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Wenn im Mittelalter ein Gebäude vollständig fertig war, so stand davon fast ebenso viel unter der Erde, wie über derselben. Wenn sie nicht auf Rosten erbauet waren, wie Notre-Dame, so hatte eine Festung, eine Kirche immer einen doppelten Tiefboden. In den Domkirchen war es eine Art zweiter unterirdischer, niedriger, dunkler, geheimnisvoller, fensterloser und todtenstiller Dom unter dem obern Hauptschiffe, welches Ueberfluß an Licht besaß, und Tag wie Nacht vom Orgelton und Glockenklang wiederhallte; bisweilen war es eine Todtengruft. In den Palästen, in den Burgen war es ein Gefängnis, manchmal auch ein Grabgewölbe, bisweilen beides zugleich. Diese mächtigen Mauerwerke, deren Entstehungsart und Wachsthum wir an einer andern Stelle verständlich gemacht haben, hatten einfach keine Grundmauern, sondern gleichermaßen Wurzeln, welche als Gemächer, Gänge, Treppen unter der Erde sich verästend hinliefen, wie der obere Bau. Kirchen, Paläste, Burgen standen also mit dem halben Leibe in der Erde. Die Keller eines Gebäudes waren ein zweites Gebäude, wohin man hinabstieg, statt hinaufzusteigen, und welches seine unterirdischen Stockwerke unter der Anzahl und in der Richtung der obern Etagen ausbreitete, ähnlich jenen Wäldern und Gebirgen, die aus der Spiegelfläche eines Sees unter den Wäldern und Gebirgen des Ufers zurückstrahlen.
In der Bastille Saint-Antoine, im Justizpalaste zu Paris und im Louvre dienten diese unterirdischen Bauwerke als Gefängnisse. Die Stockwerke dieser Gefängnisse wurden um so enger und düsterer, je tiefer sie in den Boden hineingingen. Es gab ebensoviel Schichten, als die Grade des Schreckens stufenweise stiegen. Dante hat nichts Besseres für seine »Hölle« finden können. Diese Kerkertrichter liefen gewöhnlich in ein weinkufenartiges Loch aus, wohinein Dante den Satan versetzt hat, und wohinein die Gesellschaft den zum Tode Verurtheilten warf. War ein unglückseliges Dasein dort einmal begraben, dann Lebewohl Tag, Luft, Leben, ogni speranza; es kam, nur für den Galgen oder Scheiterhaufen bestimmt, wieder daraus hervor. Manchmal verfaulte es darin; das nannte die menschliche Gerechtigkeit »in Vergessenheit gerathen«. Der Verurtheilte fühlte, daß, zwischen den Menschen und ihm, auf seinem Haupte ein Steinhaufen und Kerkermeister lasteten; und der ganze Kerker, die undurchdringbare Bastille war nur mehr ein ungeheures complicirtes Schloß, welches ihn von der lebendigen Welt abschloß.
Gerade in ein solches faßartiges Kerkerloch, in die vom Heiligen Ludwig angelegten Verließe, in das »In Pace«Lateinisch: Im Frieden. Anm. d. Uebers. genannte im Criminalgefängnisse, hatte man, aus Furcht vor Entweichung wahrscheinlich, die zum Galgen verdammte Esmeralda hineingeworfen, wo sie nun, mit dem ungeheuern Justizpalaste über dem Haupte, lag. Arme Fliege, die auch nicht das Geringste von ihren Gefängnismauern hätte losbrechen können! Gewiß, die Vorsehung und die menschliche Gesellschaft waren gleich ungerecht gegen sie; ein solches Uebermaß von Unglück und Marter war nicht nothwendig, um ein so schwaches Wesen zu zermalmen.
Da war sie nun: verloren in der Nacht des Kerkers, begraben, verschwunden und eingemauert. Wer sie in diesem Zustande erblickt hätte, nachdem er sie im Sonnenlichte lachen und tanzen gesehen, hätte geschaudert. Kalt wie die Nacht, kalt wie der Tod, kein Lufthauch mehr, der in ihren Haaren spielte, kein menschlicher Laut, der an ihr Ohr schlug, kein Tagesschimmer mehr für ihr Auge; körperlich geknickt, von Ketten erdrückt, neben einem Wasserkruge und einem Brote auf einem Strohbündel niedergekauert, lag sie in der Wasserlache, die unter ihr von der Nässe des Kerkers sich bildete, ohne Bewegung, fast ohne Athem, und fühlte fast nicht mehr, was sie litt. Phöbus, die Sonne, der helle Tag, die freie Luft, die Straßen von Paris, die unter Beifall aufgeführten Tänze, das süße Liebesgeplauder mit dem Offiziere; dann der Priester, die Alte, der Dolch, das Blut, die Folter, der Galgen: alles das zog wohl noch an ihrem Geiste vorüber, bald als eine singende, glänzende Vision, bald als ein häßliches Schreckbild; aber es war nur noch ein schreckliches und endloses Ringen, das sich in der Gefängnisnacht verlor, oder eine ferne Musik, welche da oben auf der Erde erklang, und die man nicht mehr in der Tiefe vernahm, wohin die Unglückselige versunken war. Seitdem sie hier lag, schlief sie nicht und wachte sie auch nicht. In dieser elenden Lage vermochte sie ebenso wenig das Wachen vom Schlafe, den Traum von der Wirklichkeit zu unterscheiden, wie den Tag von der Nacht. Alles das war in ihren Gedanken verwirrt, zerrissen, schwankend und wirr durcheinander gemischt. Sie fühlte nichts mehr, wußte nichts mehr, dachte nichts mehr; höchstens träumte sie noch. Niemals war ein lebendes Wesen vorher so in das Nichts gestoßen worden.
In dieser Betäubung, Erstarrung und Gefühllosigkeit hatte sie kaum zwei- oder dreimal das Geräusch einer Fallthür vernommen, die sich irgendwo über ihr geöffnet hatte, ohne auch nur den schwächsten Lichtstrahl hereindringen zu lassen, und durch die ihr eine Hand ein Stück schwarzes Brot zugeworfen hatte. Dennoch war es der einzige Verkehr, der ihr mit der Menschheit geblieben war: der regelmäßige Besuch des Gefangenwärters. Ein einziges Etwas nahm noch ihr Ohr mechanisch in Anspruch: über ihrem Haupte sickerte die Feuchtigkeit durch die moderbedeckten Steine des Gewölbes, und in gleichmäßigen Zwischenräumen fiel ein Wassertropfen von dort herab. Sie hörte fühllos das Geräusch, welches dieser Tropfen verursachte, wenn er neben ihr in die Wasserpfütze fiel.
Dieser in die Wasserlache fallende Tropfen war die einzige Bewegung, welche rings um sie sich noch regte, die einzige Uhr, welche die Zeit angab, das einzige Geräusch, welches von all dem Lärm, der da oben auf der Erde entsteht, zu ihr drang.
Um nichts zu verschweigen, so fühlte sie auch von Zeit zu Zeit in dieser Kloake voll Koth und Nacht etwas Kaltes, daß ihr dann und wann über den Fuß oder über den Arm kroch, und sie schauderte.
Seit welcher Zeit sie hier war? Sie wußte es nicht. Sie erinnerte sich an ein Todesurtheil, das irgendwo gegen jemanden ausgesprochen worden war; dann, daß man sie davon geführt hatte, sie; und daß sie in Nacht und Oede erstarrt erwacht war. Sie hatte sich auf den Händen fortgeschleppt; da hatten sie eiserne Ringe in den Fußknöchel geschnitten, und Ketten hatten geklirrt. Sie hatte gemerkt, daß alles um sie her Mauer war, daß unter ihr sich ein mit Wasser bedeckter Steinboden befand und eine Schütte Stroh lag, aber weder eine Lampe noch ein Luftloch vorhanden war. Dann hatte sie sich auf dieses Stroh gesetzt; und manchmal, um ihre Lage zu verändern, auf die letzte Stufe einer steinernen Treppe, welche sich in ihrem Gefängnisse befand. Einen Augenblick hatte sie versucht, die dunkeln Minuten zu zählen, welche der fallende Wassertropfen ihr zumaß; aber bald war diese traurige Thätigkeit eines kranken Gehirns von selbst in ihrem Kopfe unterbrochen worden, und sie war in Stumpfsinn versunken.
Eines Tages endlich oder in einer Nacht (denn Mitternacht und heller Tag hatten in diesem Grabe dieselbe Farbe) hörte sie über sich ein stärkeres Geräusch, als dasjenige, welches gewöhnlich der Wärter verursachte, wenn er ihr ihr Brot und ihren Krug brachte. Sie hob den Kopf in die Höhe und sah einen röthlichen Strahl durch die Ritzen der thür- oder fallthürartigen Oeffnung dringen, welche in der Wölbung des »In-Pace« angebracht war. Zu gleicher Zeit rasselte das schwere Eisenwerk, die Thüre knarrte in ihren verrosteten Angeln, drehte sich, und sie erblickte eine Laterne, eine Hand und den untern Körpertheil von zwei Männern, da die Thüre zu niedrig war, als daß sie ihre Köpfe hätte bemerken können. Das Licht blendete sie so sehr, daß sie die Augen schloß. Als sie sie wieder öffnete, war die Thür wieder geschlossen, die Laterne war auf eine Stufe der Treppe niedergesetzt, ein Mann von den zweien stand allein vor ihr. Eine schwarze Mönchskutte fiel ihm bis auf die Füße nieder, eine Kapuze von derselben Farbe verbarg sein Gesicht. Man sah nichts von seiner Person, weder sein Gesicht noch seine Hände. Es war ein langes schwarzes Leichentuch, welches dastand, und unter dem man sich etwas bewegen sah. Sie betrachtete einige Minuten lang starren Blickes diese Art Gespenst. Doch sprachen weder sie noch er ein Wort. Man hätte sie für zwei Bildsäulen halten können, welche sich gegenübergestellt waren. Zwei Dinge nur schienen in der Gefängnisgruft Leben zu besitzen: der Docht der Laterne, der wegen der Feuchtigkeit der Luft knisterte, und der Wassertropfen an der Deckenwölbung, der dieses unregelmäßige Knistern mit seinem eintönigen Plätschern unterbrach, und das Licht der Laterne in concentrischen Kreisen auf dem sumpfigen Wasser der Lache erzittern ließ.
Endlich brach die Gefangene das Schweigen: »Wer seid Ihr?«
Das Wort, der Ton, der Klang seiner Stimme machten sie zittern.
Der Priester fuhr in dumpfem Tone sprechend fort:
»Seid Ihr bereit?«
»Wozu?«
»Zu sterben.«
»Ach!« sagte sie, »wird das bald geschehen?«
»Morgen.«
Ihr Haupt, welches sich freudig erhoben hatte, fiel ihr auf die Brust zurück.
»Das ist noch sehr lange,« murmelte sie; »was würde es thun, wenn heute noch?«
»Ihr seid also sehr unglücklich?« fragte der Priester nach einer Pause.
»Mich friert sehr,« antwortete sie.
Sie faßte mit ihren Händen nach den Füßen: eine Bewegung, die bei den Unglücklichen, welche Frost leiden, gewöhnlich ist, und die wir schon die Büßerin im Rolandsthurme haben machen sehen. Der Gefangenen Zähne klapperten.
Der Priester schien, unter der Kapuze hervor, seine Blicke im Gefängnisse herumschweifen zu lassen.
»Ohne Licht!« sprach er, »ohne Feuer! im Wasser liegend! Es ist schrecklich!«
»Ja,« antwortete sie mit dem betäubten Gesichtsausdrucke, den das Elend ihr gegeben hatte. »Das Licht des Tages gehört der ganzen Welt; warum giebt man mir nur die Nacht?«
»Wißt Ihr,« fuhr der Priester nach einer neuen Pause fort, »warum Ihr hier seid?«
»Ich glaube, ich habe es gewußt,« sagte sie und fuhr mit ihren magern Fingern über ihre Augenbrauen, wie um ihrem Gedächtnisse zu Hilfe zu kommen, »aber ich weiß es nicht mehr.«
Plötzlich fing sie an, wie ein Kind zu weinen.
»Ich möchte gern von hier fort, Herr. Mich friert's, ich fürchte mich, denn hier giebt es Thiere, die mir über den Leib wegkriechen.«
Bei diesen Worten ergriff sie der Priester beim Arme. Die Unglückselige war bis ins Innere ihres Wesens starr vor Kälte. Und doch verursachte ihr diese Hand eine schaudererregende Wirkung.
»Ach,« murmelte sie, »das ist die eisige Hand des Todes. Wer seid Ihr denn?«
Der Priester schlug seine Kapuze zurück; sie starrte ihn an. Das war das unheilvolle Gesicht, welches sie seit so langer Zeit verfolgte, dies der Teufelskopf, der ihr im Hause der Falourdel über dem Haupte ihres angebeteten Phöbus erschienen war, das das Auge, welches sie zum letzten Male neben einem Dolche hatte blitzen sehen.
Diese Erscheinung, die immer so verhängnisvoll für sie geworden war, welche sie so von Unglück zu Unglück, bis zum Tode am Galgen getrieben hatte, – sie riß sie aus ihrer Betäubung heraus. Es schien ihr, als ob gewissermaßen ein Schleier, der sich über ihr Gedächtnis gebreitet hätte, zerrisse. Alle Einzelnheiten ihres traurigen Looses, von der nächtlichen Scene im Hause der Falourdel an bis zu ihrer Verdammung im Justizpalaste, traten auf einmal wieder vor ihren Geist, und nicht unbestimmt und verwirrt, wie bisher, sondern deutlich, grell, scharf, packend und entsetzlich. Diese halbverwischten Erinnerungen, die fast unter dem Uebermaße des Leidens vergessen waren, – sie hatte die düstere Gestalt, welche sie da vor sich sah, neu belebt, wie die Nähe des Feuers auf dem weißen Papiere die unsichtbaren Buchstaben ganz frisch hervortreten läßt, die man mit sympathischer Tinte darauf gezeichnet hat. Es schien ihr, als ob alle Wunden ihres Herzens sich wieder öffneten und auf einmal bluteten.
»Ach!« rief sie, die Hände vor ihren Augen, und mit einem krampfhaften Zittern, »das ist der Priester!«
Dann ließ sie ihre Arme kraftlos herabsinken und saß gesenkten Hauptes, das Auge an den Boden geheftet, stumm und am ganzen Leibe zitternd, da.
Der Priester betrachtete sie mit dem Blicke einer Weihe, welche in der Bläue des Himmels lange um eine arme Lerche gekreist ist, die im Getreide sich versteckt hält; welche lange, schweigend und immer enger die furchtbaren Kreise ihres Fluges gezogen hat, bis sie plötzlich, wie der Blitzstrahl, auf ihre Beute niedergefahren ist und sie zuckend in ihrer Klaue hält.
Sie begann ganz leise zu murmeln:
»Macht ein Ende, macht ein Ende! den letzten Streich!« Und sie zog voll Entsetzen den Kopf zwischen ihre Schultern, wie das Schaf, welches den Beilschlag des Schlächters erwartet.
»Ich verursache Euch also Grausen?« sagte er endlich.
Sie antwortete nicht.
»Bereite ich Euch wirklich Entsetzen?« wiederholte er.
Ihre Lippen zogen sich zusammen, wie wenn sie lächelte.
»Ja,« sagte sie, »der Henker verspottet den Verdammten. Gewiß, seit Monden verfolgt er mich, droht er mir, setzt er mich in Schrecken! Ohne ihn, mein Gott, wie glücklich wäre ich! Er nur hat mich in diesen Abgrund gestürzt! O Himmel! er allein hat ihn getödtet . . . er allein hat meinen Phöbus getödtet!« Bei diesen Worten brach sie in Schluchzen aus und hob ihre Augen auf den Priester. »Ach! Elender! wer seid Ihr denn? Was habe ich Euch gethan? Ihr haßt mich also wohl? Wehe! was habt Ihr gegen mich?«
»Ich liebe dich!« rief der Priester.
Ihre Thränen hörten plötzlich auf zu fließen; sie betrachtete ihn mit dem Blicke einer Wahnsinnigen. Er war vor ihr auf die Knien niedergesunken und betrachtete sie mit flammendem Auge.
»Hörst du? Ich liebe dich!« rief er wieder.
»Welche Liebe!« sagte die Unglückliche bebend.
»Die Liebe eines Verdammten!« erwiederte er.
Alle beide verharrten einige Minuten in Schweigen, wie erdrückt unter der Wucht ihrer Erregung: er wie ein Unsinniger, sie bestürzt.
»Höre!« sagte endlich der Priester, und eine eigentümliche Ruhe war wieder über ihn gekommen; »du sollst alles wissen. Ich will dir sagen, was ich bis jetzt kaum gewagt habe, mir selbst zu gestehen, wenn ich heimlich mein Gewissen in jenen endlosen Stunden der Nacht befragt habe, in denen so viel Dunkelheit ist, daß es scheint, als ob Gott uns nicht mehr sähe. Höre. Ehe ich dir begegnete, junges Mädchen, war ich glücklich.«
»Und ich!« seufzte sie leise.
»Unterbrich mich nicht . . . Ja, ich war glücklich; wenigstens glaubte ich es zu sein. Ich war rein, ich besaß eine Seele, die voll lichter Klarheit war. Kein Haupt war, welches sich stolzer und strahlender erhob, als das meinige. Die Priester fragten mich über die Keuschheit, die Gelehrten über die Wissenschaft um Rath. Ja, die Wissenschaft war alles für mich; sie war eine Schwester, und eine Schwester genügte mir. Und selbst mit dem Mannesalter wären mir keine anderen Gedanken gekommen. Mehr als einmal hatte sich mein Fleisch geregt, wenn eine weibliche Gestalt vorüberging. Diese Macht des Geschlechtstriebes und des Blutes beim Manne, welche ich, ein thörichter Jüngling, für das ganze Leben zu ersticken geglaubt, hatte mehr als einmal und krampfhaft an der Kette der eisernen Gelübde gerüttelt, die mich Elenden an die kalten Steine des Altares fesseln. Aber das Fasten, das Gebet, das Studium, die Kasteiungen des Klosters hatten die Seele wieder zur Herrin des Körpers gemacht. Und außerdem mied ich die Frauen. Ueberdies brauchte ich nur ein Buch zu öffnen, und alle unreinen Dünste meines Gehirnes flohen vor dem Glanze der Wissenschaft. In wenig Augenblicken fühlte ich die finstere Wirklichkeit der Erde ins weite fliehen, und ich fand mich beruhigt, entzückt und heiter in Gegenwart des ruhigen Glanzes der ewigen Wahrheit. So lange der Satan, mich anzugreifen, nur flüchtige Schattenbilder von Frauen schickte, die hier und da, in der Kirche, auf den Straßen, auf den Fluren vor meinen Augen vorüberzogen, und die mich kaum in meine Träume verfolgten, siegte ich leicht. Wehe! wenn der Sieg mir nicht geblieben ist, so liegt die Schuld davon an Gott, welcher den Menschen und den Teufel nicht mit gleicher Stärke begabt hat . . . Höre! Eines Tages . . .« Hier hielt der Priester an, und die Gefangene hörte aus seiner Brust Seufzer entsteigen, die wie Röcheln und heftiger Kampf erklangen.
Er fuhr fort:
». . . Eines Tages hatte ich mich an das Fenster meiner Zelle gelehnt . . . Welches Buch las ich doch? Ach! Alles ist in meinem Kopfe in Verwirrung . . . ich las. Das Fenster ging auf einen Platz hinaus. Ich höre den Lärm einer Trommel und Musik. Aergerlich darüber, so in meinem Nachdenken gestört zu sein, blicke ich auf den Platz. Was ich sah, sahen auch viele andere außer mir, und doch war es kein Schauspiel für sterbliche Augen. Da, mitten auf der Straße . . . es war Mittag . . . heller Sonnenschein . . . tanzte ein Wesen. Ein Wesen, so schön, daß Gott sie der heiligen Jungfrau vorgezogen und zu seiner Mutter erwählt haben würde, und gewünscht, von ihr geboren zu werden, wenn sie gelebt, als er Mensch geworden wäre! Ihre Augen waren schwarz und glänzend; mitten in ihrem schwarzen Haupthaare schimmerten, wenn die Sonne sie traf, einige Haare wie Goldfäden. Ihre Füße verschwanden in ihrer Bewegung, wie die Speichen eines Rades, welches sich eilig dreht. Rings um ihr Haupt, an ihren schwarzen Flechten hingen Metallblättchen, welche im Sonnenlichte blinkten und ihre Stirne mit einem Sternenkranze schmückten. Ihr mit Goldflittern übersäetes Gewand flimmerte blau und mit zahllosen Perlen benäht, wie eine Sommernacht. Die geschmeidigen braunen Arme schlangen sich um ihren Leib und lösten sich wie zwei Schärpen. Die Form ihres Körpers war von überraschender Schönheit. – Ach! die glänzende Gestalt, die wie ein leuchtendes Etwas sich selbst im Lichte der Sonne hervorhob . . . Wehe! junges Mädchen, das warst du . . . Erstaunt, berauscht, bezaubert überließ ich mich ganz nur deinem Anblicke. Ich betrachtete dich so oft, daß ich plötzlich vor Schrecken schauderte: ich fühlte, daß mein Schicksal mich packte.«
Der Priester, der nur mit Mühe zu athmen vermochte, schwieg wieder einen Augenblick. Dann fuhr er fort:
»Schon halb bezaubert versuchte ich, mich an irgend etwas festzuklammern und in meinem Sturze einzuhalten. Ich erinnerte mich der Schlingen, die mir der Teufel schon gelegt hatte. Das Geschöpf, welches da vor meinen Augen stand, besaß jene übermenschliche Schönheit, welche nur vom Himmel oder aus der Hölle stammen kann. Das da war nicht ein einfaches Mädchen, das aus einem Theilchen unserer Erde gebildet und durch den flackernden Strahl einer Frauenseele ärmlich im Innern erleuchtet wurde: es war ein Engel! aber der Finsternis, der Flamme und nicht dem Lichte entstammend. Im Augenblicke, wo ich das dachte, sah ich eine Ziege neben dir, ein Thier vom Hexensabbath, das mich spöttisch ansah. Die Mittagssonne gab ihm feurige Hörner. Da erkannte ich die Falle des Teufels, und ich zweifelte nicht mehr daran, daß du aus der Hölle kämest, und daß du zu meinem Verderben erschienest. Das glaubte ich.«
Hier sah der Priester der Gefangenen ins Gesicht und fügte im kalten Tone hinzu:
»Ich glaube es noch . . . Indessen wirkte der Zauber nach und nach; dein Tanz wirbelte mir im Gehirne; ich fühlte die geheimnisvolle Bezauberung sich in mir vollziehen. Alles, was in mir hätte wach bleiben sollen, schlummerte in meiner Seele ein; und ähnlich wie diejenigen, welche im Schnee sterben, fand ich Entzücken darin, diesen Schlummer herankommen zu sehen. Plötzlich fingst du an zu singen. Was konnte ich da thun, ich Unglücklicher? Dein Gesang war noch bezaubernder, als dein Tanz. Ich wollte fliehen. Es war unmöglich. Ich war festgenagelt, war angewurzelt am Boden. Es kam mir vor, als ob der Marmor des Fußbodens mir bis in die Knien gestiegen wäre. Ich mußte bis zum Ende bleiben. Meine Füße waren von Eis, mein Kopf glühte. Endlich – du hattest vielleicht Mitleid mit mir – hörtest du auf zu singen und gingst davon. Der Abglanz der blendenden Erscheinung, der Nachhall der bezaubernden Musik verschwanden nach und nach aus meinen Augen und meinen Ohren. Da fiel ich starrer und schwächer in die Ecke des Fensters nieder, als eine Bildsäule, die von ihrem Piedestale sinkt. Die Vesperglocke weckte mich. Ich erhob mich, ich entfloh; aber ach! in mir war etwas gefallen, was sich nicht wieder erheben, etwas plötzlich über mich gekommen, dem ich nicht entfliehen konnte.«
Er machte wieder eine Pause und fuhr dann fort:
»Ja, von diesem Tage an war ein Mensch in mir, den ich nicht kannte. Ich wollte alle meine Heilmittel anwenden: das Kloster, den Altar, die Arbeit, die Bücher. Thorheiten! ach! wie hohl klingt die Wissenschaft, wenn man voll Verzweiflung, den Kopf voll Leidenschaften, bei ihr anzuklopfen kommt! Weißt du, junges Mädchen, was ich von Stunde an immer zwischen mir und dem Buche sah? Dich, deinen Schatten, das Bild der leuchtenden Erscheinung, welche eines Tages den Raum vor mir durchschritten hatte. Aber das Bild hatte nicht mehr dieselbe Farbenpracht; düster war es, traurig, finster wie der schwarze Kreis, der lange das Gesicht des Thörichten verfolgt, welcher starr in die Sonne geblickt hat.
»Weil ich mich nicht davon losmachen konnte, weil ich stets deinen Gesang in meinem Kopfe summen hörte, immer deine Füße auf meinem Brevier herumtanzen sah, stets des Nachts, im Traume, deine Gestalt über meinen Leib gleiten fühlte, so wollte ich dich wiedersehen, dich berühren, wissen, wer du wärest, sehen ob ich dich wohl dem idealen Bilde ähnlich finden möchte, das mir von dir geblieben war, vielleicht mein Traumbild durch die Wirklichkeit vernichten. In jedem Falle hoffte ich, daß ein neuer Eindruck den ersten verwischen würde, und der erste war mir unerträglich geworden. Ich sah dich wieder. Wehe mir Unglücklichen! Als ich dich zweimal gesehen hatte, wollte ich dich tausendmal, wollte ich dich immer sehen. Von da an . . . wie einhalten auf diesem Abhange zur Hölle? . . . von da an gehörte ich nicht mehr mir an. Das andere Ende des Fadens, den der Teufel mir um die Flügel gewunden, hatte er an sein Bein geknotet. Ich wurde flüchtig und herumirrend, wie du. Ich erwartete dich unter den Vorhallen, ich erspähte dich an den Ecken der Straßen, ich lauerte dir von der Spitze meines Thurmes auf. Jeden Abend kehrte ich entzückter, verzweifelter, behexter und verlorener zu mir selbst zurück!
»Ich hatte erfahren, wer du warst: eine Aegypterin, ein fahrendes Weib, eine Tänzerin, eine Zigeunerin. Wie konnte ich an der Zauberei Zweifel hegen? Höre. Ich hoffte, daß ein peinlicher Proceß mich vom Zauber frei machen würde. Eine Hexe hatte den Bruno von Ast verzaubert; er ließ sie verbrennen und wurde geheilt. Ich wußte das; ich wollte das Heilmittel erproben. Zuerst versuchte ich es damit, dir den Vorplatz von Notre-Dame verbieten zu lassen, weil ich hoffte, dich zu vergessen, wenn du nicht mehr wiederkämest. Du kehrtest dich nicht daran; du kamst wieder. Nun gerieth ich auf den Gedanken, dich zu entführen. In einer Nacht versuchte ich es. Wir waren unserer zwei. Wir hatten dich schon in unserer Gewalt, als dieser elende Offizier dazukam. Er befreite dich. Das wurde also der Anfang zu deinem Unglücke, zu meinem und zu seinem. Endlich, da ich nicht mehr wußte, was thun und was werden, zeigte ich dich dem geistlichen Gerichte an. Ich dachte, daß ich geheilt werden würde, wie Bruno von Ast. In meiner Verwirrung dachte ich auch, daß ein Proceß dich mir überliefern würde, daß in einem Gefängnisse ich dich in meine Gewalt bekommen, dich besitzen würde; daß du mir da nicht würdest entgehen können; daß du mich seit langem genug besäßest, als daß ich dich nun auch meinerseits in Besitz nehmen könnte. Wenn man Böses thut, soll man das Böse ganz thun. Es ist Wahnsinn, bei scheußlicher That auf halbem Wege stehen zu bleiben. Erst wenn das Verbrechen zu Ende geführt, empfindet man den Freudenrausch. Ein Priester und eine Hexe bringen es fertig, auf der Strohschütte eines Kerkers sich in Wonne aufzulösen!
»Ich zeigte dich also an. Damals nun versetzte ich dich in Schrecken, wenn wir einander begegneten. Die Verschwörung, die ich gegen dich anzettelte, der Sturm, den ich auf dein Haupt losließ, brach aus mir in Blitzen und Drohungen hervor. Jedoch zauderte ich noch. Mein Plan hatte seine schrecklichen Seiten, die mich zögern ließen.
»Vielleicht würde ich auf ihn verzichtet haben; vielleicht würde der gräßliche Gedanke in meinem Gehirne verdorrt sein, ohne Frucht zu bringen. Ich glaubte, daß es immer von mir abhängen würde, diesen Proceß zu betreiben oder niederzuschlagen. Aber jeder böse Gedanke ist unerbittlich und will zur That werden; aber da, wo ich mich für allmächtig hielt, war das Verhängnis mächtiger als ich. Wehe! wehe! das Schicksal ist es, das dich gepackt hat, das dich dem schrecklichen Räderwerke der Maschinerie überliefert hat, die ich, im Dunkeln schleichend, in Gang gesetzt hatte! Höre . . . ich komme bald zu Ende.
»Eines Tages . . . es war wieder ein schöner Tag . . . sehe ich vor mir einen Menschen hinschreiten, der deinen Namen ausspricht und lacht, und dem die Wollust aus den Augen sieht. Verflucht! ich bin ihm gefolgt. Das Uebrige weißt du.«
Er schwieg. Das junge Mädchen konnte nur ein Wort über die Lippen bringen:
»O mein Phöbus!«
»Nicht diesen Namen!« sagte der Priester und packte sie mit Heftigkeit am Arme. »Sprich diesen Namen nicht aus! Ach! was sind wir unglücklich; denn dieser Name hat uns ins Verderben gestürzt! Oder vielmehr: wir haben uns alle, einer den andern, durch ein unerklärliches Spiel des Schicksals, ins Verderben gestürzt! . . . Du leidest Pein, nicht wahr? Du frierst, die Nacht macht dich blind, der Kerker umgiebt dich; aber wahrscheinlich hast du noch etwas Licht im Innern deines Herzens, wäre es auch nur deine kindische Liebe zu jenem nichtigen Manne, der mit deinem Herzen sein Spiel trieb! Ich dagegen, ich trage den Kerker in meinem Innern; drinnen in mir ist der Winter, Eis, die Verzweiflung; in meiner Seele habe ich die Nacht. Weißt du, was ich gelitten? Ich bin bei deinem Processe zugegen gewesen. Ich saß auf der Bank des geistlichen Gerichtes. Ja, unter einer dieser Priesterkapuzen verbargen sich die Zuckungen eines Verdammten. Als man dich hereinführte, war ich zugegen; als man dich verhörte, war ich dabei . . . O, die Wolfshöhle! Es war mein Verbrechen, mein Galgen, den ich über deinem Haupte sich langsam aufbauen sah. Bei jedem Zeugen, bei jedem Beweise, bei jeder Sachwalterrede war ich zugegen; ich habe jeden deiner Schritte auf dem Schmerzensgange zählen können; ich war noch dabei, als diese wilde Bestie . . . Ach! ich hatte die Folter nicht vorausgesehen! . . . Höre. Ich bin dir in die Folterkammer gefolgt. Ich habe dich auskleiden und von den ehrlosen Händen des Foltermeisters betasten sehen. Ich habe deinen Fuß gesehen, diesen Fuß, auf den ich um ein Königreich einen Kuß hätte drücken mögen, einen einzigen Kuß und dann sterben wollen; diesen Fuß, unter dem ich mit dem höchsten Entzücken meinen Kopf zertreten gefühlt hätte, habe ich in den schrecklichen Stiefel schnüren gesehen, der die Glieder eines lebenden Wesens in einen blutigen Klumpen verwandelt. Ach! ich Elender! während ich das mit ansah, hatte ich unter meinem Schweißtuche einen Dolch, mit dem ich mir die Brust zerarbeitete. Bei dem Schreie, den du ausstießest, habe ich mir ihn ins Fleisch gestoßen; bei einem zweiten Schreie wäre er mir ins Herz gedrungen! Sieh her. Ich glaube, es blutet noch.«
Er öffnete das Untergewand. Seine Brust war in der That wie von einer Tigerkralle zerrissen, und in der Seite hatte er eine ziemlich große und schlecht geheilte Wunde.
Die Gefangene fuhr vor Entsetzen zurück.
»Ach!« sprach der Priester, »junges Mädchen, habe Mitleid mit mir! Du hältst dich für unglücklich: o weh! du weißt nicht, was Unglück heißt. Ach! ein Weib lieben! Priester sein! Gehaßt werden! Sie mit der ganzen Raserei seiner Seele zu lieben; fühlen, daß man für das leiseste Lächeln von ihr sein Blut, sein Herz, seinen Ruf, sein Heil, die Unsterblichkeit und die Ewigkeit, dieses und das ewige Leben hingeben würde; bedauern, daß man nicht König, Genius, Kaiser, Erzengel, Gott ist, um ihr einen größern Sklaven vor die Füße zu legen; sie Tag und Nacht in seinen Träumen und seinen Gedanken umfassen – und sie in eine Soldatenuniform verliebt zu sehen! Und ihr nichts bieten zu können, als eine schmutzige Priestersoutane, vor der sie Furcht und Abscheu empfinden wird! Gegenwärtig sein, mit seiner Eifersucht und seinem Ingrimme, währenddem sie an einen elenden und dummen Prahlhans Schätze der Liebe und Schönheit verschwendet! Diesen Körper sehen, dessen Form jeden Mann entflammt, diesen Busen, der so viel Liebreiz besitzt, dieses Fleisch unter den Küssen eines andern zucken und sich röthen zu sehen! O Himmel! in ihren Fuß, ihren Arm, ihre Schulter verliebt sein, an ihre blauen Adern, ihre brünette Haut denken, sich ganze Nächte hindurch mit diesen Gedanken auf dem Boden seiner Zelle herumzuwälzen, und alle Schmeicheleien, die man für sie ersonnen hat, mit der Tortur enden zu sehen! Nichts erlangt zu haben, als sie auf das lederne Bett hinzustrecken! O! das sind doch die wahren, im Feuer der Hölle glühend gemachten Zangen! Ach! wie glückselig ist doch derjenige, den man zwischen zwei Brettern zersägt, oder den man von vier Pferden zerreißen läßt! . . . Weißt du, was das für eine Qual ist, die man empfindet, wenn die Adern kochen, das Herz bricht, der Kopf berstet, die Zähne in die Finger beißen? Das sind die wüthenden Peiniger, die den Mann bei der Empfindung der Liebe, der Eifersucht und der Verzweiflung wie auf einem glühenden Roste herumwerfen! Junges Mädchen, Gnade! einen Augenblick noch gieb mir Rast! Ein wenig Asche auf die Glut! Trockne, ich beschwöre dich deshalb, den Schweiß, der in dicken Tropfen von meiner Stirne rinnt! Kind! foltere mich mit einer Hand, aber liebkose mich mit der andern! Habe Mitleid, junges Mädchen! habe Mitleid mit mir!«
Der Priester wälzte sich in der Lache des Bodens und stieß den Kopf gegen die Ecken der steinernen Treppenstufen. Das junge Mädchen hörte und starrte ihn an. Als er erschöpft und keuchend schwieg, wiederholte sie mit halber Stimme:
»O mein Phöbus!«
Der Priester schleppte sich auf beiden Knien zu ihr hin.
»Ich flehe dich an,« rief der Priester, »du hast ein Herz im Busen, stoße mich nicht von dir! Ach! ich liebe dich! ich bin ein Elender! Wenn du diesen Namen nennst, Unglückselige, so ist es, als ob du alle Fibern meines Herzens zwischen deinen Zähnen zermalmtest! Erbarmen! Wenn du aus der Hölle kommst, ich gehe mit dir dahin! Dafür habe ich alles gethan. Die Hölle, in der du sein wirst, ist mein Paradies; dein Antlitz ist entzückender, als dasjenige Gottes! Ach sprich, du willst also nichts von mir wissen? An dem Tage, wo ein Weib eine solche Liebe zurückweisen würde, hätte ich geglaubt, daß die Berge sich regen müßten. Ach! wenn du wolltest! Ach! wie glücklich würden wir sein! Wir würden fliehen . . . Ich würde dir zur Flucht verhelfen . . . wir würden irgendwohin gehen, wir würden den Ort auf der Erde suchen, wo die Sonne am hellsten scheint, die Bäume am schönsten grünen, der Himmel am blauesten ist. Wir wollten uns lieben, wollten unsere zwei Seelen ineinander ergießen und wollten einen unlöschbaren Durst nach uns beiden haben, den wir gemeinsam und ohne Aufhören aus dem Becher unversiegbarer Liebe stillen wollten.«
Sie unterbrach ihn mit einem lauten und schrecklichen Lachen.
»Seht doch, Pater! Ihr habt Blut an den Nägeln!«
Der Priester stand einige Augenblicke wie versteinert, den Blick auf seine Hand geheftet, da.
»Nun gut, ja!« fuhr er endlich mit seltsamer Weichheit fort, »schmähe mich, verspotte mich, überhäufe mich mit Verachtung, aber komm! komm! Laß uns eilen. Denke an morgen, sage ich dir. Der Galgen auf dem Grèveplatze, du weißt? er ist immer bereit. Es ist schrecklich! dich auf diesem Karren hinfahren zu sehen! Ach! sei gütig! Ich hatte niemals empfunden, wie sehr ich dich liebte, als jetzt . . . Ach! folge mir. Du sollst dir Zeit nehmen, mich lieb zu gewinnen, nachdem ich dich gerettet haben werde. Du sollst mich so lange hassen, wie du willst. Aber komm. Morgen! morgen! der Galgen! deine Hinrichtung! Ach! rette dich! schone meiner!«
Er war ganz verstört, ergriff sie beim Arme, er wollte sie fortziehen.
Sie heftete einen starren Blick auf ihn.
»Was ist aus meinem Phöbus geworden?« fragte sie.
»Ach!« sagte der Priester und ließ ihren Arm fahren, »Ihr seid ohne Mitleid!«
»Was ist aus meinem Phöbus geworden?« wiederholte sie in kaltem Tone.
»Er ist todt!« rief der Priester.
»Todt!« sagte sie immer eisig und regungslos; »was sprecht Ihr dann mit mir vom Leben?«
Er hörte sie nicht an.
»Ach, ja!« sagte er, als ob er mit sich selbst spräche, »er muß wohl todt sein. Die Klinge ist sehr tief eingedrungen. Ich glaube, daß ich mit der Spitze das Herz getroffen habe. O! ich lebte sogar in der Spitze des Dolches!«
Das junge Mädchen stürzte sich wie eine wüthende Tigerin auf ihn, und stieß ihn mit übernatürlicher Kraft die Stufen der Treppe hinan.
»Hinweg, Ungeheuer! hinweg, Meuchelmörder! laß mich sterben! Möge unser beider Blut dir einen ewigen Schandfleck auf die Stirn drücken! Dir gehören, Priester? Niemals! niemals! Nichts soll uns vereinigen! selbst die Hölle nicht! Hinweg, Verfluchter! Niemals!«
Der Priester war auf der Treppe gestolpert. Schweigend befreite er seine Füße aus den Falten seines Gewandes, ergriff seine Laterne wieder und begann langsam die Stufen, welche zur Thüre führten, hinaufzusteigen; er öffnete diese Thüre wieder und trat hinaus. Plötzlich sah das junge Mädchen seinen Kopf wiedererscheinen; er hatte einen fürchterlichen Ausdruck, und mit vor Wuth und Verzweiflung röchelnder Stimme rief er ihr zu:
»Ich sage dir, er ist todt!«
Sie fiel mit dem Gesichte zu Boden nieder, und man hörte im Kerker kein anderes Geräusch mehr, als den Seufzer des Wassertropfens, der die Lache in der Finsternis aufzucken ließ.