefallen, trotz des Arztes den Kranken zu retten. Während er noch auf dem Krankenbette beim Heilkünstler lag, hatte er sich dem Verhöre Philipp Lheuliers und der Untersuchungsrichter des geistlichen Gerichtes unterzogen, was ihn sehr gelangweilt hatte. Daher hatte er an einem schönen Morgen, als er sich besser fühlte, dem Pillendreher seine goldenen Sporen als Zahlung überlassen, und hatte sich davongemacht. Das hatte übrigens bei der Einleitung des Processes keine Störung verursacht. Die Gerechtigkeitspflege von damals beunruhigte sich sehr wenig über die Deutlichkeit und Reinlichkeit eines Criminalprocesses. Wenn der Angeklagte nur gehangen wurde, so war ihr das vollkommen genügend. Nun, die Richter hatten hinreichende Beweise gegen die Esmeralda. Sie hatten den Phöbus für todt gehalten, und damit war alles gesagt worden.

Phöbus seinerseits hatte keine große Flucht unternommen. Er war ganz einfach bei seiner Compagnie wieder eingetroffen, die zu Queue-en-Brie, in der Provinz Ile-de-France, einige Stationen von Paris, in Garnison lag.

Nach allem behagte es ihm ganz und gar nicht, in diesem Processe zu erscheinen. Er fühlte dunkel, daß er darin eine lächerliche Rolle spielen würde. Im Grunde wußte er nicht hinlänglich, was er über die ganze Angelegenheit denken sollte. Als Weltkind und abergläubischer Mensch, wie jeder Soldat, der nichts als Soldat ist, war er, wenn er sich über dieses Abenteuer befragte, nicht eins mit sich hinsichtlich der Ziege; ferner über die befremdliche Art, mit der er mit Esmeralden zusammengetroffen war; über die nicht minder sonderbare Weise, mit der sie ihm ihre Liebe hatte errathen lassen; über ihren Stand als Zigeunerin; endlich hinsichtlich des gespenstigen Mönches. Er sah in dieser Geschichte viel mehr Zauberei, als Liebe; aller Wahrscheinlichkeit nach eine Hexe; vielleicht den Teufel selbst; zuletzt eine Komödie, oder um die Sprache von damals zu reden, ein höchst unangenehmes Schauspiel, in dem er eine sehr unbeholfene Rolle, nämlich die des Geprügelten und Gefoppten, spielte. Der Hauptmann war darüber ganz beschämt; er fühlte die Art Scham, die der berühmte Fabeldichter La Fontaine so treffend gekennzeichnet hat:

»Beschämt ganz wie ein Fuchs, den ein Huhn hätt' überrascht.«

Er hoffte übrigens, daß die Angelegenheit nicht ruchbar werden würde; daß sein Name, bei seiner Abwesenheit, kaum dabei genannt werden, und in jedem Falle nicht über den Verhandlungssaal im Tournelle hinaus erschallen würde. In diesem Punkte täuschte er sich auch wirklich nicht; es gab damals überhaupt noch keine »Gerichtszeitungen«, und weil kaum eine Woche vorüberging, ohne daß in einem der zahllosen Criminalgerichte von Paris nicht ein Falschmünzer zum Lebendiggesottenwerden, oder eine Hexe zum Galgen, oder ein Ketzer zum Scheiterhaufen verurtheilt worden wäre, so war man dermaßen daran gewöhnt, zu sehen, wie die alte, feudale ThemisDie Göttin der Gerechtigkeit bei den Alten. Anm. d. Uebers. auf allen Kreuzwegen in nackten Armen und aufgestreiften Aermeln ihr Geschäft mit Gabeln, auf Leitern und an Prangern verrichte, daß man kaum noch Acht darauf gab. Die schöne Welt jener Zeit wußte kaum den Namen des armen Sünders, der an der Straßenecke vorüberging; und höchstens ergötzte sich der große Haufe an diesem krassen Schauspiele. Eine Hinrichtung war ein gewöhnlicher Vorfall auf dem öffentlichen Platze, gerade wie die Glutpfanne eines Pastetenbäckers oder das Schlachthaus eines Schinders. Der Henker war nichts weiter als eine Art Schlächter, nur ein bißchen bewanderter, als ein anderer.

Phöbus beruhigte seinen Geist also ziemlich bald über die Zauberin Esmeralda, oder Similar, wie er zu sagen pflegte; über den Dolchstich der Zigeunerin oder des gespenstigen Mönchs (es lag wenig daran), und über den Ausgang des Processes. Aber sobald als sein Herz nach dieser Seite hin frei war, kehrte das Bild von Fleur-de-Lys dahin zurück. Das Herz des Hauptmanns Phöbus hatte, wie die damalige Physik, Schrecken vor der Leere.

Uebrigens gab es keinen abgeschmackteren Aufenthaltsort, als Queue-en-Brie. Es war ein Dorf, von Hufschmieden und Kuhhirtinnen mit rauhen Händen bewohnt; eine lange Reihe kleiner Häuser und Strohhütten, welche die lange Landstraße von beiden Seiten eine halbe Meile hin einfassen, – mit einem Worte: am Weltende.

Fleur-de-Lys war seine vorletzte Liebe: ein hübsches Mädchen mit einer allerliebsten Mitgift; eines schönen Morgens also langte der verliebte Cavalier, nachdem er vollständig genesen war, und wohl vermuthen konnte, daß die Angelegenheit mit der Zigeunerin vorbei und vergessen sein dürfte, hoch zu Rosse vor der Thüre des Hauses Gondelaurier an. Er achtete nicht auf eine ziemlich zahlreich versammelte Menschenmenge, welche sich auf dem Platze des Vorhofes, vor dem Haupteingange von Notre-Dame, drängte; es fiel ihm ein, daß man im Monat Mai war; er vermuthete irgend einen festlichen Aufzug, eine Pfingstfeierlichkeit, ein Fest, band sein Pferd an den Pfortenring der Vorhalle und stieg wohlgemuth in die Wohnung seiner schönen Braut hinauf.

Sie war allein mit ihrer Mutter.

Fleur-de-Lys hatte immer noch die Scene mit der Hexe, ihre Ziege, ihr verwünschtes Alphabet und die lange Abwesenheit des Phöbus auf dem Herzen. Als sie daher ihren Hauptmann eintreten sah, fand sie ein so gutes Aussehen, einen so neuen Waffenrock, ein so glänzendes Wehrgehenk und ein so verliebtes Aussehen an ihm, daß sie vor Lust erröthete. Das edle Fräulein war gleichfalls liebreizender, denn jemals. Ihre prächtigen blonden Haare waren zum Entzücken geflochten, sie war ganz in jenes Himmelblau gekleidet, welches die Blondinen so gut kleidet: eine Koketterie, in die sie Colombe eingeweiht hatte; und ihr Auge schwamm in jener Liebessehnsucht, die ihnen noch besser steht.

Phöbus, welcher, was Schönheit anlangt, außer den plumpen Greten von Queue-en-Brie nichts gesehen hatte, war von Fleur-de-Lys berauscht, und das gab unserem Offiziere ein so dienstfertiges und liebenswürdiges Benehmen, daß sie sofort versöhnt war. Frau von Gondelaurier selbst, die immer, wie eine Mutter pflegt, in ihrem großen Lehnstuhle saß, hatte nicht die Kraft, mit ihm zu schmollen. Was Fleur-de-Lys' Vorwürfe betraf, so erstarben sie unter zärtlichen Liebkosungen. Das junge Mädchen saß am Fenster und stickte immer noch an ihrer Grotte des Neptun. Der Hauptmann hatte sich auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, und sie richtete mit halber Stimme ihre zärtlichen Vorwürfe an ihn.

»Was in aller Welt habt Ihr denn seit zwei langen Monaten angefangen, Ihr böser Mann?«

»Ich schwöre Euch,« antwortete Phöbus, der durch diese Frage ein wenig in Verlegenheit gerathen war, »daß Ihr schön seid, um einen Erzbischof in Schwärmerei zu versetzen.«

Sie konnte sich nicht enthalten, zu lächeln.

»Es ist gut, ist gut, mein Herr. Lasset das mit meiner Schönheit und antwortet mir. Das muß eine rechte Schönheit sein, wahrhaftig!«

»Nun gut! theure Base, ich bin nach meiner Garnison abberufen worden.«

»Und wo ist denn das, wenn ich fragen darf? Und warum seid Ihr nicht vorgesprochen, um Abschied zu nehmen?«

»In Queue-en-Brie.«

Phöbus war froh, daß die erste Frage ihm half, sich um die zweite herumzudrücken.

»Aber das ist ja ganz in der Nähe, Herr Hauptmann. Wie kommt das, daß Ihr mich nicht ein einziges Mal besucht habt?«

Jetzt wurde Phöbus ziemlich ernstlich verlegen.

»Weil . . . der Dienst . . . und außerdem, liebenswürdige Cousine, bin ich krank gewesen.«

»Krank!?« entgegnete sie erschrocken.

»Ja . . . verwundet.«

»Verwundet!?«

Das arme Kind war ganz außer Fassung gerathen.

»Oh! erschreckt deshalb nicht,« sagte Phöbus kalt, »es hat nichts auf sich. Ein Streit, ein Degenstich; doch, was kümmert das Euch?«

»Was mich das kümmert?« rief Fleur-de-Lys, während sie ihre schönen Augen thränengefüllt aufschlug. »Ach! Ihr sagt mir nicht, was Ihr damit beabsichtigt, wenn Ihr so sprecht. Was hat das mit diesem Degenstiche für eine Bewandtnis? Ich will alles wissen.«

»Nun gut! theure Schöne, ich habe Streit mit Mahé Fédy gehabt, Ihr wißt ja? dem Lieutenant aus Saint-Germain-en-Laye; wir haben uns jeder ein wenig die Haut zerfetzt. Das ist alles.«

Der verlegene Hauptmann wußte nur zu wohl, daß eine Ehrensache den Mann stets in den Augen einer Frau an Achtung gewinnen läßt. In Wahrheit sah ihm Fleur-de-Lys, vor Scheu, Vergnügen und Bewunderung ganz erregt, ins Gesicht. Sie war indessen noch nicht vollkommen wieder beruhigt.

»Wenn Ihr nur vollkommen wieder hergestellt seid, mein Phöbus!« sagte sie. »Ich kenne Euren Mahé Fédy nicht, aber er ist ein abscheulicher Mensch. Und woher kam denn dieser Streit?«

Hier begann Phöbus, dessen Einbildungskraft nur sehr mittelmäßig im Erfinden war, nicht mehr zu wissen, wie er sich aus seiner Heldenthat herausziehen sollte.

»Ach! was weiß ich? . . . ein Nichts, ein Pferd, ein übereiltes Wort! . . . Schöne Base,« rief er, um den Gesprächsstoff zu wechseln, »was bedeutet denn der Lärm da auf dem Vorhofe?«

Er näherte sich dem Fenster.

»Ach! mein Gott, schöne Base, sehet einmal die große Menge Volks auf dem Platze!«

»Ich weiß nicht,« sagte Fleur-de-Lys; »es scheint, daß es sich um eine Hexe handelt, die heute morgen vor der Kirche öffentlich Buße thut und nachher gehangen werden soll.«

Der Hauptmann glaubte die Angelegenheit mit der Esmeralda so völlig abgethan, daß er durch die Worte Fleur-de-Lys' nur ganz wenig in Bewegung gerieth. Er that indeß noch eine oder die andere Frage.

»Wie heißt diese Hexe?«

»Ich weiß nicht,« antwortete sie.

»Und was sagt man, daß sie begangen hat?«

Sie zuckte noch einmal ihre weißen Schultern.

»Ich weiß nicht.«

»Oh, mein lieber Herr Jesus!« sagte die Mutter, »es giebt jetzt so viele Hexen, daß man sie verbrennt, glaube ich, ohne ihre Namen zu wissen. Es würde sich ebenso verlohnen, als ob man den Namen jeder Wolke am Himmel wissen wollte. Ueberhaupt kann man ruhig sein. Der liebe Gott führt sein Register.« Hier erhob sich die ehrenwerthe Dame und trat ans Fenster. »Herr des Himmels!« sagte sie, »Ihr habt recht, Phöbus. Das ist ein großer Haufen Volks. Einige von ihnen, Gott sei gepriesen! stehen sogar auf den Dächern . . . Wißt Ihr, Phöbus? das erinnert mich an meine Jugend; an den Einzug Karls des Siebenten, wo auch so viel Menschen auf den Straßen waren . . . Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre. Wenn ich mit Euch davon spreche, nicht wahr? so macht das auf Euch den Eindruck von etwas Altem, auf mich aber den von etwas Jugendlichem . . . Oh! das war ein weit hübscheres Volk, als das jetzige. Es standen sogar einige von ihnen auf den Vertheidigungserkern des Thores Saint-Antoine. Der König hatte die Königin hinter sich auf dem Pferde, und nach Ihren Hoheiten kamen alle Damen, die gleichfalls hinter ihren Herren auf den Pferden saßen. Ich erinnere mich, daß man gewaltig lachte, als neben Amanyon von Garlande, der ein Mann von sehr kurzer Statur war, der Herr von Matefelon, ein Ritter von riesenhafter Erscheinung, ritt, welcher die Engländer haufenweise getödtet hatte. Das war sehr schön. Ein Zug aller Edelleute von Frankreich mit ihren Oriflammen,Name kleiner rothseidener Fahnen der alten französischen Könige. Anm. d. Uebers. welche in die Augen leuchteten, folgte. Es waren einige mit dem Fähnlein und andere mit dem Banner dabei. Was weiß ich? der Herr von Calan mit dem Fähnlein, Johann von Châteaumorant mit dem Banner, der Herr von Coucy mit dem Banner, und dieser reicher gekleidet, als irgend einer der andern, mit Ausnahme des Herzogs von Bourbon . . . Ach! was ist es doch für ein traurig Ding, denken zu müssen, daß alles das dagewesen und nichts mehr davon vorhanden ist!«

Die beiden Liebesleute hörten nicht auf die ehrwürdige Witwe hin. Phöbus war zurückgetreten und hatte sich wieder auf die Lehne des Stuhles seiner Braut gestützt, und hier einen reizenden Platz gefunden, von wo aus sein frivoles Auge sich in alle Oeffnungen von Fleur-de-Lys' Busentuch versenken konnte. Dieses Halstuch öffnete sich gerade so recht und zeigte ihm so köstliche Dinge, ließ ihn auch so viele andere errathen, daß Phöbus von dieser sammetweichen Haut ganz geblendet, zu sich sprach: »Wie kann man etwas anderes, als eine Hellfarbige lieben?« Alle beide verharrten in Schweigen. Das junge Mädchen richtete von Zeit zu Zeit entzückte und sanfte Blicke auf ihn, und in ihre Haare mischte sich ein Strahl der Frühlingssonne.

»Phöbus,« sagte Fleur-de-Lys plötzlich mit leiser Stimme, »wir sollen uns in einem Vierteljahre heirathen; schwört mir, daß Ihr niemals ein anderes Weib geliebt, als mich.«

»Ich schwöre es Euch, schöner Engel!« antwortete Phöbus, und sein leidenschaftlicher Blick verband sich, um Fleur-de-Lys zu überzeugen, mit dem aufrichtigen Tone seiner Stimme. Er glaubte in diesem Augenblicke vielleicht an seine eigenen Worte.

Währenddem hatte die gute Mutter, erfreut, die Verlobten in so vollkommenem Einverständnisse zu sehen, das Zimmer eben verlassen, um einige häusliche Kleinigkeiten zu besorgen. Phöbus merkte das, und diese Einsamkeit machte den unternehmenden Hauptmann so kühn, daß ihm sehr seltsame Gedanken in den Kopf stiegen. Fleur-de-Lys liebte ihn; er war ihr Verlobter; sie war allein mit ihm; seine alte Neigung für sie war nicht nur in ihrer ganzen Frische, sondern auch in all ihrer Glut wieder erwacht; nach alledem war es ja kein großes Verbrechen, sein Getreide ein wenig grün zu verspeisen; ich weiß nicht, ob diese Gedanken ihm durch den Kopf gingen; aber so viel ist gewiß, daß Fleur-de-Lys auf einmal über den Ausdruck seines Blickes erschrocken war. Sie sah um sich und erblickte ihre Mutter nicht mehr.

»Mein Gott!« sagte sie erröthend und unruhig, »mir ist sehr heiß!«

»Ich glaube in der That,« antwortete Phöbus, »daß es nicht weit vom Mittag ist. Die Sonne wird lästig. Es bleibt nichts übrig, als die Vorhänge zu schließen.«

»Nein, nein,« rief die arme Kleine, »im Gegentheil habe ich frische Luft nöthig.«

Und wie eine Hindin, die das Schnauben der Meute merkt, erhob sie sich, lief zum Fenster, öffnete es und eilte auf den Balkon.

Phöbus, dem das ziemlich ärgerlich war, folgte ihr.

Der Platz des Vorhofes von Notre-Dame, nach welchem, wie man weiß, der Balkon hinausging, bot in diesem Augenblicke ein unheimliches und sonderbares Schauspiel dar, welches bei der furchtsamen Fleur-de-Lys rasch die Natur des Schreckens ändern ließ.

Eine ungeheure Menge, die in allen angrenzenden Straßen hin- und herwogte, bedeckte den eigentlich sogenannten Platz. Die kleine Mauer in Brusthöhe, welche den Vorhof umgab, würde nicht genügt haben, ihn frei zu halten, wenn sie nicht verdoppelt worden wäre von einer dichten Reihe von Polizeidienern der Einunddreißiger und der Büchsenschützen mit der Feldbüchse in der Faust. Dank diesem Verhaue von Piken und Arkebusen war der Vorhof leer. Der Zugang dazu wurde durch einen Haufen Hellebardiere in den Farben des Bischofs bewacht. Die großen Thüren der Kirche waren geschlossen, was im Gegensatze zu den zahllosen Fenstern des Platzes stand, welche, bis zu den Giebeln hinauf geöffnet, tausende von Köpfen zeigten, die ohngefähr wie Kugelhaufen in einem Artillerieparke übereinander geschichtet waren.

Das Aeußere dieses Menschenhaufens war grau, schmutzig und abschreckend. Das Schauspiel, welches er erwartete, gehörte offenbar zu denjenigen, die das Vorrecht haben, alles was an unreinen Elementen in der Bevölkerung vorhanden ist, herbeizuziehen und anzulocken. Nichts war abscheulicher, als der Lärm, der aus dem Gewoge dieser gelben Kappen und schmutzigen Kopfhaare sich erhob. In diesem Gedränge vernahm man mehr Gelächter als Geschrei, mehr Weiber als Männer.

Von Zeit zu Zeit drang eine scharfe und zitternde Stimme durch das allgemeine Geräusch.

*

»Heda! Mahiet Baliffre! Will man sie denn da hängen?«

»Einfaltspinsel! hier muß sie Kirchenbuße im Hemde thun! Der liebe Gott will ihr hier Latein ins Gesicht husten. Das geschieht hier immer, am Mittage. Wenn du den Galgen sehen willst, schere dich zum Grèveplatze.«

»Ich will nachher hingehen.«

*

»Sagt mir doch, La-Boucambry, ist es wahr, daß sie einen Beichtvater ausgeschlagen hat?«

»Wahrscheinlich ja, La-Bechaigne.«

»Seht Ihr, die Heidin?!«

*

»Herr, das ist Herkommen so. Der Amtmann des Justizpalastes ist verpflichtet, den völlig abgeurteilten Missethäter zur Hinrichtung an den Oberrichter beim Châtelet auszuliefern, wenn jener ein Laie ist; ist es ein Geistlicher, an den Gerichtsbeamten des Bischofssitzes.«

»Ich danke Euch, Herr.«

*

»Ach, mein Gott!« sagte Fleur-de-Lys, »das arme Geschöpf!«

Dieser Gedanke erfüllte den Blick, den sie über die Volksmasse schweifen ließ, mit Schmerz. Der Hauptmann, der viel zu sehr mit ihr, als mit jenem Volkshaufen beschäftigt war, zerrte von hinten an ihrem Gürtel. Sie wandte sich mit einem bittenden und lächelnden Blicke um.

»Ich bitte Euch, laßt mich, Phöbus! Wenn meine Mutter zurückkäme, würde sie Eure Hand erblicken!«

In diesem Augenblicke schlug es langsam zwölf an der Uhr von Notre-Dame. Ein freudiges Gemurmel lief durch die Menge. Das letzte Zittern des zwölften Schlages war kaum verklungen, als alle Köpfe wie die Wogen von einem Windstoße in Bewegung geriethen, und ein ungeheures Geschrei von der Straße, aus den Fenstern und von den Dächern sich erhob:

»Da ist sie!«

Fleur-de-Lys hielt, um nicht zu sehen, ihre beiden Hände vor die Augen.

»Meine Süße,« sagte Phöbus, »wollt Ihr wieder hereintreten?«

»Nein,« antwortete sie; und dieselben Augen, welche sie eben aus Furcht geschlossen hatte, öffnete sie wieder aus Neugierde.

Ein Karren, der von einem schweren, normannischen Gabelpferde gezogen und ganz von Reiterei in violetten Uniformen mit weißen Kreuzen umringt war, rollte soeben durch die Straße Saint-Pierre-aux-Boeufs auf den Platz. Die Diener der Wache machten ihm mit mächtigen Ruthenhieben unter dem Volkshaufen Platz. Neben dem Karren ritten einige Gerichts- und Polizeibeamte, die an ihrer schwarzen Tracht und an der linkischen Weise, mit der sie sich im Sattel hielten, kenntlich waren. Meister Jacob Charmolue stolzirte an ihrer Spitze einher. Auf dem verhängnisvollen Wagen saß ein junges Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Händen, ohne einen Geistlichen an ihrer Seite. Sie war im Hemde; ihre langen schwarzen Haare (es war damals Gebrauch, sie erst am Fuße des Galgens abzuschneiden) fielen aufgelöst über ihre Brust und die halbentblößten Schultern herab.

Quer durch diesen wallenden Haarschmuck, der mehr als das Gefieder eines Raben glänzte, sah man einen dicken grauen und knotigen Strick sich drehen und winden, der ihre zarten Schulterknochen wund rieb, und sich um den reizenden Hals des armen Mädchens, wie ein Regenwurm um eine Blume, schlang. Unter diesem Stricke glänzte ein kleines, mit grünen Glasperlen verziertes Amulet, das ihr ohne Zweifel deshalb gelassen worden war, weil man denen, die zum Tode gehen, nichts mehr zu verweigern pflegt. Die Zuschauer, welche an den Fenstern standen, konnten auf dem Boden des Karrens ihre nackten Füße sehen, die sie, wie mit einem letzten weiblichen Instinkte, unter sich zu verbergen trachtete. Zu ihren Füßen lag eine kleine Ziege, die geknebelt war. Die Verurtheilte hielt mit ihren Zähnen das schlecht anschließende Hemd fest. Man hätte glauben sollen, daß sie in ihrem Unglücke sich noch darüber am unglücklichsten fühlte, daß sie fast nackt den Blicken aller preisgegeben war. Ach! für solche schaudervolle Lagen ist das Schamgefühl nicht geschaffen.

»Jesus!« sagte Fleur-de-Lys erregt zum Hauptmanne. »Sehet doch her, schöner Vetter, es ist die abscheuliche Zigeunerin mit der Ziege.«

Bei diesen Worten wandte sie sich nach Phöbus um. Dieser hatte die Augen starr auf den Karren gerichtet. Er war sehr blaß.

»Welche Zigeunerin mit der Ziege?« fragte er stotternd.

»Wie?« fuhr Fleur-de-Lys fort; »Ihr solltet Euch nicht mehr erinnern? . . .«

Phöbus unterbrach sie.

»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt.«

Er machte einen Schritt, um ins Zimmer zurückzugehen; aber Fleur-de-Lys, deren unlängst von dieser Zigeunerin so heftig erregte Eifersucht eben wieder erwacht war, – Fleur-de-Lys warf ihm einen durchdringenden Blick voll Mißtrauen zu. Sie erinnerte sich in diesem Augenblicke dunkel, von einem Hauptmanne sprechen gehört zu haben, der in den Proceß dieser Hexe hineingezogen worden.

»Was habt Ihr?« sagte sie zu Phöbus; »man sollte glauben, daß Euch dieses Weib in Verwirrung gebracht habe.«

Phöbus zwang sich zu einem Hohngelächter.

»Mich? Nicht im geringsten! Ah! ganz gewiß!«

»Dann bleibt hier bei mir,« versetzte sie befehlerisch, »wir wollen bis zum Ende zusehen.«

Der Unglücksvogel von Hauptmann mußte wohl bleiben. Was ihn ein wenig beruhigte, war der Umstand, daß die Verurtheilte ihren Blick nicht vom Boden ihres Karrens erhob. Es war die Esmeralda – leider nur zu gewiß! Auf dieser letzten Stufe der Schande und des Unglücks war sie noch immer schön; ihre großen schwarzen Augen erschienen bei der Abmagerung ihrer Wangen noch größer; ihr bleiches Antlitz war rein und erhaben. Sie glich dem, was sie früher gewesen war, wie eine heilige Jungfrau Masaccio's einer Jungfrau Raphaels gleicht: sie war schwächer, feiner, magerer geworden.

Uebrigens war nichts in ihrem Wesen, das nicht, so zu sagen, gewankt hätte, und das sie, mit Ausnahme ihrer Schamhaftigkeit, nicht dem Zufalle überlassen hätte: so vollständig war sie von Betäubung und durch Verzweiflung geknickt. Ihr Leib schlotterte bei allen Stößen des Karrens wie etwas Todtes oder Zerrissenes; ihr Blick war trüb und irrsinnig. Man sah in ihrem Auge noch eine Thräne, aber sie war unbeweglich und gleichsam wie gefroren.

Unterdessen war der fürchterliche Zug unter Freudenschreien und neugierigem Zusammendrängen der Menge durch dieselbe hindurchgelangt. Als wahrheitliebender Erzähler müssen wir gleichwohl berichten, daß viele, sogar von den Hartherzigsten, als sie sie so schön und niedergeschmettert sahen, vom Mitleide bewegt wurden. Der Karren war in den Vorhof hineingefahren. – Vor dem mittleren Portale hielt er an. Die Bedeckung stellte sich zu beiden Seiten in Schlachtordnung auf. Die Menge wurde todtenstill, und mitten in dieser Stille voll Feierlichkeit und Bangigkeit öffneten sich die beiden Flügel des großen Thores wie von allein in ihren knarrenden Angeln mit einem gellenden Geräusche. Da sah man, ihrer ganzen Länge nach, die tiefe, düstre Kirche, schwarz ausgeschlagen, kaum von einigen Kerzen erleuchtet, die auf dem Hauptaltare in der Ferne flimmerten, weit geöffnet wie einen Grabesschlund inmitten des lichtschimmernden Platzes. Ganz im Hintergrunde, im Dunkel des Chores, erblickte man ein gigantisches silbernes Kreuz, welches auf einem schwarzen Tuche, das von der Wölbung auf den Boden herabfiel, sich in die Höhe streckte. Das ganze Schiff war öde. Nur in den weit hinten gelegenen Chorstühlen sah man undeutlich einige Priesterköpfe sich bewegen, und im Augenblicke, wo das große Thor sich öffnete, entquoll der Kirche ein ernster, lauter und eintöniger Gesang, der gleichsam stoßweise über das Haupt der Verurtheilten Bruchstücke von Trauerpsalmen ausgoß:

». . . Non timebo millia populi circumdantis me: exsurge Domine; salvum me fac, Deus!«

». . . Salvum me fac,Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam.«

». . . Infixus sum in limo profundi; et non est substantia.«Lateinisch:
. . . Nicht werde ich die Schaaren des mich umringenden Volks fürchten: erhebe dich, Herr, rette mich, mein Gott!
. . . Rette mich, Herr mein Gott, weil die Wogen meine Seele berührt haben.
. . . Ich liege in der Tiefe des Abgrundes, und ist kein Halt unter meinen Füßen.

Zu gleicher Zeit stimmte eine andere, vom Chore gesonderte Stimme auf der Stufe des Hochaltars das schwermüthige Offertorium an:

». . . Qui verbum meum audit, et credit ei, qui misit me,
habet vitam aeternam et in judicium non venit, sed transit a morte in vitam.
«Lateinisch:
. . . Wer mein Wort hört, und glaubt an den, der mich gesandt hat,
der hat das ewige Leben und geht nicht ins Gericht, sondern kommt vom Tode zum Leben. Anm. d. Uebers.

Dieser Gesang, den einige in der Dunkelheit verlorene Greise aus der Ferne über dieses schöne, von Jugend und Lebenslust erfüllte, von der warmen Frühlingsluft umkoste, und von Sonnenschein überstrahlte Wesen ertönen ließen, war die Todtenmesse.

Das Volk hörte andächtig zu.

Die Unglückselige, die alle Fassung verloren hatte, schien ihren Blick und ihr Bewußtsein in die dunkele Tiefe der Kirche zu versenken. Ihre bleichen Lippen bewegten sich, als ob sie beteten; und als der Henkersknecht sich ihr näherte, um ihr beim Herabsteigen vom Karren behilflich zu sein, hörte er, wie sie mit leiser Stimme das Wort »Phöbus« wiederholte. Man band ihr die Hände los, ließ sie in Begleitung ihrer Ziege, die gleichfalls ihrer Fesseln entledigt war, und die vor Freude, sich frei zu fühlen, blökte, herabsteigen, und ließ sie dann barfuß über das holprige Pflaster bis zur untersten Stufe des Portales hingehen. Der Strick, welchen sie um den Hals trug, schleifte hinter ihr her. Man hätte ihn mit einer Schlange vergleichen können, die sie verfolgte.

Da brach der Gesang in der Kirche ab. Ein großes goldenes Kreuz und eine Reihe Kerzen setzten sich im dunkeln Hintergrunde des Schiffes in Bewegung. Man hörte die Hellebarden der buntgekleideten Domwächter erklirren; und einige Augenblicke darauf schritt ein langer Zug von Priestern in Meßgewändern und Diaconen in ihren Dalmatiken langsam und psalmodirend auf die Verurtheilte los, und stellte sich vor ihrem Gesichte und den Blicken der Volksmenge im Halbkreise auf. Aber ihr Auge hing an demjenigen, der an der Spitze des Zuges, unmittelbar hinter dem Kreuzträger, einherschritt. »Oh!« sagte sie ganz leise und schaudernd, »das ist er wieder! der Priester!«

Es war in der That der Archidiaconus. Zu seiner Linken hatte er den Unterkantor, zu seiner Rechten den Kantor, der mit seinem Amtsstabe ausgerüstet war. Den Kopf nach hinten gerichtet, die Augen starr und weit offen, schritt er vorwärts, während er mit lauter Stimme sang:

»De ventre inferi clamavi, et exaudisti vocem meam.«
»Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedit me.
«Lateinisch: Aus der Tiefe der Hölle habe ich gerufen, und du hast meine Stimme erhöret.
Und du hast mich in den Abgrund des Meeres geworfen, und der Strom hat mich umringt. Anm. d. Uebers.

Im Augenblicke, wo er im hellen Tageslichte unter dem gothischen Portale, eingehüllt in einen weiten Chorrock aus Silberstoff, erschien, wurde er so blaß, daß mehr als einer aus der Volksmenge dachte, es wäre einer der marmornen Bischöfe, welche auf den Grabsteinen des Chores auf den Knien liegen, der sich erhoben hätte, um diejenige an der Schwelle des Grabes zu empfangen, die zum Tode gehen sollte. Sie, die ebenso blaß war und ebenso sehr einer Bildsäule glich, sie hatte kaum gemerkt, daß man ihr eine schwere, gelbe, brennende Wachskerze in die Hand gesteckt; hatte die kreischende Stimme des Gerichtsschreibers nicht gehört, der ihr den verhängnisvollen Inhalt der Kirchenbuße vorlas; als ihr geheißen worden war, »Amen« zu sagen, hatte sie »Amen« geantwortet. Um ihr etwas Leben und Kraft wiederzugeben, mußte sie erst sehen, wie der Priester ihren Wächtern ein Zeichen gab, sich zu entfernen, und wie er allein an sie herantrat.

Da fühlte sie, wie das Blut in ihrem Haupte kochte, und wie ein letzter Rest von Empörung in ihrem schon erstarrten und todten Herzen aufflammte.

Der Archidiaconus näherte sich ihr langsamen Schrittes; sie sah, wie selbst im letzten Augenblicke sein von Wollust, Eifersucht und Verlangen funkelndes Auge über ihren nackten Leib hinglitt. Dann sprach er mit lauter Stimme zu ihr: »Junges Mädchen, habt Ihr Gott um Vergebung Eurer Fehler und Vergehen gebeten?« – Er neigte sich zu ihrem Ohre hin und fuhr fort (die Zuschauer glaubten, daß er ihre letzte Beichte empfinge): »Willst du mich? Ich vermag dich noch zu retten!«

Sie sah ihn starr an: »Hebe dich weg, Satan, oder ich zeige dich an.«

Er begann ein fürchterliches Lachen auszustoßen. »Man wird dir keinen Glauben schenken . . . Du wirst nichts erreichen, als zum Verbrechen eine Beschimpfung hinzuzufügen . . . Antworte schnell! Willst du mich?«

»Was hast du mit meinem Phöbus gemacht?«

»Er ist todt!« sagte der Priester.

In diesem Augenblicke richtete der nichtswürdige Archidiaconus unwillkürlich seinen Kopf in die Höhe und sah am andern Ende des Platzes, auf dem Balkone des Hauses Gondelaurier, den Hauptmann neben Fleur-de-Lys stehen. Er wankte, fuhr mit der Hand über die Augen, sah noch einmal hin, murmelte einen Fluch, und alle Züge seines Gesichtes zogen sich krampfhaft zusammen.

»Wohlan denn! stirb du!« sprach er durch die Zähne.

»Niemand soll dich besitzen.« Dann hob er die Hand über die Zigeunerin und rief mit einer Grabesstimme: »I nunc, anima anceps et sit tibi Deus misericorsLateinisch: Gehe nun hin, rathlose Seele, und Gott sei dir gnädig.

Das war die furchtbare Formel, mit der man diese düstren Ceremonien zu beschließen pflegte. Es war das Zeichen, mit dem der Priester sich an den Henker wandte.

Das Volk warf sich auf die Knien.

»Kyrie EleisonGriechisch: Herr, erbarme dich. sprachen die Priester, die unter der Wölbung des Portales stehen geblieben waren.

»Kyrie Eleison,« wiederholte die Menge mit einem Gemurmel, das wie das Rauschen eines bewegten Meeres über die Köpfe hinlief.

»Amen!« sagte der Archidiaconus.

Er kehrte der Verurtheilten den Rücken zu, sein Kopf sank wieder auf die Brust herab, seine Hände legten sich kreuzweise ineinander; er vereinigte sich wieder mit dem Zuge der Priester, und einen Augenblick nachher sah man ihn mit dem Kreuze, den Kerzen und den Chorröcken unter den dunkeln Bogenwölbungen der Kathedrale verschwinden; seine klangvolle Stimme aber erstarb allmählich im Chore, welcher die hoffnungslose Liedstrophe anstimmte:

»Omnes gurgites tui et fluctus tui super me transieruntLateinisch: Alle deine Gewässer und Ströme werden über mich hinfahren. Anm. d. Uebers.

Zu gleicher Zeit verursachte der zeitweilige Klang der eisenbeschlagenen Hellebardenschäfte der Domwächter, der nach und nach unter den Zwischensäulen des Schiffes erstarb, die Wirkung eines Uhrhammers, welcher die letzte Stunde der zum Tode Verurtheilten schlug.

Unterdessen waren die Thüren von Notre-Dame offen geblieben, so daß man die leere, einsame Kirche im Trauergewande ohne Kerzenglanz und Menschenstimmen erblicken konnte.

Die Verurtheilte verharrte unbeweglich, und in der Erwartung, was man über sie beschließen würde, an ihrem Platze. Einer der stabtragenden Gerichtsdiener mußte Meister Charmolue davon benachrichtigen, der während dieser Scene sich damit beschäftigt hatte, das Basrelief des Hauptportales zu studiren, das, nach dem Urtheile einiger das Opfer Abrahams, nach dem anderer das Verfahren, den Stein der Weisen zu suchen, darstellt, indem die Sonne durch den Engel, das Feuer durch das Reisigbund, der Alchymist durch Abraham repräsentirt werden.

Es kostete ziemliche Mühe, ihn von dieser Betrachtung loszureißen; aber endlich wandte er sich um; und auf ein Zeichen, das er gab, näherten sich zwei in Gelb gekleidete Männer, die Knechte des Henkers, der Zigeunerin, um ihr wieder die Hände zu binden.

Die Unglückliche wurde im Augenblicke, wo sie den verhängnisvollen Wagen wieder besteigen und sich nach ihrem letzten Aufenthaltsorte auf den Weg begeben sollte, vielleicht vom herzzerreißendsten Schmerze ihres Lebens gepackt. Sie richtete ihre gerötheten und trocknen Augen zum Himmel, zur Sonne, zu den Silberwolken empor, die hier und da von tiefblauen Dreiecken und Trapezen zertheilt waren; dann schlug sie sie nieder, blickte um sich, zur Erde, auf die Menge, nach den Häusern hinüber . . . Plötzlich, während ihr der gelbe Mann die Ellbogen zusammenband, stieß sie einen furchtbaren Schrei, einen Freudenschrei, aus. Auf diesem Balkone, da unten, im Winkel des Platzes, hatte sie ihn, ihn, ihren Freund, ihren Herrn, Phöbus, den zweiten Anfang ihres Lebens, bemerkt! Der Richter hatte gelogen! Der Priester hatte gelogen! Das war er wohl, sie konnte nicht daran zweifeln; da stand er, schön, lebhaft, in seine schimmernde Uniform gekleidet, den Federbusch auf dem Kopfe, den Degen an der Seite.

»Phöbus!« rief sie, »mein Phöbus!« Und sie wollte ihre vor Liebe und Wonne bebenden Arme nach ihm ausstrecken, aber sie waren gefesselt.

Da sah sie, wie der Hauptmann die Augenbrauen runzelte, wie ein schönes junges Mädchen, das sich an ihn lehnte, ihn mit höhnischem Munde und gereizten Blicken anschaute; wie dann Phöbus einige Worte sprach, die nicht bis zu ihr drangen, und wie alle beide plötzlich hinter dem Fenster des Balkones verschwanden, und dasselbe geschlossen wurde.

»Phöbus!« rief sie ganz außer sich, »hältst du es für wahr? . . .«

Ein furchtbarer Gedanke war eben in ihr wach geworden. Sie erinnerte sich, daß sie wegen Meuchelmordes an der Person des Phöbus von Châteaupers war verurtheilt worden.

Bis hierher hatte sie alles erduldet. Aber dieser letzte Schlag war zu furchtbar. Sie fiel leblos auf das Pflaster nieder.

»Wohlan denn!« sagte Charmolue, »traget sie in den Karren, und laßt uns ein Ende machen!« – –

Niemand hatte bis dahin in der Galerie der Königsstatuen, welche unmittelbar über den Wölbungen des Portales ausgehauen ist, einen seltsamen Zuschauer bemerkt, der bisher alles mit einer solchen Gefühllosigkeit, einem so vorgereckten Halse, einem so mißgestalteten Gesicht beobachtet hatte, daß man, ohne seine halb rothe und halb violette Kleidung, ihn für eines jener steinernen Ungeheuer hätte halten können, durch deren Rachen die langen Dachrinnen der Kathedrale seit sechshundert Jahren ihr Wasser ergießen. Dieser Zuschauer hatte nichts von alledem aus dem Auge gelassen, was seit Mittag vor dem Portale von Notre-Dame sich ereignet hatte. Und gleich in den ersten Augenblicken hatte er, ohne daß jemand daran dachte, ihn zu beobachten, an eine der Säulchen der Galerie ein dickes, mit Knoten versehenes Seil festgebunden, dessen Ende unten auf der Vortreppe schleifte. Nachdem das gethan war, hatte er begonnen, ruhig zuzusehen, und manchmal zu pfeifen, wenn eine Amsel vor ihm vorbeiflog. Plötzlich in dem Augenblicke, wo die Knechte des Henkers sich anschickten, den phlegmatischen Befehl Charmolue's auszuführen, schwang er sich auf das Geländer der Galerie, faßte das Seil mit den Füßen, den Knien und den Händen; dann sah man, wie er, gleich einem Regentropfen, der an einer Fensterscheibe herabrollt, an der Façade hinunterglitt, mit der Schnelligkeit einer Katze, die vom Dache gefallen ist, auf die Henker zulief, sie mit zwei mächtigen Fausthieben zu Boden warf, die Zigeunerin mit einer Hand, wie ein Kind seine Puppe, aufraffte, und mit einem einzigen Satze bis in die Kirche hineinsprang, wobei er das junge Mädchen über seinen Kopf hob und mit fürchterlicher Stimme schrie: »Asyl!«

Das geschah mit einer solchen Schnelligkeit, daß, wenn es Nacht gewesen wäre, man alles bei dem Scheine eines einzigen Blitzes hätte sehen können.

»Asyl! Asyl!« wiederholte der Volkshaufen, und das Klatschen von zehntausend Händen ließ das einzige Auge Quasimodo's vor Freude und Stolz funkeln.

Diese Erschütterung bewirkte, daß die Verurtheilte wieder zu sich kam. Sie schlug ihre Augenlider auf, sah Quasimodo an, dann schloß sie sie wieder, als ob sie vor ihrem Erretter erschrocken wäre.

Charmolue stand betäubt da, ebenso die Henker und die ganze Bedeckung. In der That war die Verurtheilte im Bereiche von Notre-Dame unverletzlich. Die Kathedrale war ein Zufluchtsort. Jede menschliche Gerichtsbarkeit hörte jenseit ihrer Schwelle auf.

Quasimodo war unter dem großen Portale stehen geblieben. Seine mächtigen Füße erschienen auf dem steinernen Boden der Kirche gerade so dauerhaft, wie die schweren romanischen Pfeiler. Sein dicker, haariger Kopf verschwand zwischen seinen Schultern wie derjenige der Löwen, die auch eine Mähne und keinen Hals haben. Er hielt das junge, über und über zitternde Mädchen schwebend zwischen seinen schwieligen Händen wie ein weißes Gewand; aber er trug sie mit so viel Vorsicht, daß es schien, als ob er sie zu zerbrechen oder ihr zu schaden fürchtete. Man hätte meinen sollen, daß er fühlte, sie wäre ein zartes, kostbares und köstliches Etwas, das für andere Hände, als die seinigen, geschaffen sei. Auf Augenblicke machte er den Eindruck, als ob er sie nicht zu berühren wage, selbst nicht mit dem Athem. Dann plötzlich drückte er sie mit Inbrunst in seine Arme, an seine eckige Brust, wie sein Gut, wie seinen Schatz, wie es die Mutter mit diesem Kinde gethan haben würde. Sein Gnomenauge, das sich auf sie senkte, überströmte sie mit Zärtlichkeit, mit Schmerz und mit Mitleid, und hob sich dann plötzlich voll funkelnden Glanzes. Da lachten und weinten die Frauen, die Menge rannte vor Begeisterung hin und her; denn in diesem Augenblicke besaß Quasimodo in Wahrheit auch seine eigenartige Schönheit. Er war wirklich schön: diese Waise, dieses Findelkind, dieser Ausgestoßene; er fühlte sich erhaben und stark, er sah dieser Gesellschaft, aus der er verbannt worden war, und in der er sich so mächtig ins Mittel schlug, ins Gesicht: dieser menschlichen Gerechtigkeit, der er ihre Beute entrissen hatte, allen diesen Tigern, die mit leeren Backen kauen mußten, diesen Bütteln, diesen Richtern, diesen Henkern, dieser ganzen königlichen Gewalt, die er, der Niedrigste, eben mit der Kraft Gottes gebrochen hatte, bot er Trotz.

Und überdies war es etwas Rührendes, daß dieser Beistand eines so mißgestalteten Wesens auf ein so unglückseliges gefallen, daß eine zum Tode Verurtheilte von einem Quasimodo gerettet worden war. Es waren die beiden höchsten Leiden der Natur und der Gesellschaft, die sich berührten und einander halfen.

Nach einigen Minuten des Triumphes war Quasimodo jedoch plötzlich mit seiner Bürde in der Kirche verschwunden. Das Volk, das in jede Heldenthat verliebt ist, suchte ihn mit den Augen in dem düstern Schiffe und bedauerte, daß er sich so schnell seinen Beifallsäußerungen entzogen hatte. Plötzlich sah man ihn an einem der äußersten Punkte der Galerie der Könige Frankreichs wieder auftauchen; er durchschritt sie, wie ein Unsinniger davonlaufend, und während er seine Eroberung in seinen Armen hochhielt, schrie er: »Asyl!« – Die Menge brach von neuem in Beifallsgeschrei aus. Nachdem er die Galerie durcheilt hatte, verschwand er wieder in das Innere der Kirche. Einen Augenblick darauf zeigte er sich von neuem auf der obern Plattform, immer mit der Zigeunerin in seinen Armen, immer wie ein Toller rennend und immer rufend: »Asyl!« Und die Menge klatschte Beifall. Endlich sah man seine Erscheinung zum dritten Male auf der Spitze des Glockenturmes; von da aus schien er stolzerfüllt der ganzen Stadt diejenige zu zeigen, welche er gerettet hatte, und seine donnernde Stimme, diese Stimme, die man so selten, und die er selbst niemals hörte, wiederholte dreimal mit einem bis in die Wolken dringenden Freudenjubel: »Asyl! Asyl! Asyl!«

»Juchhe! Juchhe!« schrie das Volk seinerseits, und dieses ungeheure Beifallgeschrei versetzte am andern Seineufer die Volksmenge auf dem Grèveplatze und die Büßerin, die das Auge auf den Galgen gerichtet immer noch wartete, in Erstaunen.


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