Victor Hugo
Die Elenden. Erster Theil. Fantine
Victor Hugo

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Fünftes Buch. Dem Abgrund zu

I.
Ein Fortschritt in der Glasindustrie

Was war aber unterdessen aus der Mutter geworden, die, wie man in Montfermeil behauptete, ihr Kind im Stiche gelassen hatte? Wo hielt sie sich auf? Wie ging es ihr?

Nachdem sie ihr Töchterchen bei den Thénardiers zurückgelassen, war sie weiter gewandert, bis nach Montreuil-sur-Mer.

Es war, wie man sich entsinnen wird, im Jahre 1818.

Zehn Jahre waren jetzt verflossen, seitdem Fantine aus ihrer Provinz nach Paris gegangen war. In der Zeit hatte sich Montreuil-sur-Mer stark verändert. Während Fantine allmählich immer tiefer im Elend versank, war ihre Heimatsstadt emporgekommen.

Seit zwei Jahren hatte sich daselbst ein Umschwung in der Industrie vollzogen, der für einen kleinen Ort ein großes Ereigniß bedeutet.

Dieser Umstand ist von Wichtigkeit, und wir müssen deshalb jetzt näher darauf eingehen.

Seit Menschengedenken beschäftigte man sich in Montreuil-sur-Mer mit der Nachahmung der englischen Gagate und der deutschen, schwarzen Glaswaaren, aber ohne besonderen Erfolg, da der hohe Preis der Rohstoffe jede wirksame Konkurrenz unmöglich machte. Doch zu der Zeit, wo Fantine nach Montreuil-sur-Mer zurückkam, hatte die Erzeugung der »schwarzen Waaren« eine unerhörte Umwälzung erfahren. Gegen das Ende des Jahres 1815 war ein Unbekannter gekommen und hatte bei der Fabrikation das Harz durch Gummilack und die blechernen, gelötheten Schieber an den Armbändern durch blos angefügte ersetzt. Diese geringfügigen Aenderungen brachten eine Revolution in der Glasindustrie zu Stande.

Denn dadurch kamen die Rohstoffe billiger zu stehen, und die Folge hiervon war erstens, daß der Arbeitslohn erhöht werden konnte, was ein Segen für den Ort war; zweitens eine Verbesserung des Fabrikats, was ein Vortheil für den Consumenten war; drittens eine Verbilligung der Waare, bei dreimal so großem Profit für den Fabrikanten.

Also drei Vortheile, die sich aus einer Erfindung ergaben.

In noch nicht drei Jahren war der Urheber der Idee reich geworden, und das war gut; andrerseits hatte er den Ort reich gemacht, und das war besser. Er war fremd in dem Departement. Woher er kam, wußte man nicht; wie er emporgekommen, auch nicht genauer.

Man erzählte sich, er habe sehr wenig Geld gehabt, als er in der Stadt ankam, höchstens einige Hundert Franken.

Auf diesem geringen Kapital, das er im Dienste einer gescheidten Idee verwertete und durch Ordnung und Nachdenken befruchtete, hatte er sein Glück und das der ganzen Umgegend aufgebaut.

Bei seiner Ankunft in Montreuil-sur-Mer schien er, seiner Kleidung, seiner Haltung und seiner Sprache nach zu urtheilen, ein Arbeiter zu sein.

Es hieß, an dem Tage, wo er – es war gegen Abend und im Monat Dezember – einen Tornister auf dem Rücken und einen Knotenstock in der Hand, unbeachtet in die Stadt hereinkam, habe gerade das Gemeindehaus in Flammen gestanden. Der Fremde stürzte sich mit Lebensgefahr in das brennende Haus und rettete zwei Kinder, die des Gendarmeriehauptmanns, weshalb man es unterlassen hatte, ihn nach seinem Paß zu fragen. In der Folge erfuhr man seinen Namen. Er hieß Vater Madeleine.

II.
Madeleine

Vater Madeleine war ein Fünfziger, der sehr nachdenklich aussah und ein guter Mensch war. Das war Alles, was man über ihn sagen konnte.

Dank der, durch ihn bewirkten, Ummodelung der Glasindustrie war Montreuil-sur-Mer ein bedeutender Handelsplatz geworden. Von Spanien, das viel schwarzen Jet konsumirt, liefen daselbst jedes Jahr ansehnliche Bestellungen ein und Montreuil-sur-Mer machte sogar London und Berlin eine ziemlich fühlbare Konkurrenz. Der Nutzen, den Vater Madeleine aus seinem Geschäft zog, war so bedeutend, daß er schon im zweiten Jahr eine große Fabrik mit zwei sehr geräumigen Werkstätten erbauen konnte. Dorthin konnte ein Jeder kommen, der Noth litt, mit der sichern Aussicht Arbeit und Brot zu finden. Denn Vater Madeleine verlangte von den Männern nur guten Willen, von den Frauen Sittenreinheit, von Allen Ehrlichkeit. Werkstätten hatte er zwei eingerichtet, um die beiden Geschlechter von einander zu trennen und damit die jungen Mädchen und Frauen nicht der Verführung ausgesetzt seien. In diesem einzigen Punkte war er unbeugsam bis zur Unduldsamkeit. Allerdings war diese Strenge eine durchaus berechtigte, denn da Montreuil-sur-Mer eine Garnisonsstadt war, lief die Tugend seiner Arbeiterinnen große Gefahren. Ueberhaupt spielte er für die ganze Umgegend die Rolle einer gütigen Vorsehung. Vor seinem Auftreten lag Alles darnieder; jetzt verspürte man überall den materiellen und moralischen Segen der Arbeit und den kräftigen Pulsschlag eines neuen Lebens, das Alles durchdrang und Alles erwärmte. Arbeitslosigkeit und Elend waren unbekannte Dinge. Auch der Aermste hatte jetzt Geld in der Tasche, auch in die bescheidenste Hütte drang jetzt ein Strahl der Freude.

Inmitten all' dieser Thätigkeit, deren Ursache und Angelpunkt er war, erwarb, wie schon erwähnt, Vater Madeleine ein bedeutendes Vermögen, aber merkwürdigerweise schien dies nicht seine Hauptsorge zu sein. Offenbar dachte er mehr an Andere, als an sich selber. 1820 wußte man, daß er bei dem Bankier Lafitte sechshundert dreißig Tausend Franken zu liegen hatte, aber ehe er dieses Geld für sich behielt, hatte er über eine Million für die Stadt und für die Armen hingegeben.

Das Krankenhaus war schlecht ausgestattet: Er hatte zehn neue Betten gestiftet. Montreuil-sur-Mer zerfällt in eine obere und eine untere Stadt. In letzterer, wo er wohnte, gab es nur eine Schule, die sich in einem elenden, baufälligen Zustande befand. Er ließ zwei neue bauen, eine für die Knaben, die andere für die Mädchen. Außerdem warf er den beiden Schullehrern eine Summe aus, die doppelt so groß war, als ihr Gehalt, und bemerkte, als sich Jemand über diese Freigebigkeit wunderte: »Die Amme und der Schulmeister sind die ersten Beamten des Staates.« Desgleichen gründete er auf seine Kosten eine Kleinkinderbewahranstalt, was damals in Frankreich noch etwas fast Unbekanntes war, und eine Unterstützungskasse für alte und invalide Arbeiter. Als um seine Fabrik herum ein neues Stadtviertel entstanden war, wo viele bedürftige Familien sich ansiedelten, gründete er eine Apotheke, in der Arzneien unentgeltlich verabfolgt wurden.

Anfangs hatte es von ihm geheißen: »Der Kerl ist ein Pfiffikus, der reich werden will.« Als dann der Ort eher reich wurde, als Vater Madeleine, machten dieselben Klugschmuse die Entdeckung, der Mann sei ein Streber. Diese Ansicht hatte allerdings eine große Wahrscheinlichkeit für sich, denn Madeleine war religiös und besuchte sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Kirche, was damals wohl gelitten war, insbesondere wohnte er jeden Sonntag einer stillen Messe bei. Dem Deputirten, der Montreuil-sur-Mer in der Kammer vertrat und überall Nebenbuhler witterte, kam diese Religiosität verdächtig vor. Er war unter dem Kaiserreich Mitglied des gesetzgebenden Körpers gewesen und theilte in Bezug auf Religion die Ansichten eines Priesters vom Oratorium, Namens Fouché, Herzog von Otranto, dessen Kreatur und Freund er gewesen war: Er riß bei verschlossenen Thüren fidele Witze über den lieben Gott. Aber als er den reichen Fabrikanten Madeleine die stille Messe um sieben Uhr besuchen sah, beschloß er ihn zu überbieten, nahm sich einen Jesuiten zum Beichtvater und wohnte regelmäßig dem Hochamt und dem Nachmittagsgottesdienst bei. Denn zu jener Zeit stürmten die Streber ihrem Ziele mit dem Wetteifer zu, der Reiter bei einer Steeplechase beseelt. Glücklicher Weise profitirten die Armen so gut wie der liebe Gott von dieser Konkurrenz, denn der ehrenwerthe Abgeordnete stiftete auch zwei Betten in dem Hospital, was im Ganzen zwölf ausmachte.

Unterdessen verbreitete sich 1819 eines Morgens in der Stadt das Gerücht, Vater Madeleine sei, in Anbetracht seiner Verdienste um das Wohl der Stadt, von den Herrn Präfekten dem Könige zum Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer vorgeschlagen worden. Dies war Wasser auf die Mühle Derer, die den neuen Ankömmling für einen Streber erklärt hatten, und sie ließen die schöne Gelegenheit nicht vorüber gehen, ohne sich ihre Weisheit bestätigen zu lassen. »Aha! Haben wir's Euch nicht gesagt?« Ganz Montreuil-sur-Mer gerieth in Aufregung. Das Gerücht war begründet. Einige Tage darauf meldete der Moniteur Madeleine's Ernennung zum Bürgermeister. Allein dieser – schlug die angebotne Ehre aus.

In demselben Jahre beschickte Madeleine die Gewerbeausstellung mit den neuen, von ihm erfundenen Erzeugnissen, und infolge des Berichtes der Jury ernannte der König den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Abermals Sensation und Spannung in der Stadt: »Ja so! Er hatte es auf das Kreuz abgesehn!« Aber Vater Madeleine schlug auch das Kreuz aus.

Räthselhafter Mensch! Indeß die Klugschmuse wußten sich zu helfen und meinten: »Na, er ist ein Abenteurer!«

Wir haben also gesehen, daß die Stadt ihm viel, die Armen Alles verdankten; er stiftete so viel Nutzen, daß man ihm schließlich Ehrungen erwies, und war so gütig, daß man ihn lieb gewinnen mußte; besonders seine Arbeiter vergötterten ihn, und er nahm ihre Verehrung mit einer Art schwermüthigen Ernstes entgegen. Als er reich geworden, grüßten ihn die feinen Leute und nannten ihn »Herrn« Madeleine; die Arbeiter und die Kinder freilich fuhren fort, ihn Vater Madeleine zu nennen und dieser Titel erregte sein besondres Wohlgefallen. Als er aus der Niedrigkeit höher und höher emporstieg, regnete es Einladungen bei ihm. Die »feinen Leute« suchten ihn in ihren Umgangskreis zu ziehen. Die Salons, in die er als armer Handwerker nie Zugang gehabt hätte, thaten ihre Thüren weit auf, ihn aufzunehmen, nun er Millionär geworden war. Aber auch diese Einladungen lehnte er ab.

Und wieder verstand es die kluge Welt eine plausible Deutung für dieses Verhalten zu finden: Er ist ein unwissender, ungebildeter Mensch. Wer weiß, welches seine Herkunft sein mag? Er versteht sich nicht in guter Gesellschaft zu bewegen. Es ist noch gar nicht sicher, ob er lesen kann. U. dgl. m.

Allein im Jahre 1820, fünf Jahre nach seiner Ankunft in Montreuil-sur-Mer, waren die Dienste, die er der Stadt erwiesen hatte, so augenfällig und die allgemeine Stimmung zu seinen Gunsten eine so entschiedene, daß der König ihn abermals zum Bürgermeister ernannte. Er lehnte die Ehre wieder ab, aber der Präfekt wollte diese Weigerung nicht gelten lassen, die Honoratioren der Stadt kamen zu ihm, das Volk auf der Straße bat ihn, das Amt anzunehmen, kurz von allen Seiten drang man so lebhaft in ihn, daß er schließlich nachgab. Einen entscheidenden Eindruck machte wohl auf ihn der ärgerliche Zuruf einer alten Frau aus dem Volke: »Ein guter Bürgermeister kann viel Nutzen stiften. Darf einer Nein sagen, wenn es gilt, was Gutes zu thun?«

Er hatte also jetzt die dritte Stufe erklommen. Erst Vater Madeleine, dann Herr Madeleine und jetzt »der Herr Bürgermeister.«

III.
Bei Lafitte hinterlegte Gelder

Bei alledem war Vater Madeleine ein schlichter, einfacher Mann geblieben. Graue Haare, ernst blickende Augen, von der Sonne gebräunte Züge, ein nachdenklicher Gesichtsausdruck. Bekleidet war er gewöhnlich mit einem langen, hochgeschlossenen Rock aus grobem Tuch. Abgesehen von dem Verkehr, zu dem seine Pflichten als Bürgermeister ihn nötigten, lebte er einsam. Er sprach mit Wenigen, wich aus, wenn man ihn höflich grüßte, oder brach das angefangene Gespräch rasch ab, lächelte, um nicht reden, und schenkte Geld, um nicht lächeln zu müssen. Einen gutherzigen Bären nannten ihn die Frauen. Immer zog er dem Umgang mit Menschen Ausflüge auf das Land vor.

Auch seine Mahlzeiten nahm er allein ein, las aber dabei; Seine Bibliothek war gut ausgewählt, und er hielt viel von den Büchern, den stillsten und sichersten Freunden des Menschen. Je mehr Muße ihm allmählich die stetige Vermehrung seines Reichthums verschaffte, desto eifriger befliß er sich, seine Kenntnisse zu erweitern. Dies Bestreben wirkte auf seine Art sich auszudrücken zurück, die von Jahr zu Jahr sich höflicher, gewählter und milder gestaltete.

Bei seinen Ausflügen in die Umgegend trug er gern eine Flinte, bediente sich ihrer aber höchst selten. Geschah dies dennoch, so schoß er mit einer Treffsicherheit, die schrecken erregen konnte. Nie tötete er ein unschädliches Thier, nie einen kleinen Vogel.

Obgleich er nicht mehr jung war, erzählte man sich, er besitze eine mächtige Körperkraft. Jedenfalls griff er gerne zu, wenn es galt, Hilfe zu leisten, ein gestürztes Pferd wieder aufzurichten, einen festgefahrenen Wagen aus dem Koth herauszuziehen, einen wüthenden Stier bei den Hörnern zu packen. Wie gutmüthig er war, sah man auch daraus, daß er stets viel kleines Geld mitnahm, wenn er ausging, und jedesmal mit leeren Taschen zurückkam. Die zerlumpten Kinder in den Dörfern liefen ihm mit Freudengeschrei nach und umtanzten ihn, wie ein Schwarm Mücken.

Manche muthmaßten, daß er ursprünglich auf dem Lande aufgewachsen sein mußte, denn er lehrte die Bauern eine Menge nützlicher Geheimnisse. Er zeigte ihnen, wie man der Kornmotte zu Leibe geht, nämlich mit einer Auflösung von gewöhnlichem Salz, womit die Dielen begossen werden müssen. Er kannte »Rezepte« gegen das Rapünzchen, die Rade, die Wicke, den Kuhweizen und andre Schmarotzerpflanzen, die das Getreide ersticken. Um von einem Kaninchengehege die Ratten fern zu halten, hieß er die Bauern ein Meerschweinchen hineinthun, dessen Geruch die Ratten nicht leiden können.

Eines Tages sah er Leute, die sich alle erdenkliche Mühe gaben, ein Feld von Nesseln zu befreien, er betrachtete die entwurzelten und zum Theil schon vertrockneten Pflanzen und bemerkte: »Nun ist das Alles tot. Aber wieviel Nutzen könnte man davon haben, wenn man damit umzugehen verstände. So lange sie jung sind, liefern die Brennnesselblätter ein vorzügliches Gemüse; später enthalten sie Fasern und Fäden, wie der Hanf und der Flachs. Gehackt geben Brennnesseln ein gutes Fressen für das Geflügel ab; zerrieben, für das Hornvieh. Dem Viehfutter beigemengt, bewirkt Brennnesselsamen, daß die Haut der Tiere einen schönen Glanz bekommt, mit Salz vermischt, erzeugen Brennnesselwurzeln eine schöne gelbe Farbe. Außerdem ist es ein gutes Heu, das man zweimal mähen kann. Und was braucht die Brennnessel? Wenig Platz, gar keine Abwartung und Pflege. Nur daß der Same nach und nach, sobald er reif geworden, zur Erde fällt und schwer einzusammeln geht. Aber weiter auch nichts. Wollte man sich bloß ein klein Bischen Mühe geben, so würde man aus den Brennnesseln großen Nutzen ziehn; man vernachlässigt sie aber, und da wird ein Unkraut daraus. Dann rottet man sie aus. Mit vielen Menschen macht man's freilich nicht besser. Merkt Euch, Freunde! So was wie Unkraut giebt's nicht, ebenso wie's auch keine schlechten Menschen giebt. Man versteht blos nicht mit dem Kraut und den Menschen richtig umzugehen.«

Die Kinder hatten ihn auch noch gern, weil er aus Stroh und Kokosnüssen allerliebste Sächelchen zu machen verstand.

Sah er die Thür einer Kirche schwarz verhangen, so ging er hinein; er hatte für ein Begräbniß dieselbe Vorliebe, die andre für eine Taufe haben. Tod und Unglück zogen ihn an, wegen der milden Stimmung, die sie erzeugen; er mischte sich unter die traurigen Hinterbliebenen und die Geistlichen, die seufzend einem Sarge folgten. Es hatte den Anschein, als lege er gern seinen Gedanken den Text der Klagegesänge zu Grunde, die uns an das Jenseit erinnern. Die Augen zum Himmel aufgeschlagen, erhob er dann seine Seele zu dem geheimnißvollen Unendlichen.

Viele seiner guten Werke that er im Verborgenen, als handle es sich um etwas Böses. Er schlich sich z. B. heimlich in ein Haus ein. Es geschah dann wohl, daß ein armer Mensch seine Thür geöffnet, ja erbrochen fand. Er jammerte: »Bei mir hat Einer gestohlen!« Trat er aber in sein Zimmer hinein, so glänzte ihm ein Goldstück entgegen, das der Spitzbube, Vater Madeleine, zurückgelassen hatte.

Er war leutselig und schwermüthig. Das Volk sagte deshalb: »Er ist nicht stolz, trotzdem er reich ist! Er sieht nicht zufrieden aus, trotzdem er so viel Geld hat!«

Manche behaupteten, es hafte etwas Räthselhaftes an diesem Menschen und versicherten, er ließe Niemand in sein Zimmer, das, nach Art von Klausnerzellen, mit Menschenknochen und Todtenköpfen verziert sei. Dieses Gerücht trat mit einer solchen Bestimmtheit auf, daß eines Tages einige spottlustige, feine Damen zu ihm kamen, mit der Bitte, er möge ihnen doch sein Zimmer zeigen; es gehe die Rede, daß es darin ganz graulig aussehe. Er ließ sie lächelnd sofort hinein und sie fanden sich arg enttäuscht. Es war ein gewöhnliches, mit ordinären, unschönen Mahagonimöbeln und billigen Tapeten versehenes Zimmer. Nur ein paar Leuchter, die auf dem Kaminsims standen, fielen ihnen auf. Sie waren von »echtem Silber«, das stellten die Kleinstädterinnen fest, indem sie sich gewissenhaft überzeugten, daß beide Leuchter gestempelt waren.

Trotz alledem hieß es noch immer, Niemand werde je in dieses Zimmer hineingelassen, und es sehe grausig aus, wie eine Einsiedlerhöhle, ein Grabmal.

Desgleichen munkelte man, er habe »kolossal« viel Geld bei Lafitte zu liegen und zwar sei merkwürdiger Weise Vorkehr getroffen, daß ihm auf sein Verlangen das ganze Geld sofort und mit einem Mal ausgezahlt werden müsse. Herr Madeleine könne also beispielsweise eines schönen Tages in Lafitte's Komptoir kommen, eine Quittung unterschreiben, seine zwei oder drei Millionen binnen zehn Minuten in die Tasche stecken und davongehen. In Wirklichkeit reduzirten sich aber, wie schon gesagt, die zwei oder drei Millionen auf sechshundert dreißig oder vierzig Tausend Franken.

IV.
Madeleine trauert

Zu Anfang des Jahres 1821 meldeten die Zeitungen das Ableben des Bischofs Myriel von Digne im Alter von zweiundachtzig Jahren.

Sie vergaßen zu erwähnen, daß er seit mehreren Jahren blind gewesen, aber mit seinem Schicksal versöhnt war, da er seine Schwester bei sich hatte.

Beiläufig gesagt: Blind sein und geliebt werden, ist auf dieser Erde, wo nichts vollkommen ist, ein seltsam hohes Glück. Beständig neben sich eine geliebte Frau, eine Tochter, eine Schwester, irgend ein zartes, weibliches Wesen zu haben, das wir bedürfen und das uns nicht entbehren kann, stets den Grad ihrer Zuneigung an dem Quantum Zeit messen zu können, das sie uns widmet; in Ermangelung ihrer Gestalt, ihre Gedanken zu sehen; zu wissen, daß Eine uns treu bleibt, wo die ganze Welt uns im Stich läßt; ihr Kleid wie Engelflügel uns umrauschen zu hören; zu denken, daß man der Punkt ist, auf den sich alle ihre Thaten, Worte, Schritte beziehen; jeden Augenblick seine eigene Anziehungskraft zu äußern; sich um so mächtiger zu fühlen, je ohnmächtiger man ist; in dem Dunkel und wegen des Dunkels das Gestirn zu sein, um das der Engel gravitirt. Diesem Glück gleicht nicht leicht ein anderes. Das höchste Wonnegefühl gewährt die Ueberzeugung, daß man geliebt um seiner selbst willen, ja besser gesagt, trotz seines Selbst geliebt wird, und diese Ueberzeugung besitzt der Blinde. Jeder Dienst, den man ihm erweist, ist eine Liebkosung. Mangelt ihm irgend etwas? Nein. Der verliert nicht das Licht, der die Liebe hat. Sieht man nichts, so fühlt man doch, daß man angebetet wird, und lebt man in Finsterniß, so ist es eine Finsterniß, die ein Paradies erfüllt.

Aus diesem finstern Paradiese war der Bischof Bienvenu in das jenseitige hinübergegangen.

Gleich nachdem die Todesanzeige im Lokalblatt von Montreuil-sur-Mer erschienen war, legte Madeleine Trauerkleidung an.

Das gab wieder zu reden. Man munkelte, da er um den Bischof trauere, müsse er ein Verwandter von ihm sein und die vornehme Gesellschaft von Montreuil-sur-Mer betrachtete ihn alsbald mit größerem Wohlwollen und Respekt, die alten Damen grüßten ihn höflicher und die jungen lächelten ihm liebenswürdiger zu. Eines Abends endlich erkühnte sich eine alte Dame, die vornehmste in den vornehmen Kreisen der Stadt und die sich auch wegen ihres Alters etwas Neugierde gestatten durfte, zu der Frage: »Der Herr Bürgermeister sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne?«

»Nein, gnädige Frau!« erwiderte Madeleine.

»Sie trauern aber doch um ihn!« versetzte die Alte.

»In meiner Jugend bin ich Lakai in seiner Familie gewesen.«

Noch eins fiel an ihm als eine unerklärliche Absonderlichkeit auf. Jedes Mal, wenn ein kleiner Savoyarde nach Montreuil-sur-Mer kam, ließ ihn der Herr Bürgermeister zu sich bescheiden, fragte ihn nach seinem Namen und schenkte ihm Geld. Das erzählten sich die kleinen Savoyarden und es kamen eine ganze Menge nach Montreuil-sur-Mer.

V.
Schwarze Punkte am Horizont

Im Laufe der Zeit nahmen alle Feindseligkeiten ein Ende. Vermöge einer Art Naturgesetz, dem alle Emporkömmlinge verfallen, waren Anfangs Niedertracht und Verleumdung über Madeleine hergefallen, dann schwächte sich der Haß zu Mißgunst und Spott ab, endlich verschwand er ganz und machte einer vollkommenen, einstimmigen, von Herzen kommenden Achtung Platz. 1821 kam eine Zeit, wo in und um Montreuil-sur-Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« mit nahezu derselben Betonung ausgesprochen wurden, wie um 1815 »Se. Bischöfliche Gnaden« in Digne. Meilenweit kamen die Leute herbei, Madeleine um Rath zu fragen. Er schlichtete Streitigkeiten, verhinderte Prozesse, versöhnte geschworene Feinde. Man hatte die Empfindung, daß er in seinem Innern einen Kodex des natürlichen Rechtes trage.

Ein einziger in der Stadt und der Umgegend entzog sich vollständig dem Einfluß der öffentlichen Meinung und blieb, was auch Madeleine thun mochte, ihm feindlich gesinnt, als wenn eine Art unbestechlicher Instinkt ihn wach und in Unruhe hielt. Scheint doch in der That manchen Menschen ein geradezu thierischer Naturtrieb inne zu wohnen, der Zuneigung und Widerwillen erzeugt, mit Notwendigkeit verschiedne Naturen von einander fern hält, nicht schwankt, sich nicht beirren läßt, nie schweigt und sich nicht widerspricht, der klar sieht in seiner Dunkelheit, unfehlbar, unwiderstehlich, der Vernunft und Logik abhold ist, und, in welchen Verhältnissen sie auch zu einander stehen mögen, ein Mitglied einer Menschengattung deutlich benachrichtigen, wenn es einem Menschen einer andern Gattung gegenüber steht, so wie ein Hund eine Katze, ein Fuchs den Löwen wittert.

Oft, wenn Madeleine ruhig, leutselig, von Allen mit Achtung begrüßt auf der Straße ging, geschah es, daß ein großer Mann mit einem eisengrauen Rocke, einem dicken Spazierstock und einem Hut mit herabhängender Krämpe sich rasch nach ihm umdrehte und ihm mit den Augen folgte, bis er verschwunden war, dann die Arme verschränkte und mit der Unterlippe die obere bis an die Nase emporschob, als wolle er sagen: »Wer in aller Welt mag das sein? Ich habe ihn doch schon früher einmal gesehen. Jedenfalls lasse ich mir von dem nichts vormachen.«

Dieser Mann mit seinem unheimlich ernsten Gesicht gehörte zu denen, die einem Beobachter, auch wenn er ihn nur einmal flüchtig gesehen hat, zu denken geben.

Er hieß Javert und war Polizist.

Er bekleidete in Montreuil-sur-Mer einen mühevollen, aber nützlichen Posten, den eines Polizeiinspektors. Er hatte den Anfängen von Madeleine's industrieller Karriere nicht beigewohnt. Seinen Posten verdankte er der Protektion Chabouillet's, Sekretär des Ministers Graf d'Anglès, der damals Polizeipräfekt in Paris war. Als Javert nach Montreuil-sur-Mer versetzt wurde, hatte sich Vater Madeleine schon zu dem großen Fabrikanten Herrn Madeleine emporgeschwungen.

Manche Polizisten haben einen besondern Gesichtsausdruck, der neben einer gebieterischen Miene auch etwas Gemeines enthält. Diese Art Physiognomie hatte auch Javert, abgesehen von der Gemeinheit.

Unseres Erachtens würde sich, wenn man den Menschen in's Innere schauen könnte, deutlich die sonderbare Wahrnehmung machen lassen, daß jedes Individuum der Gattung Mensch irgend einer Gattung von Thieren entspricht, daß von der Auster bis zum Adler hinauf, vom Schwein bis zum Tiger, alle Thiere im Menschen und jedes Thier in einem Menschen enthalten ist. Manchmal auch mehrere neben einander.

Die Thiere sind nichts, als Verkörperungen unsrer Tugenden und Laster, die vor unsern Augen umherschweifen, sichtbar gewordne Umrisse unsrer Seelen. Gott zeigt sie unsern Sinnen, um uns zum Nachdenken anzuregen. Desgleichen sind die Thiere, da sie nur Schatten sind, nicht erziehbar in der eigentlichsten Bedeutung dieses Wortes. Unsere Seelen aber, die Wirklichkeit und einen Endzweck haben, sind von Gott mit Verstand, d. h. mit Erziehbarkeit, begabt worden. Die Gesellschaft kann also, mittels der Erziehung, aus jeder beliebigen Menschenseele all den Nutzen ziehen, dessen sie von Natur fähig ist.

Wohl bemerkt, dies gilt nur von dem sichtbaren Erdenleben und entscheidet nicht die schwierige Frage, wie sich die Lebewesen, die nicht der Gattung Mensch angehören, vor und nachher verhalten. Das sichtbare Ich gestattet dem Denker keineswegs das verborgne Ich zu leugnen. Mit diesem Vorbehalt wollen wir weiter gehen.

Nimmt man nun mit uns an, daß jeder Mensch Theil hat an irgend einer Thiergattung, so wird es uns leicht sein, klar zu machen, was für ein Mensch Javert war.

Die asturischen Bauern sind der Meinung, unter der Brut einer Wölfin befinde sich immer ein Hund. Den töte die Wölfin, weil er sonst ihre andern Jungen auffressen würde.

Denkt man sich nun einen solchen von einer Wölfin gebornen Hund, mit einem Menschengesicht ausgestattet, so hat man Javert.

Javert war der Sohn einer Kartenlegerin, die ihn im Gefängniß gebar, während ihr Mann im Zuchthaus war. Als er erwachsen war, sagte er sich, er stehe außerhalb der menschlichen Gesellschaft und werde ewig von ihr ausgeschlossen bleiben. Ferner bemerkte er, daß die Gesellschaft konsequent zwei Klassen von Menschen sich fern hält, diejenigen, die sie angreifen, und diejenigen, die sie vertheidigen. Nur zwischen diesen beiden Klassen stand ihm die Wahl frei, und zudem war er sich strenger Grundsätze, entschiedner Ordnungsliebe und Rechtschaffenheit bewußt, und hegte einen grimmigen Haß gegen das Gesindel, dem er entstammte. Er wurde also Polizist, avancirte schnell und war im Alter von vierzig Jahren Inspektor.

In seiner Jugend war er in den Zuchthäusern im Süden angestellt gewesen.

Ehe wir fortfahren, wollen wir erklären, was wir mit dem Wort »Menschengesicht« in Bezug auf Javert meinten.

Javerts Menschengesicht enthielt eine Stumpfnase mit zwei tiefen Nüstern, zu denen ein gewaltiger Backenbart emporstieg. Wenn man zum ersten Mal diesen Bartwald und diese Nasenhöhlen sah, so ward Einem unheimlich zu Muthe. Wenn Javert lachte, was selten genug und schauderhaft anzusehen war, so gingen seine dünnen Lippen auseinander und legten nicht nur seine Zähne, sondern auch das Zahnfleisch blos, und es bildete sich dann um seine Nase eine grimmige Falte. Für gewöhnlich hatte er also den Typus einer Dogge, und wenn er lachte, den eines Tigers. Sein Schädel war klein, die Kinnbacken stark entwickelt, die Haare verdeckten die Stirn und reichten bis zu den Augenbrauen. Dazu zwischen den Brauen stetige, sternförmige Runzeln, undeutlich sichtbare Augen, ein fest zusammengekniffner Mund und eine grimmige Kommandomiene.

Den Charakter dieses Menschen bestimmten zwei sehr einfache und eigentlich sehr lobenswerte Gefühle, die er indessen übertrieb und beinah in ihr Gegenteil verkehrte: Achtung vor der Obrigkeit und Haß gegen jedwede Rebellion, und zwar waren in seinen Augen Diebstahl, Mord, überhaupt alle Verbrechen Rebellion, Auflehnung gegen die Obrigkeit. Alles, was irgend ein Amt im Staate bekleidete, war für ihn ein Gegenstand blinder Verehrung und felsenfesten Zutrauens. Dagegen kannte er nur Verachtung, Haß und Abscheu gegen Alles, was einmal die Schwelle der Legalität überschritten hatte. Ausnahmen von diesen Regeln ließ er nicht zu. Eines Theils sagte er: »Der Beamte kann sich nicht irren; der Richter hat nie Unrecht.« Andrerseits behauptete er: »Diese sind unrettbar dem Bösen verfallen. Nichts Gutes ist mehr von ihnen zu hoffen.« Er huldigte also der extremen Ansicht, das Gesetz besitze die Kraft, zu bewirken oder, wenn man lieber will, nachzuweisen, daß gewisse Menschen der Verdammniß verfallen seien; er war ein herber Stoiker, ein finsterer Träumer, ein zugleich demütiger und hochmütiger Fanatiker. Sein Blick glich einem Bohrer, so kalt und stechend war er. Den Inhalt seines Lebens bildeten zwei Worte: wachen und aufpassen. Was es auf der Welt Verschlungenstes giebt, wollte er gerade machen. Er besaß die innige Ueberzeugung, daß er dem Gemeinwohl nützte, Begeisterung für seinen Beruf und spionierte mit demselben gewissenhaften Eifer, der den Priester bei der Ausübung seines Amtes beseelt. Wehe dem, der ihm in die Hände fiel! Er hätte seinen Vater arretiert, wenn er ihn auf der Flucht aus dem Zuchthaus ertappt, und seine Mutter denunziert, wenn sie sich der polizeilichen Aufsicht hätte entziehen wollen. Und zwar mit jener inneren Befriedigung, die nur das Bewußtsein der erfüllten Pflicht gewährt. Dabei ein Leben voller Entbehrungen, kein geselliger Verkehr, Selbstverleugnung, Enthaltsamkeit, nie eine Zerstreuung. Er war die Fleisch gewordene, unerbittliche Pflicht und spartanische Rechtschaffenheit, ein mit einem Vidocq gepaarter Brutus.

Javerts ganze persönliche Erscheinung ließ einen Menschen ahnen, dessen Amt es ist, aufzulauern. Die Mystiker der Richtung Joseph de Maistre, die dazumal die ultraroyalistischen Zeitungen mit hoher Kosmogonie versorgte, würden Javert ein Symbol genannt haben. Man sah nicht seine Stirn, denn sie versteckte sich unter seinem Hut; nicht seine Augen, weil sie durch die Brauen beschattet waren; nicht sein Kinn, denn es verkroch sich hinter seinem Halstuch; nicht seine Hände, die sich in die Aermel zurückgezogen hatten; nicht seinen Stock, denn er trug ihn unter dem Rock verborgen. Kam aber die richtige Gelegenheit, so tauchte plötzlich aus all dem Schatten, wie aus einem Hinterhalt, eine eckige, schmale Stirn, ein unheimliches Augenpaar, ein grimmig energisches Kinn, ein Paar furchtbare Hände und ein fürchterlicher Knüttel.

In seinen seltenen Mußestunden las er, so wenig er ein Freund von Büchern war, und so kam es, daß er nicht ganz ungebildet war. Dies machte sich auch in seiner Sprechweise bemerklich.

Wie gesagt, er hatte kein Laster. War er einmal zufrieden mit sich, so gestattete er sich eine Prise Tabak. Dies war die einzige Schwäche, die er mit der übrigen Menschheit gemein hatte.

Demnach wird es begreiflich sein, daß Javert der Schrecken aller Vagabunden und sogenannten dunklen Existenzen war. Man konnte sie mit seinem Namen in die Flucht schlagen; tauchte sein Gesicht plötzlich vor ihnen auf, so waren sie wie versteinert.

So war der Mensch beschaffen, der beständig seine argwöhnischen Augen auf Madeleine gerichtet hielt. Dieser merkte es wohl, schien aber der Sache keine besondere Beachtung zu schenken. Er stellte Javert nicht zur Rede, suchte ihn nicht auf und ging ihm nicht aus dem Wege, ertrug den unangenehmen und lästigen Blick ohne Verdruß. Er sprach mit Javert wie mit jedem Andern, ungezwungen und freundlich.

Aus einigen Aeußerungen, die Javert entschlüpft waren, konnte man entnehmen, daß er, mit der halb instinktiven Neugierde der Leute seines Berufs, dem Vorleben Vater Madeleine's nachgeforscht hatte. Er schien zu wissen und sagte unter der Blume, Jemand habe an einem gewissen Ort, über eine gewisse, verschwundene Familie Erhebungen angestellt. Einmal passirte es ihm, daß er im Selbstgespräch laut sagte: »Jetzt, glaub' ich, weiß ich Bescheid.« Darauf blieb er drei Tage lang in tiefes Sinnen verloren und sprach kein Wort. Der Faden, den er schon in der Hand zu halten meinte, war wohl gerissen.

Uebrigens – wir korrigieren hiermit, was manche unserer Ausdrücke zu schroff ausdrücken können – hat ein menschliches Wesen keine Eigenschaft, die es wahrhaft unfehlbar machen könnte, und es liegt eben in der Natur des Instinkts, daß er sich irre machen und vom rechten Wege ablenken lassen kann. Sonst wäre er ja dem Verstände überlegen und das Thier wäre einer höheren Einsicht theilhaftig, als der Mensch.

Javert war offenbar durch Madeleine's vollständig unbefangenes und ruhiges Wesen etwas aus der Fassung gebracht.

Dennoch schien sein sonderbares Benehmen eines Tages auf Madeleine Eindruck zu machen. Nämlich bei folgender Gelegenheit.

VI.
Vater Fauchelevent

Eines Morgens kam Madeleine in eine ungepflasterte Straße der Stadt. Da hörte er Lärm und sah in einiger Entfernung einen Auflauf. Er eilte hin. Es war da ein Pferd gestürzt und der Lenker, ein alter Mann, Vater Fauchelevent genannt, unter seinen Wagen zu liegen gekommen. Dieser Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Madeleine damals noch hatte. Zur Zeit, wo Dieser nach Montreuil-sur-Mer kam, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Gerichtsschreiber, ein Geschäft, das schlecht zu gehen anfing. Er hatte nun mit ansehen müssen, wie Madeleine, ein gewöhnlicher Arbeiter, reich wurde, während es mit ihm, der einen Titel, »Meister«, hatte, bergab ging. Das hatte ihn mit Neid erfüllt, und er that seitdem bei jeder Gelegenheit sein Möglichstes, um Madeleine zu schaden. Zuletzt war der Bankerott gekommen und, alt wie er war, ohne Mittel, abgesehen von einem Pferde und einem Wagen, ohne Familie, ohne Kinder, war er, um sich sein bischen Brot zu verdienen, Fuhrmann geworden.

Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und konnte nicht aufstehen. Der Alte lag zwischen den beiden Rädern und so unglücklich war er gefallen, daß der ganze, schwer beladene Wagen mit seiner vollen Wucht auf ihm lastete. Der Arme stöhnte, daß es zum Erbarmen war. Ein Versuch, ihn hervorzuziehen, war mißglückt, und es blieb, um ihn zu retten, kein anderes Mittel übrig, als daß der Wagen von unten in die Höhe gehoben werden mußte. Aus diesem Grunde hatte denn auch schon Javert, der gleich zu Anfang der Katastrophe hinzugekommen war, Leute nach einer Wagenwinde geschickt.

Da kam Madeleine herzu. Alle traten achtungsvoll bei Seite.

»Hülfe! Hülfe!« jammerte Fauchelevent. »Wer hat Erbarmen mit einem armen Alten?«

Madeleine wandte sich an die Anwesenden mit der Frage:

»Ist eine Wagenwinde zur Hand?«

»Es sind Welche gegangen und wollen eine holen«, antwortete ein Bauer.

»Wieviel Zeit gehört dazu?«

»Sie haben's nicht weit, blos bis nach Flachot, da ist ein Hufschmied; aber eine gute Viertelstunde wird's wohl dauern.«

»Um Gottes Willen! Eine Viertelstunde!« rief entsetzt Madeleine.

Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war aufgeweicht, der Karren sank allmählig immer tiefer ein und drückte immer schwerer auf die Brust des Greises. Noch ehe fünf Minuten vergangen waren, mußten seine Rippen brechen.

»Eine Viertelstande darf nicht gewartet werden!« hob Madeleine wieder an.

»Man wird wohl müssen!«

»Aber dann ist's zu spät. Seht Ihr nicht, daß der Wagen in den Boden einsinkt?«

»Nun freilich! Aber –«

»Hört mal. Es ist noch so viel Platz unter dem Wagen, daß ein Mann hinunterkriechen und ihn mit dem Rücken hochheben kann. Eins halbe Minute, während der Zeit kann der arme Mensch vorgezogen werden. Ist unter Euch Einer der ein starkes Kreuz und Courage hat? Fünf Louisd'or soll er bekommen!«

Niemand rührte sich.

»Zehn Louisd'or!« rief Madeleine.

Alle schlugen die Augen nieder, und Einer bemerkte:

»Der müßte verteufelt stark sein. Und zu Brei gequetscht kann man dabei auch werden.«

»Vorwärts!« rief Madeleine wieder. »Zwanzig Louis'dor!«

Abermaliges Stillschweigen.

»Am guten Willen fehlt's ihnen nicht!« rief plötzlich eine Stimme.

Madeleine wandte sich um und erkannte Javert, den er bisher nicht bemerkt hatte.

Javert fuhr fort.

»An Kraft fehlt's ihnen. Es gehört ein fürchterlicher Kerl dazu, solch einen Wagen mit dem Rücken hoch zu heben.«

Bei diesen Worten sah er Madeleine schärfer an und fuhr mit besonderer Betonung fort:

»Herr Madeleine, ich habe in meinem Leben nur einen Menschen gekannt, der solch ein Kraftstück leisten konnte.«

Madeleine fuhr zusammen, worauf Javert, ohne ein Auge von Madeleine zu verwenden, und mit nachlässigem Tone hinzufügte:

»Es war ein Galeerensklave.«

»Ach!« machte Madeleine.

»In Toulon.«

Madeleine wurde blaß.

Währenddem sank der Wagen langsam immer tiefer, und Fauchelevent stöhnte und schrie:

»Ich ersticke! Meine Rippen brechen! Eine Winde! Oder was Andres! O–h!«

Madeleine sah sich abermals im Kreise um.

»Also Niemand will zwanzig Louis'dor verdienen und dem Armen das Leben retten?«

Keiner der Umstehenden rührte sich, und Javert wiederholte:

»Ich habe in meinem Leben nur einen Menschen, einen Zuchthäusler, gekannt, der eine Winde ersetzen konnte.«

»Ich kann's nicht länger aushalten!« lamentirte der Alte.

Madeleine hob den Kopf, begegnete dem Blicke Javerts, der sein Falkenauge auf ihn geheftet hielt, sah die Bauern an, die unbeweglich da standen, und lächelte schwermüthig. Dann ließ er sich, ohne ein Wort zu sprechen, auf die Knie nieder und kroch, ehe die Menge Zeit gehabt hatte, auch nur einen Schrei auszustoßen, unter den Wagen.

Ein banger Augenblick, wo Alles den Athem anhielt, erfolgte.

Zweimal versuchte Madeleine, die Kniee den Ellbogen zu nähern. »Vater Madeleine!« riefen die Zuschauer. »Lassen Sie das!« Sogar der alte Fauchelevent sagte: »Herr Madeleine, es geht nicht. Es ist einmal bestimmt, daß ich jetzt sterben muß. Gehen Sie fort und lassen Sie Sich nicht auch zermalmen!«

Madeleine erwiderte Nichts.

Die Umstehenden keuchten vor Angst. Schon waren die Räder so tief eingesunken, daß Madeleine kaum noch unter dem Wagen hervorkonnte.

Plötzlich erzitterte die gewaltige Last, der Wagen stieg langsam in die Höhe und die Räder wurden zur Hälfte frei.

»Beeilt Euch!« stöhnte Madeleine mit schwacher Stimme. Sie griffen tapfer zu. Das gute Beispiel, mit dem Einer voranging, hatte Allen Kraft und Muth eingeflößt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.

Madeleine richtete sich empor. Er sah leichenblaß aus, obgleich er von Schweiß triefte. Seine Kleider waren zerrissen und mit Koth bedeckt. Alle weinten. Der Gerettete küßte ihm die Kniee und nannte ihn seinen Gott. Auf Madeleine's Antlitz aber lag ein unbeschreiblicher Ausdruck tiefen Wehes und himmlischer Befriedigung, während er sein ruhiges Auge auf Javert richtete, der ihn noch immer unverwandt ansah.

VII.
Fauchelevent kommt als Gärtner nach Paris

Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturze die Kniescheibe ausgerenkt. Vater Madeleine ließ ihn daher nach dem Lazareth bringen, das er für seine Arbeiter in dem Fabrikgebäude eingerichtet hatte, und wo zwei barmherzige Schwestern angestellt waren. Am folgenden Morgen fand der Alte auf seinem Nachttisch einen Tausendfrankenschein, mit einem Zettel von Madeleine, worauf geschrieben stand: »Ich kaufe Ihnen Ihren Wagen und Ihr Pferd ab.« NB., das Fuhrwerk war entzwei, und das Pferd war tot. Fauchelevent wurde wieder gesund, aber sein Knie blieb steif. Madeleine verschaffte ihm, mit Hülfe der barmherzigen Schwestern und seines Pfarrers, eine Anstellung als Gärtner in einem Frauenkloster in dem Quartier Saint-Antoine zu Paris.

Dies geschah kurze Zeit, bevor Madeleine zum Bürgermeister ernannt wurde. Als Javert ihn zum ersten Mal mit der Schärpe, dem Abzeichen seiner hohen Würde, erblickte, fuhr er zusammen, etwa wie eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wittert. Von diesem Augenblick an vermied er es, so viel wie möglich, ihm zu begegnen. Zwangen ihn aber seine dienstlichen Pflichten, dem Herrn Bürgermeister unter die Augen, zu treten, so sprach er zu ihm in aller Ehrfurcht.

Die Hebung des Wohlstandes, die Montreuil-sur-Mer dem Vater Madeleine verdankte, gab sich, abgesehen von vielen augenfälligen Beweisen, durch ein Symptom kund, das wenig beachtet wurde, aber darum nicht minder bedeutsam war. Man kann mit Sicherheit Folgendes behaupten: Wenn die Bevölkerung Noth leidet, die Arbeit fehlt, der Handel darniederliegt, wehrt sich der Steuerzahler, läßt sich eine Frist nach der andern bewilligen, kommt schließlich seinen Verpflichtungen gar nicht nach und der Staat muß viel Geld verausgaben für die Eintreibung der Steuern und die Zwangsvollstreckungen. Wenn es dagegen viel Arbeit giebt, wenn viel Geld verdient wird, kostet die Einkassirung der Steuern dem Staat sehr wenig. Man darf also behaupten, daß sich die Noth und der Reichthum eines Landes mit einem unfehlbaren Thermometer leicht feststellen lassen, nämlich den Unkosten der Steuererhebung. Zu jener Zeit nun hatten, in dem Arrondissement Montreuil-sur-Mer, diese um drei Viertel abgenommen, so daß der damalige Finanzminister de Villèle dieses Arrondissement allen Andern als ein nachahmenswerthes Vorbild zitirte.

So günstig lagen die Verhältnisse, als Fantine nach ihrer Vaterstadt zurückkehrte. Niemand erinnerte sich ihrer. Glücklicher Weise stand ihr die Thür der Madeleine'schen Fabrik offen. Sie meldete sich und bekam in der Frauenwerkstätte einen Platz. Die Arbeit war ihr durchaus neu, und sie konnte, da sie nicht viel fertig brachte, auch nicht viel verdienen, aber was sie verdiente, reichte zum Leben aus, und das Ziel ihrer Wünsche war erreicht.

VIII.
Frau Victurnien giebt fünfunddreißig Franken für moralische Zwecke aus

Als Fantine sah, daß sie von ihrem Verdienst leben konnte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Welche Gnade des Himmels! Die Lust zur Arbeit kehrte wieder zurück. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich wieder an dem Anblick ihrer jugendlichen Miene, ihrer blonden Haare und weißen Zähne, vergaß Vieles, dachte fast nur noch an ihre Cosette und an die Möglichkeit einer besseren Zukunft; kurz, sie fühlte sich beinahe glücklich. Sie miethete ein kleines Zimmer und kaufte sich Möbel auf Kredit, denn diese Art Lüderlichkeit haftete ihr noch aus ihrer Vergangenheit an.

Da sie nicht sagen konnte, daß sie verheiratet sei, so hütete sie sich wohl ihres Töchterchens Erwähnung zu thun.

Indessen fiel es in der Werkstätte bald auf, daß sie »so viel Briefe schreiben ließ« und »fein thue.«

Niemand spürt so gut das Thun und Lassen seiner Nebenmenschen aus, als Diejenigen, die es nichts angeht. – »Warum kommt der Herr immer in der Dämmerstunde? Warum nimmt Herr So und So des Donnerstags immer seinen Schlüssel mit? Warum vermeidet er die Hauptstraßen? Warum steigt die gnädige Frau immer eine Strecke vor ihrem Hause aus der Droschke? Warum läßt sie sich besondres Briefpapier holen, während sie doch genug in ihrer Schreibmappe hat?« U. s. w. U. s. w. Manche Menschen vergeuden, um hinter derartige, ihnen übrigens völlig gleichgültige Geheimnisse zu kommen, mehr Geld, Zeit und Mühe, als zu zehn guten Handlungen nöthig sein würde; und zwar ohne irgend einen Zweck, zum Vergnügen, ohne andern Lohn für ihre Neugierde, als die Befriedigung dieser Neugierde. Sie schleichen diesem Herrn oder jener Dame Tage lang nach, stehen Stunden lang Schildwache an Straßenecken, unter Thorwegen, zu nachtschlafener Zeit, bei kaltem oder regnerischem Wetter, kneipen mit Droschkenkutschern und Lakaien, bestechen Dienstmänner, Kammerfrauen, Portiers. Wozu? Blos um etwas zu sehen, zu hören und auszuschnüffeln. Blos weil ihnen die Zunge juckt und sie Stoff zum Erzählen haben müssen. Und nicht selten zieht die Enthüllung solcher Geheimnisse schweres Unglück nach sich, Duelle, Fallissements, den Ruin ganzer Familien, allerdings zur großen Freude Derer, die »Alles entdeckt« haben, ohne Vortheil für sich und bloß zur Befriedigung eines Instinkts. Traurig!

Manche Menschen richten Schaden an, bloß weil sie dem Drange zu reden folgen müssen. Ihr Geschwätz gleicht gewissen Kaminen, die viel Holz verzehren. Diese Leute verbrauchen auch viel Brennmaterial, nämlich Menschenleben und Menschenglück.

In dieser Weise wurde auch Fantine beobachtet.

Außerdem war auch mehr als eine unter ihren guten Freundinnen neidisch auf ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne.

Es wurde konstatirt, daß sie während der Arbeit sich öfters bei Seite wandte, um verstohlen eine Thräne zu trocknen. Es waren dies Augenblicke, wo sie an ihr Kind oder vielleicht auch an den Mann, den sie geliebt hatte, dachte.

Fäden zu zerreißen, welche die Gegenwart mit einer düstern Vergangenheit verknüpfen, kostet dem Herzen viel Ueberwindung!

Fantinens gute Freundinnen brachten heraus, daß sie wenigstens zweimal monatlich an dieselbe Person schrieb und daß sie den Brief frankirte. Es gelang ihnen auch, sich die Adresse zu verschaffen. Sie lautete: An Herrn Thénardier, Gastwirth zu Montfermeil. Es wurde auch in der Kneipe der öffentliche Schreiber ausgeforscht, und es hielt nicht schwer, denn der alte Tropf gewann es nie über sich, Wein in seinen Magen zu gießen, ohne zugleich sein Hirn, das nun einmal nicht viel Geheimnisse, so wenig wie andere Dinge, zu fassen vermochte, gründlich auszupumpen. Kurz, man erfuhr, daß Fantine ein Kind hatte. »Nun natürlich! Das konnte man sich von vornherein sagen, daß an Der nicht viel dran war!« Zu guter Letzt fand sich dann noch eine gute Frau, die nach Montfermeil reiste, mit den Thénardiers sprach und nach Hause zurückgekehrt, triumphirte: »Es hat mir fünfunddreißig Franken gekostet, aber nun weiß ich doch, woran ich bin! Ich habe das Kind gesehen!«

Die Gevatterin, die diese Heldenthat fertig brachte, war eine Megäre, mit Namen Frau Victurnien, die sich als eine Hüterin der öffentlichen Moral aufspielte. Sie war sechsundfünfzig Jahr alt und noch weit häßlicher, als ihre Jahre eigentlich erlaubten. Dieses vermeckerte, alte Scheusal war merkwürdiger Weise auch einmal jung gewesen. In ihrer Jugend hatte sie 1793 einen Bernardiner Mönch geheirathet, der aus dem Kloster zu den Jakobinern übergegangen war. An diesen abtrünnigen Diener der Kirche, der ihr gegenüber mit Erfolg den »Herrn und Gebieter« in der energischsten Bedeutung dieser Formel hervorgekehrt hatte, dachte der heimtückische, boshafte, alte Sauertopf noch oft in süßem Weh, war aber unter der Restauration fromm geworden und zwar so entschieden, daß die Geistlichkeit ihr die Heirat mit dem Mönch verziehen hatte. Dafür erwies sie sich auch dankbar, indem sie ausposaunen ließ, sie habe einer religiösen Körperschaft ihr Vermögen hinterlassen. Diese Frau Victurnien also ging nach Montfermeil und meldete, sie habe das Kind gesehen.

Darüber ging natürlich Zeit hin. Fantine war beinahe ein Jahr in der Fabrik beschäftigt, als eines Morgens die Direktrice ihr im Namen des Herrn Bürgermeisters fünfzig Franken übergab und ihr sagte, für sie habe der Chef keine Arbeit mehr. Auch thäte sie gut daran, die Stadt zu verlassen.

Diese Kündigung erhielt sie gerade in dem Monat, wo die Thénardiers fünfzehn Franken Kostgeld, statt zwölf verlangten.

Es war ein Donnerschlag für Fantine. Sie konnte nicht die Stadt verlassen, weil sie ihre Miethe und das Geld für die Möbel schuldig geblieben war. Diese Schuld zu entrichten, dazu reichten fünfzig Franken nicht aus. Sie legte sich also auf's Bitten, aber die Direktrice bedeutete ihr, sie habe sofort die Werkstätte zu verlassen. Noch mehr durch die Schande, als durch die Verzweiflung niedergedrückt ging sie nach Hause. Ihr Fehltritt war also jetzt ruchbar geworden!

Sie hatte nicht mehr die Kraft, gegen ihr böses Geschick anzukämpfen. Man rieth ihr, sich an den Herrn Bürgermeister persönlich zu wenden, aber sie getraute es sich nicht. Der Herr Bürgermeister hatte ihr die fünfzig Franken gegeben, weil er gut, und er entließ sie, weil er gerecht war. Diesem Urteilsspruch unterwarf sie sich.

IX.
Was Frau Victurnien Schönes angerichtet hatte

Die Wittwe des Mönches war also doch zu etwas gut gewesen.

Denn Madeleine hatte von der ganzen Sache kein Sterbenswörtchen erfahren. Fantinens Entlassung war einfach das Ergebnis einer Verbindung von Umständen, wie deren im Leben sich so viel ereignen. Madeleine betrat nur selten den Frauensaal. Die Direktrice, ein altes Fräulein, die ihm der Pfarrer empfohlen hatte, war eine sehr achtbare, energische, gerechte, rechtschaffne Person, die ein gutes Herz hatte, aber nur zu geben, nicht auch zu begreifen und zu verzeihen verstand. Auf dieses Fräulein verließ sich Madeleine in allen Dingen. Müssen doch die besten Menschen oft sich vertreten lassen! Die Direktrice also hatte aus eigner Machtvollkommenheit und in der festen Ueberzeugung, daß sie recht thue, selber den Prozeß gegen Fantine eingeleitet und verhandelt, das Urtheil gesprochen und vollstreckt.

Die fünfzig Franken hatte sie einem Fonds entnommen, den ihr Madeleine anvertraute, zu Almosen und Unterstützungen für die Arbeiterinnen. Ueber die Verwendung dieses Geldes brauchte sie nicht Rechenschaft abzulegen.

Fantine versuchte zunächst in Kondition zu treten. Aber Niemand wollte sie nehmen. Sie hatte die Stadt nicht verlassen. Der Trödler, von dem sie ihre erbärmlichen Möbel hatte, drohte, sie arretieren zu lassen, wenn sie fortginge. Der Hauswirt, dem sie Miethe schuldig geblieben war, hatte gesagt: »Wenn man jung und hübsch ist, wie Sie, kann man seine Schulden bezahlen.« Sie vertheilte die fünfzig Franken zwischen dem Wirt und dem Trödler, gab einige Möbel wieder ab und behielt nur das Allernothwendigste, das Bett. Dann fing sie ohne Arbeit zu haben, ohne Stelle und mit hundert Franken Schulden, das Leben von Neuem an.

Zunächst nähte sie Soldatenhemden und verdiente damit zwölf Sous täglich, von denen sie zehn für ihre Tochter abgeben mußte. Deshalb begann sie jetzt auch mit ihren Zahlungen an Thénardier im Rückstande zu bleiben.

Andrerseits aber lehrte sie eine alte Frau, die ihr des Abends ihr Talglicht anzündete, die Kunst im Elend zu leben. Hat man gelernt mit Wenigem Haus zu halten, so weiß man darum noch nicht mit Nichts auszukommen. Diese beiden Lebensweisen gleichen zwei Kammern, von denen die eine nicht hell und die andre dunkel ist.

Fantine lernte, wie man im Winter ganz ohne Heizung fertig werden kann, wie man einen Vielfraß von Stubenvogel abschafft, dessen Unterhalt Einem täglich auf einen Pfennig zu stehen kommt, wie man einen Unterrock als Bettdecke und eine Bettdecke als Unterrock benutzt, wie man Talglichte spart, indem man seine Mahlzeiten bei dem Licht der Fenster vis à vis einnimmt. Es ist eben unglaublich, wie manche arme und ehrliche Leute, in Folge vieler Uebung, ein Stück Kupfergeld zu verwerten verstehen. Auch Fantine erwarb sich dieses schöne Talent und faßte wieder etwas Muth.

Zu der Zeit war es, wo sie zu einer Nachbarin sagte: »Es ist nicht so gefährlich: Wenn ich nur fünf Stunden schlafe und die übrige Zeit fleißig nähe, werde ich's schon dahin bringen, daß ich mir immer ein Stückchen Brod kaufen kann. Nicht genug, daß man davon satt wird. Aber glücklicher Weise ißt man weniger, wenn man Kummer hat. Also müßte es schaurig zugehn, wenn Einen die Sorgen und Brot zusammengenommen nicht satt kriegen sollten.«

In dieser Noth wäre es ein großer Trost gewesen, wenn sie ihr Töchterchen hätte bei sich haben können. Aber sollte sie auch die Kleine Entbehrungen aussetzen? Und wie das rückständige Geld aufbringen? Wie die Reisekosten erschwingen?

Die Alte, die ihr Unterricht in der Sparsamkeit ertheilte, war ein frommes Fräulein, die gegen die Armen und sogar auch gegen die Reichen gut war, und nicht einmal ihren Namen richtig schreiben konnte. Aber besaß sie nicht, da sie an Gott glaubte, die wahre Wissenschaft?

Solcher tief erniedrigter Tugenden giebt es viele hier auf Erden, aber sie werden erhöhet werden, denn auf dieses Leben folgt ein andres.

Anfänglich hatte Fantine vor Scham kaum gewagt, einen Fuß aus dem Hause zu setzen.

Wenn sie auf der Straße ging, fühlte sie, daß sich die Leute nach ihr umdrehten und mit Fingern auf sie wiesen. Jedermann starrte sie an, und Keiner grüßte. Diese Verachtung aber empfand sie wie einen eisigen Windhauch, der sie bis in's Mark durchschauerte.

In den kleinen Städten ist ein gefallenes Mädchen wehrlos gegen den allgemeinen Hohn, gegen die unverschämte Neugierde. In Paris dagegen, wo Keiner den Andern kennt, kann man sich leicht verstecken. O, wie gern wäre sie nach Paris gegangen. Aber ach –!

Sie mußte sich also, wohl oder übel, an die allgemeine Mißachtung gewöhnen, so wie sie ja auch das Elend ertragen gelernt hatte. Allmählich fand sie sich auch hinein. Nach zwei, drei Monaten schüttelte sie die Scham ab und ging aus, als wenn nichts gewesen wäre. »Ist mir ganz egal!« sagte sie, kam und ging mit aufgerichtetem Kopfe, ein bittres Lächeln um die Lippen, und war sich bewußt, daß sie anfing frech zu werden.

So sah Frau Victurnien sie bisweilen von ihrem Fenster aus, bemerkte das Elend »des Geschöpfes«, das sie »in die Schranken gewiesen«, und wünschte sich Glück zu dieser guten That. Die schlechten Menschen sind eben auch fähig Glücksgefühle zu empfinden.

Das Uebermaß der Arbeit schadete Fantinens Gesundheit; sie hüstelte, und dies Leiden nahm allmählich zu. »Fühlen Sie doch, wie warm meine Hände sind!« sagte sie bisweilen zu ihrer Nachbarin.

Wenn sie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochnen Kamm durch ihre schönen seidenweiche Haare fuhr, empfand sie doch eine stille Freude.

X.
Weitere Erfolge der Frau Victurnien

Sie war gegen das Ende des Winters entlassen worden; der Sommer verging, aber der Winter kam wieder. Kürzere Tage, weniger Arbeit. Im Winter keine Wärme, kein Licht, kein Mittag, Abend und Morgen liegen nicht weit auseinander, Nebel, die Fenster sind zugefroren oder beschlagen und man sieht nicht hell. Der Himmel läßt nicht mehr Licht hindurch, als ein Kellerfenster in ein Souterrain. Schreckliche Jahreszeit! Der Winter versteinert das Wasser des Himmels und das Herz des Menschen. Fantinens Gläubiger ließen ihr keine Ruhe.

Sie verdiente zu wenig, so daß ihre Schulden zunahmen. Die Thénardiers, denen das Kostgeld nicht regelmäßig zuging, schrieben Briefe über Briefe, deren Inhalt sie betrübte und kränkte, und deren Porto in's Geld lief. Eines Tages theilten sie ihr mit, Cosette habe keine Kleider mehr, sie brauche allerwenigstens ein wollnes Röckchen bei der Kälte, das nicht unter zehn Franken zu haben sein würde. Diesen Brief trug sie den ganzen Tag in der Hand herum. Am Abend ging sie zu dem Barbier, der an der Ecke wohnte, und zog den Einsteckkamm aus ihrer Frisur heraus, so daß ihr üppiges blondes Haar bis zu den Hüften herniederwallte.

»Schöne Haare!« rief der Barbier.

»Wieviel wollen Sie mir dafür geben?«

»Zehn Franken.«

»Gut.«

Für das Geld kaufte sie ein Tricotkleidchen und schickte dies den Thénardiers.

Diese geriethen in keine geringe Wuth. Sie hatten Geld haben wollen. Sie gaben das Kleid ihrer Eponine, und die arme Lerche war nach wie vor den Unbillen der Winterzeit ausgesetzt.

Fantine dachte: »Mein Kind friert nicht mehr. Ich habe sie mit meinen Haaren bekleidet.« Sie trug nun, ihren geschornen Kopf zu verhüllen, ein rundes Häubchen und sah auch so noch niedlich aus.

Unterdessen vollzog sich in Fantinens Herzen eine unheimliche Verwandlung. Sie empfand, als sie sich nicht mehr ihrer schönen Haare erfreute, einen wüthenden Haß gegen Alles, was sie umgab. Sie hatte lange Zeit die Verehrung Aller für Vater Madeleine getheilt; allein indem sie sich fortwährend wiederholte, daß er sie ihres Broderwerbes beraubt habe und an ihrem Unglück schuld sei, lernte sie auch ihn, ihn ganz besonders hassen. Sie lachte und sang, wenn sie an der Fabrik vorbeikam, und die Arbeiter vor der Thür standen, ihnen zum Trotz.

»Die nimmt ein schlechtes Ende!« bemerkte einst eine alte Arbeiterin, als sie Fantine bei diesem Gebahren beobachtete.

Schließlich nahm Fantine sich einen Liebsten, den ersten Besten, einen Mann, aus dem sie sich nichts machte, um die öffentliche Meinung herauszufordern, mit wilder Wuth im Herzen. Es war ein Taugenichts, ein Bettelmusikant, ein Faulpelz, der sie prügelte und sie bald überdrüssig bekam.

Aber sie liebte ihr Kind und, je tiefer sie sank, je düstrer Alles um sie wurde, desto heller erstrahlte in ihrem Herzen das Bild ihres süßen Engelchens. Dann dachte sie: »Wenn ich mal reich bin, lasse ich meine Cosette kommen«, und freute sich. Der Husten nahm nicht ab, und ihr Rücken bedeckte sich oft mit Schweiß.

Eines Tages erhielt sie von den Thénardiers einen Brief folgenden Inhalts: »Cosette hat eine Krankheit, die jetzt hier in der Gegend umgeht. Ein sogenanntes Frieselfieber. Die Arznei kostet viel Geld, und wir haben's nicht dazu. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig Franken schicken, ist es um die Kleine geschehen.«

Sie lachte wild auf und sagte zu ihrer alten Nachbarin: »Die sind gut! Vierzig Franken! Weiter nichts! Zwei Napoleond'or! Wo soll ich die denn hernehmen? Nein, was diese Bauern dumm sind!«

Indessen ging sie auf die Treppe, an eine Luke, und las den Brief noch einmal über.

Dann eilte sie die Treppe hinunter und lief springend, tanzend und immerzu lachend die Straße entlang.

Ein Bekannter begegnete ihr und fragte sie: »Was ist Ihnen denn passirt, daß Sie so vergnügt sind?«

Sie antwortete: »Ich lache über einen dummen Brief, den mir Leute vom Lande geschrieben haben. Denken Sie, die Schafsköpfe von Bauern wollen vierzig Franken von mir haben!«

Als sie über den Platz ging, sah sie eine große Menschenmenge um einen auffallenden Reklamewagen, auf dem ein roth gekleideter Mann stand und eine Rede hielt. Es war ein Quacksalber, der dem Publikum Gebisse, Opiate, Pulver und Elixire zum Kauf anbot.

Fantine mischte sich unter die Menge und lachte wie die Andern über den Redner, der, um dem Pöbel sowohl, wie den Gebildeten unter seinen Zuhörern gerecht zu werden, kunstvoll die kanaillösesten Ausdrücke mit großartig wissenschaftlichem Quatsch durch einander mengte. Der Zahnausreißer bemerkte sie bald mit seinen geübten Augen und rief ihr zu: »Sie da, Sie hübsche Kleine, wenn Sie mir Ihre zwei obern Schneidezähne verkaufen wollen, gebe ich Ihnen einen Napoleond'or für jeden.«

»Pfui, wie abscheulich!« rief Fantine.

»Zwei Napoleond'or!« brummte eine zahnlose Alte neben ihr. »Hat die ein Glück!«

Fantine lief davon und hielt sich beide Ohren zu, um nicht die heisre Stimme des Quacksalbers zu hören, der ihr nachschrie: »Ueberlegen Sie Sich die Sache, schöne Kleine! Zwei Napoleond'or sind nicht zu verachten. Wenn Ihnen mein Vorschlag zusagt, so kommen Sie heute Abend in die Herberge zum silbernen Schiff.«

Fantine rannte nach Hause und erzählte wüthend ihrer Nachbarin, was ihr passirt war. – »Was sagen Sie dazu? Ist so was nicht scheußlich? Wie kann blos die Obrigkeit solche Leute im Lande herumziehen lassen? Meine Vorderzähne ausziehen! Wie würde ich dann aussehen? Haare wachsen wieder, aber Zähne –! Solch ein Scheusal von Mensch! Da würde ich mich lieber fünf Stock hoch aus einem Fenster kopfüber auf das Pflaster stürzen. Heute Abend, sagte er, würde er in der Herberge zum silbernen Schiff zu treffen sein.«

»Wieviel hat er Ihnen denn geboten?« fragte Margarete.

»Zwei Napoleond'or.«

»Das macht vierzig Franken.«

»Jawohl, vierzig Franken.«

Sie wurde nachdenklich, und machte sich an ihre Arbeit. Nach Verlauf einer Viertelstunde, stand sie auf und las den Brief der Thénardiers noch einmal auf der Treppe.

Als sie zurückkam, fragte sie Margarete, die neben ihr arbeitete:

»Was ist denn das, ein Frieselfieber? Wissen Sie's?«

»O ja! Eine Krankheit.«

»Da braucht man viel Arznei?«

»Gehörig viel!«

»Wo kommt denn das her?«

»Es ist eine Krankheit, die man so unversehens kriegt.«

»Das kriegen also die Kinder?«

»Besonders die Kinder!«

»Kann ein Kranker daran sterben?«

»O, ganz gut!« meinte Margarete.

Fantine stand auf und las den Brief noch einmal auf der Treppe.

Am Abend ging sie aus dem Hause und lenkte ihre Schritte der Pariser Straße zu, wo die Herbergen liegen.

Und als am nächsten Morgen Margarete vor Tagesanbruch – denn sie arbeiteten immer zusammen, um ein Talglicht zu ersparen – sich in Fantinens Zimmer einfand, saß Fantine bleich und halb erfroren auf ihrem Bett. Sie hatte sich nicht schlafen gelegt. Ihre Haube war auf ihre Kniee herabgefallen. Das Licht hatte die ganze Nacht gebrannt, und es war nur noch ein Stümpfchen davon übrig.

Margarete blieb halb versteinert vor Schrecken über die großartige Verschwendung und rief.

»Herr des Himmels! das Licht ist ja niedergebrannt! Was ist denn hier passirt?«

Dann blickt sie Fantine an, die ihren kurzhaarigen Kopf ihr zugewendet hielt. Die Unglückliche sah zehn Jahre älter aus, als den Tag zuvor.

»Herr, erbarme dich!« rief Margarete. »Was fehlt Ihnen, Fantine?«

»Nichts. Im Gegenteil. Mir ist wohl zu Muthe. Meine Cosette wird nicht aus Mangel an Arznei an der abscheulichen Krankheit sterben.«

Bei diesen Worten zeigte sie ihrer Freundin zwei Napoleond'or, die auf dem Tische lagen.

»Gott des Erbarmens! Das ist ja ein ganzes Vermögen? Wo haben Sie denn die Goldstücke her?«

»Ich habe sie bekommen,« antwortete Fantine.

Bei diesen Worten lächelte sie, ein blutiges Lächeln. Denn die Mundwinkel waren mit röthlichem Speichel benetzt, und in ihrem Oberkiefer sah man eine schwarze Lücke.

Die beiden Oberzähne waren ausgezogen.

Sie schickte die vierzig Franken nach Montfermeil. Im Uebrigen aber war Cosette nicht krank, und die Thénardiers hatten den Kniff gebraucht, um sich Geld zu verschaffen.

Alsdann warf Fantine ihren Spiegel zum Fenster hinaus. Aus ihrem Zimmerchen in einem zweiten Stock hatte sie sich schon längst in eine Dachstube geflüchtet, deren Fußboden mit der Decke in einem spitzen Winkel zusammengrenzte, und wo sie sich alle Augenblicke den Kopf stieß. Eine Bettstelle hatte sie nicht mehr, es war ihr nur ein großer Lumpen geblieben, den sie ihre Decke betitelte, ferner eine Matratze, die auf der bloßen Erde lag, und ein Stuhl, dessen Strohsitz entzwei war. In einer Ecke stand noch ein Blumentopf, aber der Rosenstrauch darin war verdorrt. In einer andern Ecke sah man auch einen als Wasserbehälter benutzten Buttertopf, an dessen Innenfläche sich verschiedene Eisringe gebildet hatten. Hatte sie schon längst alle Scham verloren, so verlernte sie jetzt, auch auf ihr Aeußeres etwas zu geben und sank bald zur Schlumpe herab. Sie trug auf der Straße schmutzige Hauben, besserte aus Mangel an Zeit oder aus Gleichgiltigkeit ihre Wäsche nicht mehr aus, flickte ihr altes, abgenutztes Corset mit Kattunlappen, die bei jeder Bewegung wieder abrissen. Ihre Gläubiger bereiteten ihr öffentliche Auftritte und drangsalirten sie auf jede Weise. Sie lauerten ihr auf der Straße, auf der Treppe auf. Sie weinte und grübelte ganze Nächte hindurch. Ihre Augen glänzten grell und immer greller, und oben am linken Schulterblatt meldeten sich Schmerzen, die nicht weggehen wollten. Auch hustete sie immer stark. Sie arbeitete siebzehn Stunden jeden Tag, aber ein Unternehmer, der über billige Gefängnißarbeit verfügte, machte den andern Fabrikanten so starke Konkurrenz, daß der Arbeitslohn auf neun Sous herunterging. Neun Sous für siebzehn Stunden Arbeit! Nun peinigten sie ihre Gläubiger nur noch erbarmungsloser. Der Trödler namentlich, der ihr fast alle Möbel wieder abgenommen, zeterte fortwährend: »Wann wirst Du mich bezahlen, Du Kanaille, Du?« Was wollten sie denn eigentlich von ihr? So verängstigt wurde sie, daß sie in ihrem Wesen einem gehetzten Wild zu gleichen begann. Schließlich kündete ihr der schuftige Thénardier an, er habe in seiner Gutmüthigkeit nun wirklich zu lange gewartet, und sie müsse ihm umgehend hundert Franken schicken; sonst würde er Cosette, so schwach sie noch von ihrer Krankheit wäre, auf die Straße setzen und würde sich nicht daran kehren, was bei der Kälte aus ihr werden würde: seinetwegen könne sie krepiren. – »Hundert Franken!« dachte Fantine. »Wie macht man's denn, wenn man hundert Sous täglich verdienen will?«

»Nun, dann muß ich das Einzige verkaufen, was mir noch übrig bleibt.«

Und die Unglückliche warf sich der Prostitution in die Arme.

XI.
»Christus hat uns befreit.«

Was lehrt uns Fantinens Lebensgeschichte? Wie die Gesellschaft sich eine Sklavin kauft.

Von wem? Von dem Elend.

Von dem Hunger, der Kälte, der Vereinsamung, der Noth. Jammervoller Handel. Eine Menschenseele für ein Stück Brod.

Jesu Christi heiliges Gesetz beherrscht unsere Zivilisation, durchdringt sie aber noch nicht. Es wird behauptet, die Sklaverei sei aus der europäischen Kulturwelt verschwunden. Das ist nicht richtig. Noch existirt sie, lastet aber nur noch auf den Frauen, und nennt sich die Prostitution.

Lastet auf den Frauen, d. h. auf der Anmuth, Schwäche, Schönheit, auf dem Mutterthum, zur größten Schande des Mannes.

In demjenigen Stadium, das Fantinens Elendsdrama jetzt erreicht hat, bleibt von dem, was sie einst gewesen ist, nichts mehr übrig. Nun sie gemein ist, wie der Koth, ist sie empfindungslos geworden, wie Marmor, kalt für jeden, der sie berührt. Wem sie sich hingegeben, den vergißt sie sofort: Die Schande ist keiner Liebesgluth, keiner Zärtlichkeit fähig. Das Leben, die Welt, die Gesellschaft haben ihr gegenüber ihr letztes Wort gesagt. Was ihr nun noch widerfahren wird, gleicht dem, was ihr schon widerfahren ist. Sie hat Alles ertragen, Alles durchgekostet, Alles erduldet, Alles verloren, Alles beweint. Sie hat jetzt eine Geduld, die der Gleichgiltigkeit so ähnlich sieht, wie der Tod dem Schlafe. Sie flieht, sie fürchtet sich vor nichts mehr. Ob Ströme Wassers aus den Wolken, ob der Ocean über sie hereinbricht, ihr ist es gleich: Sie ist wie ein Schwamm, der vollständig mit Wasser gesättigt ist.

Wenigstens lebt sie dieses Glaubens, aber den Brunnen des Schicksals kann man nicht ausschöpfen, nicht bis auf seinen Grund niedertauchen.

Warum werden doch solche Unglücklichen so wehr- und hilflos herumgeworfen? Was ist der Zweck ihres Daseins?

Das weiß nur der, der alle Finsterniß durchschaut, der Einzige in seiner Art, Gott.

XII.
Wie Herr Bamatabois sich amüsirte

In allen Kleinstädten, also auch in Montreuil-sur-Mer, giebt es junge Leute, die bei einem Einkommen von fünfzehn Hundert Franken jährlich ein Leben führen, wie Ihresgleichen in Paris bei zweimal Hunderttausend; ein Zwittergeschlecht, die aller moralischen Energie, alles mannhaften Ehrgefühls bar, auf Kosten der Gesamtheit lebt. Diese auf ihr Landgut und ihr bischen Verstand eingebildeten Menschen, die in einem feinen Salon sich wie flegelhafte Junker benehmen würden, halten sich in der Kneipe für Edelleute; sprechen von »ihren« Wiesen, »ihren« Forsten, »ihren« Leuten, pfeifen Schauspielerinnen aus zum Beweise, daß sie gute Kunstrichter sind; suchen Händel mit Offizieren, um Zeugniß abzulegen von ihrer Courage; gehen auf die Jagd, rauchen, gähnen, trinken, spielen Billard, leben in der Kneipe, speisen im Restaurant, halten sich einen Hund und eine Liebste, knausern bei Allem, suchen modischer zu sein, als die feinsten Modeherrn, bewundern die Tragödie, verachten die Frauen, ahmen London nach Pariser Vorbildern, und Paris nach Vorbildern aus Pont à Mousson nach, werden im Alter Trottel, arbeiten nicht, sind zu nichts nütze und stiften nicht viel Schaden an.

Solch ein Mensch würde auch Felix Tholomyès geworden sein, wenn er in seiner Provinz geblieben und nie nach Paris gekommen wäre.

Wären dergleichen Leute reicher, so würde es von ihnen heißen: »Gigerl!« Wären sie ärmer, so würde man sie arbeitsscheues Gesindel schimpfen. Es sind aber ganz einfach Leute, die nichts zu thun haben. Unter ihnen befinden sich Langweilige und Gelangweilte, Träumer und einige Schurken.

Zu jener Zeit bestand ein Gigerl aus einem Halskragen, einem dito Halstuch, einer Uhr nebst Gehänge, drei Westen, von denen die rothe und blaue von der andern bedeckt waren, einem olivenfarbigen Rock mit kurzer Taille und Schwalbenschwanz, zwei dicht aneinander bis an die Schulter emporsteigenden Reihen von Knöpfen und einem dito olivenfarbigen, aber etwas helleren Paar Beinkleidern, über deren Längsnähte Querstreifen in ungerader Zahl, einer bis höchstens elf, liefen. Dazu Stiefel mit Eisen am Hacken, ein hoher Cylinderhut mit schmaler Krämpe, gekräuselte Haare, ein gewaltiger Spazierbaum und eine mit minderwerthigen Kalauern gewürzte Rede. Das Ganze war dann noch mit Sporen und einem Schnurrbart geschmückt. Der Schnurrbart bekundete, daß man ein feiner Mann, und die Sporen, daß man ein Fußgänger war.

Die Gigerln in der Provinz trugen natürlich längere Sporen und grimmigere Schnurrbärte, als ihre Pariser Geistesverwandten.

Damals lagen die südamerikanischen Republiken, die sich unabhängig machen wollten, im Kampfe gegen den König von Spanien. Hie Bolivar! Hie Morillo! Die Royalisten kennzeichneten sich demgemäß durch schmalkrämpige Hüte oder Morillos; die Freiheitsfreunde dagegen prangten in breitkrämpigen oder Bolivars.

Acht bis zehn Monate also nach den weiter oben erzählten Ereignissen, in den ersten Tagen des Januar 1823, an einem Abend, wo es geschneit hatte, leistete sich ein Gigerl, ein Müßiggänger, ein »Gutgesinnter« mit einem Morillo und einem großen Mantel das Vergnügen, ein Frauenzimmer zu foppen, das, in einem dekolletirten Ballkleid und mit Blumen in den Haaren, sich vor dem Café der Offiziere herumtrieb. Selbstredend rauchte unser Gigerl, denn diese Mode griff damals stark um sich.

Jedesmal, wenn das Frauenzimmer an ihm vorbeikam, blies das Gigerl eine Rauchwolke aus seiner Cigarre nach ihr hin und uzte sie mit Reden, die ihm geistreich und lustig vorkamen: »Nein, bist Du häßlich!« »Du hast ja keine Zähne!« u. s. w. Der Herr hieß Bamatabois. Das Opfer seiner Bosheit tappte über den Schnee hin und her, antwortete ihm nicht, sah ihn nicht einmal an, und vollzog stillschweigend, mit schauerlicher Regelmäßigkeit ihren Spaziergang, der sie alle fünf Minuten unter das Witzfeuer ihres Feindes führte, wie ein Soldat, der Spießruthen läuft. Die Wirkungslosigkeit seiner Späße verdroß den Müßiggänger. Er benutzte einen Augenblick, wo sie ihm den Rücken zuwendete, schlich ihr nach, indem er seine Heiterkeit unterdrückte, bückte sich, hob eine Handvoll Schnee auf und steckte ihn ihr rasch zwischen die nackten Schultern in das Kleid hinein. Die Dirne stieß ein Wuthgeschrei aus, wandte sich um und stürzte sich wie ein Panther auf ihren Gegner, bearbeitete sein Gesicht mit ihren Nägeln und überhäufte ihn mit den gemeinsten Schimpfworten. Jetzt, wo sie ihren nach Schnaps riechenden Mund aufthat, konnte man auch sehen, daß ihr allerdings zwei Oberzähne fehlten. Es war die unglückliche Fantine.

Der Lärm lockte die Offiziere aus dem Café, die Vorübergehenden blieben stehen, und bald weidete sich eine Menschenmenge an dem widerwärtigen Schauspiel, applaudirte und hetzte nach Herzenslust.

Plötzlich trat raschen Schrittes ein Mann von hoher Statur aus dem Zuschauerkreise heraus, packte die Dirne an ihrem mit Koth befleckten Mieder und sagte: »Komm mal mit!«

Sie sah empor; ihr Wuthgekreisch verstummte im Nu. Ihre Augen blickten starr, sie wurde leichenblaß und bebte vor Schrecken. Sie wußte, daß sie Javert vor sich hatte.

Das Gigerl aber hatte sofort den Zwischenfall benutzt, um sich aus dem Staube zu machen.

XIII.
Ueber gewisse Polizeireglements

Javert drängte die Zuschauer bei Seite und ging mit raschen Schritten auf das Polizeibureau zu, das sich an dem Ende des Platzes befand, indem er die Unglückliche hinter sich her zog. Sie folgte ihm maschinenmäßig. Keines von Beiden sprach ein Wort. Ein großer Menschenschwarm, den das Schauspiel höchlichst amüsierte, marschirte mit und riß Witze über die Unglückliche.

Vor den Polizeibureaus angelangt, ging Javert hinein, schob Fantine in die niedrige Stube und machte die vergitterte Thür hinter sich zu, zum großen Aerger der Maulaffen, die sich vergeblich auf die Zehenspitzen stellten, den Hals reckten, ihre Augen anstrengten, um durch die Glasscheibe der Thür einen Blick in das Innere des Bureaus zu werfen. Die Neugierde ist ja die Feinschmeckerei der Augen.

Nachdem sie eingetreten waren, fiel Fantine in einer Ecke nieder und blieb da wie ein Hund, regungslos und stumm, liegen.

Der Sergeant des Postens brachte ein angezündetes Talglicht und stellte es auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Blatt Stempelpapier aus der Tasche und schrieb.

Diese Klasse Frauen ist kraft unsrer Gesetze ganz und gar dem Belieben der Polizei anheimgegeben. Sie thut mit ihnen, was sie will, bestraft sie nach ihrem Gutdünken und konfiszirt willkürlich, die traurigen beiden Rechte, die sie ihr Gewerbe und ihre Freiheit nennen. Diese richterliche Machtvollkommenheit übte jetzt Javert aus. Er saß ruhig da; sein ernstes Gesicht verriet keine Aufregung. Gleichwohl war sein Geist von einer gewichtigen Aufgabe vollauf in Anspruch genommen. Er war sich bewußt, daß er ebenso gerecht, wie streng verfahren müsse, daß der ärmliche Schemel, auf dem er saß, ein Richterstuhl war. Er hatte in seinem Innern einen Prozeß zu verhandeln, und ein Urtheil zu sprechen. Deshalb bot er nun auch alle Ideen, die er überhaupt besaß, auf, um seiner schwierigen Pflicht gerecht zu werden. Je eingehender er aber die vorliegende Sache prüfte, desto mehr sittliche Empörung erfaßte ihn. Es war geradezu ein Verbrechen, was dieses Frauenzimmer da begangen hatte. So eben war die Gesellschaft in der Person eines Grundbesitzers und Wählers auf öffentlicher Straße beschimpft und thätlich angegriffen worden von einem Frauenzimmer, die außerhalb der Gesetze und der Welt stand. Eine feile Dirne hatte sich eines Attentats gegen ein Mitglied der höhern Stände erfrecht. Das hatte er, Javert, mit eignen Augen gesehen.

Als er mit Schreiben fertig war, faltete er das Papier zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten: »Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie die da ins Loch.« Und zu Fantine gewendet: »Du hast sechs Monate abzusitzen.«

Die Unglückliche erschrack.

»Sechs Monat! Sechs Monat Gefängnis, wo ich täglich blos sieben Sous verdiene! Was soll dann aus meiner Cosette werden? Meine arme Tochter! Herr Inspektor, ich bin den Thénardiers noch hundert Franken schuldig!«

Dann kroch sie auf den Knieen über den, von den kothigen Stiefeln der Schutzleute beschmutzten Steinboden hin, faltete die Hände und flehte:

»Gnade, Herr Javert! Ich versichre Sie, ich habe keine Schuld. Wären Sie zu Anfang dabeigewesen, so würden Sie Sich davon überzeugt haben. Ich schwöre Ihnen bei unserm lieben Herrgott, daß ich keine Schuld habe. Der Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gesteckt. Hat man das Recht, uns Schnee in den Rücken zu stecken, wenn wir ruhig auf der Straße an den Leuten vorübergehn und ihnen nichts thun! Da hat mich die Wut von Sinnen gebracht. Ich bin nämlich krank, Herr Inspektor. Und vorher hatte er mich schon eine ganze Weile geschimpft: »Du bist häßlich! Du hast keine Zähne!« Ich weiß recht gut, daß ich keine habe. Ich that nichts. Ich dachte, der Herr will sich einen Witz machen, verhielt mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir Schnee in den Rücken gesteckt. Herr Inspektor! Gütiger Herr Inspektor! Ist denn Niemand da, der zugegen gewesen ist und sagen kann, ob es sich nicht wirklich so verhält, wie ich sage? Es war vielleicht unrecht von mir, daß ich wüthend geworden bin. Aber in dem ersten Augenblick kann man sich ja nicht beherrschen. Man läßt sich fortreißen. Und dann so was Kaltes am Leibe, wenn man sich's garnicht versieht. Es war nicht in der Ordnung, daß ich dem Herrn seinen Hut ruiniert habe. Warum ist er fortgegangen? Ich hätte ihn ja um Verzeihung gebeten. Du mein Gott, es käme mir darauf nicht an. Erlassen Sie mir die Strafe nur dieses einzige Mal, Herr Javert. Sie wissen's nicht, aber im Gefängnis verdient man nur sieben Sous den Tag; die Regierung hat keine Schuld, aber man verdient nur sieben Sous, und ich soll hundert Franken bezahlen, sonst schicken sie mir meine Tochter zurück. Und ich kann ja doch nicht das Kind um mich haben. Ich kann sie ja doch nicht mit ansehen lassen, was für ein abscheuliches Leben ich führe. Was soll denn aus meiner armen Cosette werden? Das süße Engelskind wird mir wie ein verlassenes Schäfchen in der Welt herumlaufen. Denn, sehen Sie, die Thénardiers, das sind Gastwirthe auf dem Lande, Bauern: Die haben kein Einsehen. Die wollen Geld haben. Stecken Sie mich nicht ins Gefängniß. Die sind im Stande und schmeißen das kleine Wesen auf die Straße: Nun geh, wo Du hingehen kannst. Mitten im Winter. Da müssen Sie Erbarmen haben, lieber, guter Javert. Wenn das größer wäre, könnte es ja arbeiten und sein Brod verdienen, aber so geht's ja nicht. Ich bin kein schlechtes Frauenzimmer von Natur. Nicht Trägheit und Leckermäuligkeit haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Branntwein habe ich freilich getrunken, aber da ist das Elend dran schuld. Ich mag ihn nicht, aber er betäubt. Als es mir besser ging, da hätte man in meinem Kleiderschrank keinen überflüssigen Putz gefunden. Ich hatte hauptsächlich Wäsche, viel Wäsche. Haben Sie Mitleid mit mir, Herr Javert!«

So redete sie, in sich zusammengesunken, von heftigem Schluchzen geschüttelt, die Augen von Thränen geblendet, die Brust entblößt, mit gerungenen Händen, in ihrer qualvoll gestammelten Rede fortwährend von einem trocknen, kurzen Husten unterbrochen. Großes Herzeleid verklärt die Unglücklichen mit einem himmlischen, herrlichen Strahl. So war auch Fantine in diesem Augenblick wieder schön geworden. Aber so demüthig sie auch bat und dem Polizisten den Saum seines Rockes küßte, sie konnte sein steinernes Herz nicht rühren.

»Vorwärts! Ich habe Dich angehört. Bist Du zu Ende? Jetzt fort mit Dir! Du hast deine sechs Monate weg, und Gott im Himmel selber könnte sie Dir jetzt nicht mehr abnehmen!«

Bei dieser feierlichen Betheurung begriff sie, daß ihr Urteil unabänderlich war. Sie brach zusammen und stöhnte nur noch schwach: »Gnade!«

Javert drehte ihr den Rücken zu, und die Soldaten packten sie bei den Armen.

Aber seit einer Weile stand mit dem Rücken an der Thür ein Mann, der unbemerkt hereingekommen war und die verzweifelten Bitten der Unglücklichen mit angehört hatte.

In demselben Augenblick, als die Schutzleute sie ergriffen, da sie nicht aufstehen wollte, trat er aus dem Schatten hervor und sagte:

»Einen Augenblick, wenn's beliebt.«

Javert sah ihn an und erkannte Herrn Madeleine. Er nahm den Hut ab und grüßte in ungeschickter Weise mit der Miene eines Menschen, der nicht zufrieden ist.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister . . .«

Die Worte Herr Bürgermeister brachten bei Fantine einen merkwürdigen Eindruck hervor. Sie schnellte plötzlich vom Boden empor, wie ein Gespenst, das aus der Erde heraustaucht, schob mit den Armen die Schutzleute zurück, ging, ehe man sie daran hindern konnte, auf Madeleine zu, musterte ihn mit wilden Blicken und schrie:

»Ach! Du bist also der Herr Bürgermeister!«

Alsdann aber schlug sie eine Lache auf und spie ihm in's Gesicht.

Madeleine trocknete sich das Gesicht und sagte:

»Inspektor Javert, setzen Sie diese Frau in Freiheit!«

Javert war einen Augenblick zu Muthe, als verliere er den Verstand. Heftigere Gemüthserregungen, als diejenigen, die ihn jetzt fast zu gleicher Zeit erschütterten, hatte er in seinem Leben noch nie empfunden. Daß eine öffentliche Dirne einem Bürgermeister in's Gesicht spie, war etwas so Ungeheuerliches, daß derartiges auch nur zu träumen, ihm als ein Frevel erschienen wäre. Andrerseits überkam ihn plötzlich zu seinem größten Schrecken, in seinem tiefsten Innern der Gedanke, daß dieser Bürgermeister vielleicht zu derselben Menschenrasse gehörte, wie die Dirne, und daß also das entsetzliche Attentat gar nichts so Schlimmes sei. Aber als nun gar der Bürgermeister, der höchste Beamte der Stadt, sich ruhig das Gesicht abtrocknete und ihn die Elende in Freiheit setzen hieß, da war er wie betäubt vor Staunen, da versagte ihm seine Denkfähigkeit und die Sprache, da war das Maß der Verwunderung, das sein Geist fassen konnte, voll und er blieb stumm.

Auch auf Fantine hatten die Worte des Bürgermeisters nicht minder gewaltsam gewirkt. Sie umklammerte das Ofenrohr, als fürchte sie umzufallen, ließ ihre Blicke überall umherirren und sprach leise vor sich hin:

»In Freiheit! Ich darf gehn! Ich brauche nicht in's Gefängniß. Wer sagte das? So was kann doch Keiner gesagt haben. Ich habe mich verhört. Der schändliche Mensch von Bürgermeister ist's gewiß nicht gewesen. Haben Sie, lieber guter Herr Javert gesagt, daß ich frei ausgehn soll? Ich will's Ihnen erklären, dann werden Sie mich gewiß gehen lassen. Sehen Sie, der alte Schurke von Bürgermeister da ist an Allem schuld. Denken Sie, Herr Javert, er hat mich aus der Fabrik weggejagt, weil ich von niederträchtigem Gesindel verklatscht worden bin. Ob das nicht eine Schändlichkeit ist! Ein armes Frauenzimmer entlassen, die rechtschaffen ihre Schuldigkeit thut und ihre Arbeit macht. Nachher habe ich nicht mehr genug verdient, und da ist das Unglück gekommen. Da wäre zunächst mal eine Verbesserung einzuführen. Das müßten die Herren von der Polizei besorgen. Da giebt es nämlich Unternehmer, die thun den armen Leuten Schaden. Lassen Sie's Sich erklären, wie das zugeht. Man verdient also zwölf Sous mit Hemdennähen, und mit einem Mal kriegt man blos noch neun Sous. Keine Möglichkeit damit auszukommen. Man hilft sich dann, wie man kann. Ich hatte meine Cosette und da mußte ich doch ein schlechtes Frauenzimmer werden. Nun werden Sie einsehen, daß der Halunke von Bürgermeister das Unheil angerichtet hat. Darauf habe ich den Hut des Herrn vor dem Offizierscafé zu Schanden gemacht. Aber er hatte mir mit dem Schnee mein Kleid verdorben. Unsereins hat doch blos ein einziges seidenes Kleid für den Abend. Sehen Sie, Herr Javert, ich habe nie absichtlich etwas Böses gethan, Herr Javert, und ich sehe überall Frauen, die schlechter sind als ich, und doch sind sie viel glücklicher. Ach Herr Javert, Sie haben gesagt, daß ich gehen soll, nicht wahr? Erkundigen Sie Sich, sprechen Sie mit meinem Hauswirt, jetzt bezahle ich die Miethe pünktlich; die Leute werden Ihnen schon sagen, das ich kein unehrliches Frauenzimmer bin. O weh! Ich bitte um Verzeihung, ich habe aus Versehen die Ofenklappe gedreht, und nun raucht es.«

Madeleine hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Während sie sprach, hatte er in seine Westentasche gegriffen, seine Börse hervorgelangt und sie geöffnet. Sie war leer, und er hatte sie wieder eingesteckt. Nun fragte er Fantine:

»Wie viel haben Sie gesagt, daß Sie schuldig sind?«

Fantine, die bisher immer Javert angesehen hatte, drehte sich nach ihm um mit den Worten:

»Wer redet denn mit Dir!«

Dann wandte sie sich an die Schutzleute:

»Haben Sie gesehen, wie ich dem – hast Du nicht gesehen? – ins Gesicht gespuckt habe? Also Du alter Bösewicht von Bürgermeister, Du kommst her und willst mir Angst einjagen. Aber vor dir fürchte ich mich nicht. Ich fürchte mich vor Herrn Javert, vor dem lieben, guten Herrn Javert.«

»Gerechtigkeit muß ja sein, Herr Inspektor, das sehe ich ja ein. Im Grunde genommen ist es ja was ganz Einfaches, daß sich ein Mann den Spaß macht und stopft einem Frauenzimmer Schnee in den Rücken. Darüber haben die Offiziere gelacht; ihr Vergnügen müssen die Herren ja doch haben, und Unsereine ist doch dazu da, daß Andre ihren Spaß daran haben. Sie kommen nun gerade dazu, und da müssen Sie doch Ordnung stiften. Sie arretiren das Frauenzimmer, weil es Unrecht gehabt hat, aber nachher überlegen Sie Sich die Sache, da sind Sie gut und befehlen, daß man mich laufen läßt, von wegen dem unschuldigen Kind, denn wenn ich sechs Monate lang sitzen müßte, könnte ich nicht für ihren Unterhalt sorgen. ›Aber thu's nicht wieder, Du Kanaille!‹ So denken Sie. O ich thu's gewiß nicht wieder, Herr Javert. Jetzt mag man mir anthun, was man will. Ich lasse mir Alles gefallen. Blos heute habe ich geschrieen, weil mir das weh that, und es kam so unerwartet. Und außerdem, wie gesagt, bin ich nicht ganz gesund, ich huste. Mir ist, als habe ich ein brennendes Eisen hier oben in der Brust, und der Arzt sagt auch, ich soll mich recht in Acht nehmen. Geben Sie mir Ihre Hand. So. Nun fühlen Sie. Hier.«

Sie weinte jetzt nicht mehr, und ihre Worte klangen schmeichlerisch, während sie Javerts rauhe, große Hand auf ihren zarten, weißen Busen hielt. Plötzlich aber brachte sie ihre Kleider hastig wieder in Ordnung, und ging auf die Thür zu, indem sie den Schutzleuten freundschaftlich zunickte und halblaut sagte:

»Kinder, der Herr Inspektor hat gesagt, ich darf gehen. Ich mache mich also davon.«

Schon legte sie die Hand auf die Klinke. Noch ein Schritt, so war sie draußen.

Die ganze Zeit über hatte Javert unbeweglich, gesenkten Hauptes, da gestanden wie eine Statue, die an einen unrechten Ort gestellt ist und wartet, daß sie wieder an ihre richtige Stelle kommt.

Das Geräusch, das die Klinke machte, weckte ihn. Er richtete sich empor mit einer grimmigen Gebietermiene. Solch eine Miene ist um so furchtbarer anzusehen, je niedriger die Intelligenz des betreffenden Wesens ist.

»Sehen Sie nicht, Sergeant, daß die Dirne davon geht? Wer hat Sie geheißen, sie gehen zu lassen?«

»Ich!« sagte Madeleine.

Als sie Javerts Stimme hörte, fuhr Fantine vor Schreck zusammen und ließ die Klinke fahren, wie ein Dieb, der auf der That ertappt wird. Als dann Madeleine antwortete, wandte sie sich nach ihm hin, und von diesem Augenblick an richteten sich ihre Blicke, ohne daß sie einen Laut dabei hören ließ, ohne daß sie auch nur frei zu athmen wagte, abwechselnd auf Madeleine und auf Javert, je nachdem Dieser oder Jener sprach.

Selbstredend mußte Javert, wie man sagt, ganz und gar aus dem Häuschen gerathen sein; sonst hätte er sich nicht erlaubt, den Sergeanten so anzuherrschen, nachdem der Bürgermeister angeordnet hatte, daß Fantine aus der Haft entlassen werden solle. War er so verwirrt, daß er die Anwesenheit des Herrn Bürgermeisters vergessen hatte? Erachtete er es jetzt für unmöglich, daß ein Mitglied der hohen Obrigkeit einen derartigen Befehl ertheilt hätte? Der Herr Bürgermeister hatte ganz gewiß etwas Andres gesagt, als er eigentlich wollte? Oder sagte er sich angesichts der unsinnigen Vorgänge, denen er seit zwei Stunden beiwohnte, daß er einen großen Entschluß fassen, daß der kleine Beamte die Rolle des höheren übernehmen, der Spitzel sich in einen Richter verwandeln müsse, und daß in der vorliegenden Nothlage die Ordnung, das Gesetz, die Moral, die Regierung die ganze Gesellschaft sich in ihm, Javert, personifizirten?

Wie dem auch sei, als Madeleine das Wort »Ich!« ausgesprochen, wandte sich der Polizeiinspektor Javert, mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick, an allen Gliedern leise zitternd, an den Herrn Bürgermeister und wagte, was er noch nie gethan, ihm, einem Vorgesetzten, zu widersprechen. Gesenkten Hauptes, aber mit fester Stimme sagte er:

»Herr Bürgermeister, das geht nicht an!«

»Wieso?« fragte Madeleine.

»Dieses Frauenzimmer hat einen Mann von Stande insultiert.«

»Inspektor Javert,« erwiderte Madeleine in ruhigem und versöhnlichem Tone, »hören Sie, was ich zu sagen habe. Sie sind ein wackrer Mann, und ich nehme keinen Anstand, mich Ihnen gegenüber zu einer Erklärung herbeizulassen. Der Thatbestand ist folgender. Ich ging vorbei, als Sie die Frau eben verhaftet hatten, und erkundete mich bei Leuten, die auf dem Platz zurückgeblieben waren. Der andere Theil, der Herr, hat angefangen und hätte von der Polizei arretiert werden sollen.«

Javert entgegnete:

»Die Elende hat den Herrn Bürgermeister insultiert.«

»Das ist meine Sache. Ein mir angethaner Schimpf gehört doch wohl mir. Ich darf damit anfangen, was mir beliebt.«

»Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Entschuldigung, die Beleidigung geht nicht ihn an, sondern die Gerechtigkeit.«

»Inspektor Javert,« antwortete Madelaine, »die oberste Gerechtigkeit ist Sache des Gewissens. Ich habe die Frau angehört und weiß, was ich thue.«

»Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, was das Alles bedeuten soll.«

»Sehr wohl, dann gehorchen Sie.«

»Ich gehorche meiner Pflicht, und die verlangt, daß die Dirne da sechs Monat Gefängniß bekommt.«

Madeleine antwortete mit sanftmüthiger Ruhe:

»Merken Sie sich, Javert, sie bekommt nicht einen Tag.«

Als dieser Entscheid gefallen war, unterfing sich Javert, den Bürgermeister fest anzusehen, und ihm – allerdings mit aller Ehrerbietung im Tone – zu erwiedern:

»Zu meiner größten Verzweiflung sehe ich mich genöthigt, Einspruch zu erheben. Es ist das erste Mal in meinem Leben, aber der Herr Bürgermeister werden mir gütigst gestatten zu bemerken, daß ich mich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse befinde. Ich halte mich auch, wie der Herr Bürgermeister es wünschen, an den Thatbestand. Ich war zugegen und habe gesehen, daß diese Dirne den Herrn Bamatabois thätlich insultirt hat, Herrn Bamatabois, einen Wähler und Besitzer des schönen, dreistöckigen Hauses aus Quadersteinen und mit einem Balkon, das an der Ecke der Esplanade steht! – Was doch nicht Alles auf der Welt passirt! Wie dem aber auch sei, Herr Bürgermeister, der Vorfall geht die Straßenpolizei, also mich an, und ich behalte die Frau in Haft.«

Da verschränkte Madeleine die Arme und entgegnete in einem strengen Tone, den bisher noch Niemand von ihm gehört hatte:

»Der Vorfall geht die Gemeindepolizei an. Laut Paragraph 9, 11, 15 und 66 der Kriminalgerichtsordnung habe ich darüber zu entscheiden, und ich ordne an, daß die Frau ihrer Haft entlassen wird.«

Javert machte aber noch einen letzten Versuch seinen Willen durchzusetzen.

»Aber Herr Bürgermeister . . .«

»Ich erinnere Sie an § 81 des Gesetzes vom 13. Dezember 1799 über willkürliche Inhaftirungen.«

»Gestatten Sie, Herr Bürgermeister . . .«

»Kein Wort mehr!«

»Indessen . . .«

»Hinaus!«

Javert empfing den Schlag aufrecht, von vorn und mitten in die Brust, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.

Fantine trat bei Seite um ihn vorbeizulassen, und sah ihn mit grenzenlosem Erstaunen an.

Auch sie war außer aller Fassung. Zwei einander feindliche Gewalten hatten sich um sie gestritten. Zwei Männer, die ihre Freiheit, ihr Leben, ihr Kind in ihrer Hand hielten, hatten gegeneinander gekämpft, der Eine, um sie in die Finsternis des Verderbens zu stürzen, der Andre, um sie dem Lichte zuzuführen. Während dieses Kampfes, den die Furcht ihr noch gewaltiger erscheinen ließ, hatten die beiden Männer etwas Übermenschliches für sie angenommen; der Eine war ein Dämon gewesen, der Andre erschien ihr ein Engel des Guten zu sein. Der Engel hatte den Dämon überwunden, und sie erbebte vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, daß sie gerade ihn, ihren Befreier haßte, den Bürgermeister, den sie seit langer Zeit als den Urheber ihres Unglücks betrachtet hatte, den Madeleine! Der hatte sie, gerade als sie ihn so abscheulich insultirte, gerettet. War sie denn in einem Irrthum befangen? Sollte sie mit ihrer ganzen Denkweise eine Aenderung vornehmen? Sie begriff das Alles nicht und zitterte. In sinnloser Geistesverwirrung stand sie da und bei jedem Wort, das Madeleine sprach, fühlte sie, wie die gräßliche Finsterniß des Hasses sich auflöste, und in ihr Herz wieder Freude, Hoffnung und Liebe einzogen.

Nachdem Javert hinausgegangen war, wendete sich Madeleine nach ihr hin und sprach mit langsamer Stimme, wie Einer, der seine Thränen unterdrückt:

»Ich habe Alles gehört. Ich wußte nichts von alle dem, was Sie erzählt haben. Ich glaube, ich fühle, daß es wahr ist. Mir war sogar unbekannt, daß Sie aus meiner Fabrik entlassen waren. Warum haben Sie Sich nicht an mich gewendet? Aber lassen wir das. Ich werde Ihre Schulden bezahlen und Ihre Kleine kommen lassen, oder Sie können zu ihr gehen. Bleiben Sie hier, oder gehen Sie nach Paris oder wo Sie sonst hin wollen. Die Sorge für Ihren und Ihres Kindes Unterhalt übernehme ich. Sie brauchen nicht mehr zu arbeiten, wenn Sie nicht wollen. Alles Geld, das Sie brauchen, bekommen Sie in Zukunft von mir. Sie werden wieder brav und gut werden, wenn sich Ihnen das Glück wieder zuwendet. Und um es gleich jetzt zu sagen, – wenn Alles sich so verhält, wie Sie behaupten, und ich zweifle nicht im Geringsten daran, – Sie haben nie aufgehört tugendhaft und Gott angenehm zu sein. Sie arme Frau!«

Das war mehr, als die arme Fantine fassen konnte. Cosette wieder zu bekommen! Ihren scheußlichen Lebenswandel aufgeben zu können! Frei, reich, glücklich, geachtet mit ihrer Tochter zu leben! Und alle diese Herrlichkeiten sich so unvermittelt aus dem tiefsten Elend entfalten zu sehen! Sie sah ihren Retter mit wirren, umflorten Blicken an und schluchzte nur: Oh! Oh! Dann versagten ihr die Kniee den Dienst, sie fiel Madeleine zu Füßen, und ehe er es verhindern konnte, ergriff sie seine Hand und drückte ihre Lippen darauf.


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