Victor Hugo
Die Elenden. Erster Theil. Fantine
Victor Hugo

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Sechstes Buch. Javert

I.
Anfang der Ruhe

Madeleine ließ Fantine nach dem Hospital schaffen, das er in seinem eignen Hause eingerichtet hatte. Er vertraute sie der Obhut der Schwestern an, die sie zu Bett brachten. Es stellte sich ein hitziges Fieber ein, und sie redete einen Theil der Nacht irre, schlummerte aber schließlich ein.

Am nächsten Morgen erwachte sie, hörte Jemand dicht bei ihrem Bett atmen, hielt den Vorhang bei Seite und sah Madeleine da stehen. Er betrachtete mit einem Blick voller Demuth, Mitleid und Angst ein an der Wand befestigtes Krucifix.

Madeleine war für Fantine jetzt ein höheres Wesen, eine verklärte Lichtgestalt. Er schien zu beten, und sie wagte lange Zeit nicht ihn zu stören. Endlich aber fragte sie furchtsam:

»Was machen Sie denn da?

Madeleine stand eine Stunde so da. Er wartete, ob Fantine erwachen würde. Er ergriff ihre Hand, befühlte ihren Puls und sagte:

»Wie befinden Sie Sich?«

»Gut. Ich habe geschlafen. Es geht besser, glaube ich. Es wird nichts von Bedeutung sein.«

Nun erst beantwortete er Fantinens Frage:

»Ich betete zu dem Märtyrer da oben.«

»Für die Märtyrerin, die hier liegt,« fügte er in seinem Innern hinzu.

Madeleine hatte in der Nacht und am Morgen Erkundigungen über Fantine eingezogen und wußte jetzt Alles, kannte alle ihre traurigen Erlebnisse.

»Sie haben viel Schweres durchgemacht, Sie Arme. Aber beklagen Sie Sich nicht, denn Sie haben damit die Anwartschaft auf die Freuden des Paradieses erworben, und daß Ihnen die Menschen auf andre Weise dazu verhelfen würden, war nicht zu erwarten: Sie verstehen es nun einmal nicht besser. Die Hölle, aus der Sie jetzt herausgekommen sind, war die Vorhalle zum Himmel. Da mußten Sie zuerst hindurch.«

Er seufzte tief auf. Sie aber lächelte ihn selig an, und dies Lächeln war nicht mehr häßlich anzusehen, trotz der Zähne, die ihr fehlten.

Noch in derselben Nacht schrieb Javert einen Brief, den er in der Frühe in dem Postbüreau Montreuil-sur-Mer aufgab. Die Adresse lautete: An Herrn Chabouillet, Sekretär des Herrn Polizeipräfekten, in Paris. Da der Vorfall, der sich in dem Polizeibüreau abgespielt hatte ruchbar geworden war, so glaubte die Direktrice des Postbüreaus und einige andre Neugierige, die den Brief vor seiner Befördrung nach Paris sahen, daß Javert seine Entlassung eingereicht habe.

Madeleine beeilte sich an die Thénardiers zu schreiben. Er schickte ihnen statt der hundert und zwanzig Franken, die Fantine schuldig war, dreihundert, mit der Weisung, er solle sich bezahlt machen und das Kind nach Montreuil-sur-Mer bringen, wo die kranke Mutter ihrer warte.

Freund Thénardier stutzte. »Alle Wetter!« sagte er zu seiner Frau. »Das Balg halten wir fest. Aus der Lerche wird jetzt eine Milchkuh. Ich kann mir schon denken, was dahinter steckt. Irgend ein Schafskopf hat sich in die Mutter verliebt.«

Er parirte den Hieb mit einer gut zusammengestellten Rechnung über fünfhundert Franken. Auf derselben figurirten u. a. hauptsächlich zwei unanfechtbare Posten, nämlich die Quittung eines Arztes und die eines Apothekers, laut deren Thénardier ihnen dreihundert Franken ausgezahlt hatte – für Pflege und Arzneien, die Eponine und Azelma während langer Krankheit bekommen. Denn Cosette, wie schon erwähnt, war nicht krank gewesen. Es handelte sich blos um eine kleine Namensfälschung, Thénardier schrieb unter die Rechnung: Auf Abschlag erhalten . . . dreihundert Franken.

Madeleine schickte umgehend noch dreihundert Franken und schrieb: »Bringen Sie schleunigst Cosette.«

»Alle Hagel! rief Thénardier. »Das Kind geben wir nicht raus.«

Mittlerweile machte Fantinens Wiederherstellung keine weiteren Fortschritte. Sie befand sich noch immer in dem Hospital.

Die barmherzigen Schwestern hatten Anfangs »die Dirne« nicht gut aufgenommen. Wer die Reliefs in der Kathedrale zu Reims je gesehen, wird bemerkt haben, daß bei den klugen Jungfrauen zum Unterschiede von den thörichten, die Unterlippe verächtlich emporgeschoben ist. Diese Geringschätzung, die Vestalinnen gegenüber Hetären zur Schau tragen, ist einer der am tiefsten eingewurzelten Instinkte weiblicher Würde, und auch die barmherzigen Schwestern hatten sie empfunden, und zwar um so stärker, als die Religion sie hierin bestärkte. Aber in wenigen Tagen wurden sie durch Fantinens demüthige und sanfte Art entwaffnet. Besonders rührend aber schien ihre Liebe zu ihrem Kinde. Eines Tages hörte man sie halb im Fieberdelirium sagen: Ich bin eine Sünderin gewesen, aber wenn mein Kind wieder bei mir sein wird, dann ist das ein Zeichen, daß Gott mir vergeben hat. So lange ich ein schlechtes Leben führte, hätte ich meine Cosette nicht um mich haben mögen; ich würde es nicht ertragen haben, wenn sie mich mit erstaunten und betrübten Augen angesehen hätte. Und doch war es ihretwegen, daß ich mich versündigt habe, und deshalb verzeiht mir Gott. Wie mir das wohl thun wird, wenn ich erst in die unschuldigen Augen blicken werde. Sie weiß von nichts, der kleine Engel. In dem Alter, meine Schwestern, sind die Engelsflügel noch nicht abgefallen.«

Madeleine besuchte sie zweimal jeden Tag, und jedes Mal fragte sie:

»Werde ich bald meine Cosette sehen?«

»Vielleicht morgen früh,« pflegte er zu antworten. »Ich erwarte sie jeden Augenblick.«

Dann strahlte das blasse Gesicht der Mutter vor Freude.

»O, wie glücklich mich das machen wird!«

Wir haben schon berichtet, daß ihre Genesung keine Fortschritte machte. Im Gegentheil, ihr Befinden schien sich von Woche zu Woche zu verschlimmern. Die plötzliche Erkältung der Haut durch den Schnee hatte eine Unterdrückung der Transpiration bedingt, in Folge deren ihre alte Krankheit mit besondrer Heftigkeit herausgetreten war. Man folgte damals bei dem Studium und der Behandlung Brustkranker den schönen Indikationen Laënnec's. Der Arzt auskultirte danach auch Fantine und – schüttelte den Kopf.

»Wie steht's?« fragte ihn Madeleine.

»Sie hat ja wohl ein Kind, das sie zu sehen wünscht?«

»Ja.«

»Dann lassen Sie es bald kommen.«

Madeleine fuhr zusammen.

»Was hat der Arzt gesagt?« forschte Fantine.

Madeleine zwang sich zu lächeln.

»Er sagt, wir sollen das Kind baldigst holen. Das würde Ihnen die Gesundheit bald wieder geben.«

»Da hat er Recht. Was haben aber die Thénardiers blos, daß sie Cosette da behalten? Sie wird aber doch schließlich kommen, und dann wird das Glück in meiner Nähe sein.«

Freund Thénardier gab aber das Kind nicht heraus und wußte immer neue Ausflüchte. Cosette sei etwas leidend und könne bei der kalten Witterung nicht reisen. Dann wären auch noch einige Läpperschulden zu bezahlen, über die er noch die Bescheinigungen auftreiben müsse. U. s. w.

»Ich werde Jemand hinschicken,« sagte endlich Vater Madeleine. »Im Nothfall mache ich mich selber auf den Weg.«

Vorläufig aber setzte er noch einen Brief im Namen Fantinens auf und ließ ihn von ihr unterzeichnen:

»Herr Thénardier!

Uebergeben Sie Cosette dem Ueberbringer dieses Briefes.

Alle Ihre Ausgaben sollen Ihnen wiedererstattet werden.

Mit Hochachtung.

Fantine.«

Unterdessen aber ereignete sich ein bedeutungsvoller Zwischenfall. Mögen wir noch so geschickt an dem Marmorblock unseres Geschickes herummeißeln, die schwarze Ader des Unglücks tritt immer wieder vor.

II.
Wie aus Jean Champ wird

Eines Morgens war Madeleine mit der Erledigung einiger dringlichen Angelegenheiten beschäftigt für den Fall, daß er sich genöthigt sehen sollte, die Reise nach Montfermeil anzutreten, als plötzlich der Polizeiinspektor Javert sich anmelden ließ. Bei der Erwähnung dieses Namens vermochte sich Madeleine nicht einer unangenehmen Erregung zu erwehren. Seit der Scene im Polizeibureau war ihm Javert mehr als je aus dem Wege gegangen, und Madeleine hatte ihn auch seitdem nicht wieder gesehen.

»Bitten Sie ihn, näher zu treten.«

Javert kam herein.

Madeleine blieb vor dem Kamin sitzen, blätterte und schrieb weiter an den Anmerkungen, die er zu Protokollen über Kontraventionen gegen Straßenpolizeiverordnungen hinzuzusetzen hatte. Er ließ sich in dieser Arbeit von Javert nicht stören. Denn er erinnerte sich der armen Fantine und es beliebte ihm seinen Untergebenen kühl zu empfangen.

Javert verneigte sich ehrerbietigst, aber der Herr Bürgermeister drehte sich nicht einmal um, ihn anzusehen.

Nun trat Javert vor, ohne das Stillschweigen zu brechen.

Ein Physiognomiker, der Javerts Charakter gekannt hätte, der längere Zeit diesem im Dienste der Civilisation stehenden Wilden, diese sonderbare Mischung von römischer, spartiatischer, mönchischer und soldatischer Strenge, diesen einer Lüge unfähigen Spion, diesen keuschen Spitzel studirt hätte, ein Physiognomiker, dem Javert's geheime und hartnäckige Abneigung gegen Madeleine, sein Konflikt mit dem Bürgermeister wegen Fantine bekannt gewesen wäre, und der ihn in diesem Augenblick betrachtet hätte, würde sich gefragt haben: »Was ist mit dem Mann vorgegangen?« Wer seine Gradheit, seine Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit, Starrheit und Härte kannte, mußte sehen, daß Javert in seinem Innern einen heftigen Sturm überstanden hatte. Denn was in seiner Seele vorging, das spiegelte sich auch stets auf seinem Gesicht ab. Er war wie alle gewaltthätigen Menschen, unvermittelten Gemüthsumstimmungen ausgesetzt. Heute nun schien sein Gesichtsausdruck ganz absonderlich und eigenartig. Bei seinem Eintritt und während er sich verneigte, stand in seinen Augen weder Groll, noch Zorn, noch Mißtrauen zu lesen. Dann war er einige Schritte hinter dem Lehnstuhl des Bürgermeisters stehen geblieben und jetzt war seine Haltung eine fast diziplinarische, ruhige und kalte, die eines Menschen, der nie sanftmüthig und immer geduldig gewesen ist; er wartete, ohne ein Wort zu sprechen, mit echter Demuth und stiller Ergebenheit, daß es dem Herrn Bürgermeister belieben möge, sich umzuwenden, den Hut in der Hand, die Augen zur Erde gesenkt, halb wie ein Soldat vor seinem Offizier, halb wie ein Angeklagter vor seinem Richter. Alle Gefühle, wie alle Erinnerungen, die man ihm hätte zuschreiben können, waren nicht mehr vorhanden. Auf seinem marmorharten und simplen Gesicht lagerte nur eine düstere Traurigkeit. Alles an ihm athmete Erniedrigung und Festigkeit, so wie eine mit Muth gepaarte Niedergeschlagenheit.

Endlich legte der Bürgermeister die Feder nieder und wandte sich halb nach ihm um:

»Nun, was wünschen Sie, Javert? Was giebts?«

Javert schwieg eine Weile, als sammle er seine Gedanken, und sprach dann traurig und feierlich, aber doch auch in schlichter Weise:

»Ein schweres Vergehen, Herr Bürgermeister.«

»Was für eins?«

»Ein niederer Beamter hat es an dem Respekt fehlen lassen, den er einer hohen, obrigkeitlichen Person schuldete. Ich bin gekommen, Herr Bürgermeister, diese Thatsache, wie es meine Pflicht ist, zu ihrer Kenntniß zu bringen.«

»Wer ist der Beamte?« fragte Madelaine.

»Ich.«

»Und welche obrigkeitliche Person hätte sich über Sie zu beklagen?«

»Sie, Herr Bürgermeister.«

Madeleine richtete sich jetzt in seinem Lehnstuhl hoch auf, während Javert mit strengem Ernst und mit gesenkten Augen fortfuhr:

»Herr Bürgermeister, ich ersuche Sie, meine Absetzung zu veranlassen.«

Voller Staunen that Madeleine den Mund auf, aber Javert kam ihm zuvor:

»Der Herr Bürgermeister werden einwenden, daß ich meine Entlassung nachsuchen könnte, aber das genügt nicht, das wäre ein Abschied mit Ehren. Ich habe aber gefehlt und verdiene Strafe. Es gehört sich, daß ich mit Schimpf und Schande fortgejagt werde.«

Und nach einer Pause fuhr er fort:

»Herr Bürgermeister, Sie sind neulich mit Unrecht streng gegen mich gewesen; lassen Sie heute eine gerechte Strenge walten.«

»Wozu denn aber? Was reden Sie da Alles zusammen? Worin besteht das Vergehen, dessen Sie Sich mir gegenüber schuldig gemacht hätten? Was haben Sie verbrochen? Sie klagen Sich an und wollen Ihren Posten aufgeben . . .«

»Abgesetzt werden, Herr Bürgermeister.«

»Gut. Sehr schön. Aber ich werde nicht klug daraus.«

»Ich werde Ihnen die Sache erklären, Herr Bürgermeister.«

Javert seufzte tief auf und sprach trauervoll und kalt:

»Herr Bürgermeister, vor sechs Wochen habe ich mich jener Dirne wegen über Sie geärgert und habe Sie denunzirt.«

»Denunzirt?«

»Bei der Pariser Polizeipräfektur denunzirt.«

Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber dies Mal lachte er.

»Weil ich als Bürgermeister mir einen Eingriff in die Rechte der Polizei gestattet hätte?«

»Als ehemaligen Galeerensklaven.«

Der Bürgermeister wurde kreideweiß.

Javert, der die Augen nicht erhoben hatte, fuhr fort.

»Ich hatte es mir eingebildet. Die Sache ging mir schon lange Zeit im Kopf herum. Eine äußerliche Aehnlichkeit, der Umstand, daß Sie in Faverolles Erkundigungen haben anstellen lassen. Ihre große Körperkraft, Ihre Treffsicherheit im Schießen, Ihre Gewohnheit, das eine Bein etwas nachschleppen zu lassen, und wer weiß was noch! Lauter Unsinn! Aber ich hielt Sie nun einmal für einen gewissen Jean Valjean.«

»Für einen gewissen . . . Wie nannten Sie ihn?«

»Jean Valjean. Ein Galeerensklave, den ich vor zwanzig Jahren in Toulon gesehen habe. Ich war damals Aufsehergehülfe. Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus hat dieser Jean Valjean, heißt es, einen Diebstahl im Hause eines Bischofs begangen, und nachher noch auf einer öffentlichen Landstraße mit bewaffneter Hand einen Savoyardenjungen beraubt. Er war seit acht Jahren verschwunden und wurde vergeblich gesucht. Ich hatte mir eingeredet . . . Kurz, ich habe mich endlich von der Wuth hinreißen lassen, Sie zu denunzieren.«

Madeleine, der seit einer Weile den Aktenstoß wieder vorgenommen hatte, fragte mit vollständig gleichgültigem Tone:

»Was hat man Ihnen geantwortet?«

»Ich wäre verrückt.«

»Nun, und . . .«

»Die Herren hatten Recht.«

»Ein Glück, daß Sie das zugeben.«

»Ich muß es wohl, denn der richtige Jean Valjean ist wieder aufgefunden.«

Das Blatt, das Madeleine gerade in der Hand hielt, entfiel ihm, er hob den Kopf, sah Javert fest an und sagte mit einer räthselhaften Betonung: »Ei was?«

»Die Sache verhält sich folgendermaßen, Herr Bürgermeister. In der Gegend von Ailly-le-Haut-Clocher lebte ein Kerl, den sie Champmathieu nannten. Ein bitterlich armer Wicht, den man nicht beachtete. Dergleichen Leute leben, man weiß nicht, wie. Kürzlich, im vergangenen Herbst, ist dieser Vater Champmathieu arretirt worden. Er hatte Aepfel gestohlen bei . . . Ich weiß nicht mehr wem. Es kommt auch nicht darauf an. Kurz und gut: Diebstahl, Ersteigung einer Mauer, und Beschädigung eines Baumes. Mein Champmathieu wird arretirt, und man findet ihn noch im Besitz eines Astes von dem Apfelbaum. Der Kerl wird hinter Schloß und Riegel gebracht. Bis dahin war dies nur eine Sache, die das Polizeigericht anging. Aber nun ereignet sich ein merkwürdiger Zufall. Das Gefängniß war baufällig, und der Untersuchungsrichter läßt Champmathieu nach Arras bringen. In dem Gefängniß zu Arras sitzt aber ein ehemaliger Galeerensklave Namens Brevet, der wegen seiner guter Aufführung zum Zimmeraufseher ernannt worden ist, und dieser Brevet wird den Champmathieu kaum ansichtig, so schreit er: »Herrjeh, den kenne ich! Sieh mich mal an, guter Freund! Du bist Jean Valjean.« – »Jean Valjean? Was für ein Jean Valjean?« fragt Champmathieu und thut ganz erstaunt. »Spiele doch nicht den wittschen Kaffer«, sagt Brevet. Du bist Jean Valjean. Du hast im Schurf' zu Toulon gesessen. Vor zwanzig Jahren. Mit mir zusammen.« Freund Champmathieu leugnet. Selbstverständlich! Die Herren aber gehen der Sache auf den Grund und finden Folgendes: Champmathieu war vor dreißig Jahren Baumputzer gewesen und hatte sich an verschiedenen Orten aufgehalten, besonders in Faverolles. Da aber verlor sich seine Spur, und man findet ihn erst lange Zeit nachher in der Auvergne wieder, dann in Paris, wo er – so behauptet er – Stellmacher war und eine Tochter hatte, die Waschfrau war; aber dies ist nicht bewiesen. Endlich in hiesiger Gegend. Was war nun aber Jean Valjean, ehe er ins Zuchthaus kam? Baumputzer. Wo? In Faverolles. Noch eins. Besagter Jean Valjean hieß mit seinem Taufnamen Jean, und seine Mutter führte ihren Familiennamen Mathieu. Was ist also natürlicher, als die Annahme, daß er sich nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus nach seiner Mutter – Jean Mathieu – genannt hat, um seine Spur zu verwischen. Er geht nach der Auvergne. Dort zu Lande wird Jean wie Chan ausgesprochen, und die Leute nennen ihn Chan Mathieu. Unser guter Freund läßt sich die Sache gefallen und wird nun Champmathieu. Sie folgen meiner Rede, Herr Bürgermeister, nicht wahr? Es werden Erhebungen in Faverolles angestellt. Jean Valjeans Familie ist dort nicht mehr zu ermitteln und kein Mensch weiß, wo sie geblieben ist. Bei den niederen Leuten kommt es ja oft vor, daß ganze Familien verschwinden. Sind solche Leute nicht wie der Koth, so sind sie wie Staub. Der wird weggeweht, man weiß nicht wohin. Und da der Anfang dieser Geschichte dreißig Jahre zurückgeht, so ist auch in Faverolles kein Mensch mehr zu finden, der Jean Valjean gekannt hätte. Nun werden Nachforschungen in Toulon angestellt. Abgesehen von Brevet sind nur noch zwei Sträflinge da, die Jean Valjean gesehen haben, Cochepaille und Chenildieu, zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurtheilte. Die läßt man also von Toulon kommen und stellt sie dem angeblichen Champmathieu gegenüber. Sie sind keinen Augenblick im Zweifel. Für sie wie für Brevet ist der Mann Jean Valjean. Dasselbe Alter – vierundfünfzig Jahre – dieselbe Größe, dieselben Züge, kurz derselbe Mann. Gerade zu jener Zeit sandte ich meine Denunziation bei der pariser Präfektur ein. Ich bekomme zur Antwort, ich wäre nicht gescheidt, Jean Valjean wäre in Arras und in den Händen der Gerechtigkeit. Sie begreifen, daß ich verwundert war. Glaubte ich doch, Jean Valjean hier zu haben. Ich schreibe an den Herrn Untersuchungsrichter. Er läßt mich kommen, der Champmathieu wird vorgeführt . . .«

»Und?« fiel ihm Madeleine ins Wort.

Javert fuhr mit derselben festen und schwermütigen Miene fort:

»Herr Bürgermeister, die Wahrheit ist die Wahrheit. Ich habe ihn ebenfalls erkannt.«

»Sind Sie dessen sicher?« fragte Madeleine sehr leise.

Javert lachte wie Einer, der zu seinem Leidwesen von einer unumstößlichen Thatsache nur zu fest überzeugt ist, und antwortete:

»O vollkommen sicher!«

Er versank in tiefes Nachdenken und spielte dabei mechanisch mit dem Sägemehl in dem Streufaß, das auf dem Tische stand; dann fuhr er fort:

»Und jetzt, wo ich den wahren Jean Valjean gesehen habe, begreife ich nicht, wie ich jemals mich so gröblich irren konnte. Ich bitte Sie deswegen um Verzeihung, Herr Bürgermeister.«

So demüthig sich diese Bitte von dem sonst so hochmütigen Manne anhörte, so einfach und würdevoll war dabei doch seine Haltung. Madeleine antwortete aber nur mit der hastigen Frage:

»Und was sagt der Mann?«

»Ja, der Fall liegt sehr schlimm. Ist er Jean Valjean, ist ein Rückfall vorhanden. Wenn ein kleiner Junge über eine Gartenmauer klettert, Aeste zerbricht, Aepfel stibitzt, so ist das ein dummer Streich; thut's ein Erwachsener, so nennt man's ein Vergehen; ist der Erwachsene ein ehemaliger Zuchthäusler, ein Verbrechen, ein »Diebstahl mit Einbruch.« Der Fall gehört dann nicht mehr vor das Zuchtpolizei-, sondern vor das Schwurgericht. Mit ein paar Tagen Gefängniß kommt solch ein Kerl nicht davon, er wandert auf Lebenszeit ins Zuchthaus. Und außerdem wird die Beraubung des kleinen Savoyarden doch hoffentlich auch zur Verhandlung kommen. Da wäre es nicht zu verwundern, wenn der Kerl sich gehörig wehren und ein großes Halloh machen würde, nicht wahr? Aber so dumm ist Freund Jean Valjean nicht. Der leugnet nicht, der streitet nichts ab. Er thut, als begreift er gar nicht, worum es sich handelt, und sagt: »Ich bin Champmathieu, weiter kann ich nichts sagen.« Er setzt eine erstaunte Miene auf und stellt sich dumm, wie ein Stück Vieh. Das ist viel gescheidter. Aber das macht nichts, man hat Beweise in Händen. Er ist von vier Zeugen wiedererkannt worden, der alte Schuft, und ist seiner Verurtheilung sicher. Die Sache wird vor dem Schwurgericht zu Arras verhandelt werden, und ich bin als Zeuge vorgeladen.«

Madeleine hatte sich mittlerweile wieder nach seinem Schreibtisch umgedreht, seinen Aktenstoß vorgenommen, blätterte darin, las und schrieb mit großer Emsigkeit. Jetzt wandte er sich wieder nach Javert um und sagte:

»Genug, Javert. Im Grunde genommen interessirt mich die ganze Geschichte herzlich wenig. Wir verlieren unsre Zeit und haben dringliche Sachen zu besorgen. Begeben Sie Sich jetzt auf der Stelle zu Frau Buseaupied, der Gemüsehändlerin an der Ecke der Rue Saint-Saulve. Sagen Sie ihr, sie möchte ihre Klage gegen den Pierre Chesnelong einreichen. Der rohe Mensch hat neulich die arme Frau samt ihrem Kinde übergefahren, und verdient Strafe. Dann gehen Sie zu Herrn Charcellay in der Rue Montre-de-Champigny. Der beschwert sich, daß eine Gosse des Nachbarhauses das Regenwasser auf sein Grundstück leitet und sein Haus unterwäscht. Nachher konstatiren Sie Kontraventionen, auf die ich aufmerksam gemacht worden bin, bei der Wittwe Doris in der Rue Guibourg und bei Frau René le Bossé in der Rue du Garraud-Blanc, und nehmen Sie Protokoll auf. Aber da gebe ich Ihnen viel Arbeit auf, und Sie sagten mir ja wohl vorhin, Sie müßten in acht oder zehn Tagen verreisen? . . . Nach Arras . . .«

»Früher, Herr Bürgermeister.«

»Wann denn?«

»Ich glaubte dem Herrn Bürgermeister gesagt zu haben, die Sache käme morgen zur Verhandlung, und daß ich heute Abend mit der Post abreisen würde.«

Madeleine machte eine kaum bemerkbare Bewegung.

»Wieviel Zeit wird die Verhandlung in Anspruch nehmen?«

»Höchstens einen Tag. Das Urtheil wird spätestens in der Nacht ausgesprochen werden. Aber ich werde es nicht abwarten, – schon weil ich vorher weiß, wie es ausfallen wird, und gleich nach meiner Vernehmung zurückkommen.«

»Sehr wohl!« bemerkte Madeleine und bedeutete Javert mit einer Handbewegung, daß er entlassen sei.

Aber Javert ging nicht.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister, . . .«

»Was giebt's denn noch?« fragte Madeleine.

»Herr Bürgermeister, ich muß Sie noch an etwas erinnern.«

»Woran denn?«

»Daß ich abgesetzt werden muß.«

Madeleine erhob sich von seinem Sitze.

»Javert, Sie sind ein Ehrenmann, den ich hoch achte. Sie übertreiben Ihr Vergehen. Uebrigens ist das auch wieder eine Beleidigung, die mich allein angeht. Sie verdienen Befördrung, nicht Absetzung. Ich will, daß Sie auf Ihrem Posten bleiben.«

Javert richtete auf Madelaine seine ehrbaren Augen, auf deren Grunde sein wenig erleuchtetes, aber strenges und reines Gewissen unverhüllt zu erkennen war, und sagte mit ruhiger Stimme:

»Das, Herr Bürgermeister, kann ich Ihnen nicht zugestehn».

»Ich wiederhole Ihnen, daß die Sache mich angeht.«

Aber Javert, der unentwegt nur seinen eigenen Gedankengang verfolgte, fuhr fort:

»Was das Uebertreiben anbelangt, so ist das völlig ausgeschlossen. Nach meinein Verstande verhält sich die Sache folgendermaßen. Ich habe Sie in falschem Verdacht gehabt. Das will freilich nichts besagen. Der Verdacht ist eine unsrer Berufspflichten, obschon es gewiß über das erlaubte Maß hinausgeht, wenn Einer einen Verdacht auf seinen Vorgesetzten wirft. Aber ich habe Sie ohne Beweise, in einem Anfall von Wuth, um mich zu rächen, als einen Zuchthäusler denunziert, Sie einen hochgestellten Mann, einen Bürgermeister, eine hohe Gerichtsperson! Das ist das Schlimme. Das ist sehr schlimm. Ich, ein Diener der Obrigkeit, habe die Obrigkeit in Ihrer Person beleidigt. Hätte Einer von meinen Untergebenen etwas Derartiges sich zu Schulden kommen lassen, so hätte ich den Menschen für unwert erklärt, Beamter zu bleiben und hätte ihn mit Schimpf und Schande fortgejagt. Also – ! – Noch Eins, Herr Bürgermeister. Ich bin oft in meinem Leben strenge gewesen. Gegen Andere. So verlangte es die Gerechtigkeit und ich that wohl daran. Wäre ich nun jetzt nicht strenge gegen mich, so würde alles, was ich Gerechtes gethan habe, ungerecht sein. Darf ich mich mehr schonen als Andre? Nein. Wie? Ich hätte nur dazu getaugt, Andre zu bestrafen und nicht auch mich! Dann wäre ich ja ein Nichtswürdiger, und Diejenigen, die mich einen Halunken nennen, hätten Recht. Herr Bürgermeister, ich wünsche nicht, daß Sie mich mit Güte behandeln. Ihre Güte gegen Andre hat mir das Blut schon genug in Wallung gebracht; gegen mich also wäre sie vollends nicht angebracht. Die Güte, die darin besteht, daß man einer öffentlichen Dirne Recht giebt gegen einen wohlsituirten Bürger, einem Polizeibeamten gegen den Bürgermeister, Dem, der unten steht, gegen den Hochgestellten, eine solche Güte nenne ich eine schlechte Güte. So etwas untergräbt die Ordnung. Du lieber Himmel! Gut sein ist leicht, aber gerecht sein ist schwer. Seien Sie versichert, wären Sie Der gewesen, für den ich Sie hielt, ich würde nicht gut gegen Sie gewesen sein! Ich hätte es Ihnen besorgt! Also, Herr Bürgermeister, ich muß gegen mich so sein, wie ich gegen jeden Andern sein würde. Wenn ich mit Gesindel und Verbrechern kurzen Prozeß machte und sie empfindlich abstrafte, habe ich oft zu mir selber gesagt: ›Du, wenn Du mal über die Stränge schlägst, wenn ich Dich je auf einem Vergehen ertappe, dann bist Du Deiner Sache sicher!‹ Jetzt habe ich über die Stränge geschlagen, jetzt habe ich mich vergangen, – folglich gehört es sich auch, daß ich kassirt, daß ich weggejagt werde. Ich habe gesunde Arme und kann arbeiten. Herr Bürgermeister, das Interesse des Dienstes erheischt, daß ein Beispiel statuirt wird. Ich beantrage also die Absetzung des Polizeiinspektors Javert«

Der halb demüthige, halb stolze Ton, die Verzweiflung und Sicherheit, womit er alles dieses sagte, drückte dem wunderlichen Heiligen ein Gepräge echter Seelengröße auf.

»Wir wollen sehen,« sagte Madeleine und reichte ihm die Hand.

Javert fuhr zurück und entgegnete herb abweisend:

»Verzeihung, Herr Bürgermeister, das geht nicht an. Ein Bürgermeister darf keinem Spitzel die Hand geben.

»Ja wohl – Spitzel,« murmelte er zwischen den Zähnen vor sich hin. »Ein schlechter Polizeibeamter verdient, daß man ihn einen Spitzel schimpft.«

Darauf verneigte er sich tief und ging auf die Thür zu.

Hier aber wandte er sich noch einmal um und sagte, wieder mit gesenkten Augen:

»Herr Bürgermeister, ich werde so lange meinen Dienst thun, bis mein Posten durch einen Andern besetzt ist.«

Er ging hinaus, und Madeleine horchte nachdenklich auf das Geräusch seines festen und sichern Trittes, das allmählich auf dem Flur verhallte.


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