Victor Hugo
Die Elenden. Erster Theil. Fantine
Victor Hugo

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Drittes Buch. Im Jahre 1817

I.
Das Jahr 1817

1817 ist das Jahr, das Ludwig XVIII. mit stolzer Unverfrorenheit das zweiundzwanzigste Jahr seiner Regierung nannte. Es war auch das Jahr, wo Bruguière de Sorsum ein berühmter Mann war. Alle Friseurläden, wo man sich nach der Zeit des Puders zurücksehnte, waren blau angestrichen und mit den drei Lilien, dem Wappen der Bourbonen, bemalt. Es war die schöne Zeit, wo der Graf Lynch jeden Sonntag in der Kirche Saint-Germain-des-Prés in dem Beamtenstuhl thronte, in der Galatracht der Pairs von Frankreich, geschmückt mit dem rothen Band des Ludwigsordens, einer langen Nase und einem majestätischen Profil, wie es Vollbringern großer Thaten eigen zu sein pflegt. Die von dem Grafen Lynch verübte große That bestand darin, daß er als Bürgermeister von Bordeaux am 12. März 1814, also ein wenig zu früh, die Stadt dem Herzog von Angoulême übergeben hatte. Daher seine Erhebung in den Pairstand. 1817 steckte die Mode die vier- bis sechsjährigen Knaben in gewaltige Mützen aus Maroquinleder, die der Kopftracht der Eskimos sehr ähnlich sahen. Die französische Armee trug weiße Uniformen, wie die Oesterreicher; die Regimenter hießen Legionen; statt der Nummern führten sie den Namen der Departements. Napoleon lebte als Verbannter auf der Insel St.-Helena, und ließ, da England ihm kein Tuch liefern wollte, seine alten Röcke wenden. 1817 florirte der Sänger Pellegrini, die Tänzerin Bigottini, regierte Potier, existierte Odry noch nicht. Frau Saqui war Foriosos Nachfolgerin. Preußische Truppen hielten noch französisches Gebiet besetzt. Delalot spielte eine große Rolle. Die rechtmäßige Regierung bewies ihr Dasein, indem sie Pleignier, Carbonneau und Tolleron erst die rechte Hand und dann den Kopf abhauen ließ. Der Oberstkämmerer, Fürst Talleyrand und der designirte Finanzminister Louis lachten sich vergnügt, wie zwei Augurn an. Hatten sie doch Beide am 14. Juli 1790 beim Föderationsfest auf dem Champ de Mars die Messe celebrirt, Talleyrand als Bischof und Louis als Diakonus; 1817 faulten im Gras, auf demselben Champ de Mars, blau angestrichne, dicke, runde Pfähle mit Resten von vergoldeten Adlern und Bienen, die von der, zwei Jahre zuvor aufgerichteten Tribüne des Kaisers stammten. Einige von diesen Pfählen waren nicht mehr vorhanden. Die Oesterreicher, hatten sie in ihrem Bivouac, bei dem Gros-Caillou, als Brennstoff benutzt, um sich ihre großen Hände zu wärmen. In demselben Jahre 1817, waren der Voltaire-Touquet und die Tabaksdose à la charte sehr beliebt. Großes Aufsehen machte in Paris das Verbrechen Dautun's der den Kopf seines Bruders in das Bassin des Marché-aux-Fleurs geworfen hatte. Im Marineministerium beschäftigte sich eine Kommission mit der Unglücksfregatte Medusa. Der Oberst Selves ging 1817 nach Aegypten, wo er Soliman Pascha wurde. In dem Palais des Thermes hatte ein Böttcher seine Werkstatt aufgeschlagen. Oben auf dem achteckigen Thurm des Hotel de Cluny sah man noch eine Art Bretterbude, die Messier, Astronom der Marine zur Zeit Ludwigs XVI. als Sternwarte benutzt hatte. Die Herzogin von Duras las in ihrem, mit blausammtnen X-stühlen möblirten Boudoir ihren Freunden den damals noch neuen Roman Urika vor. Napoleons Anfangsbuchstabe wurde im Louvre überall ausgekratzt. Die Austerlitzer Brücke legte diesen stolzen Namen ab und taufte sich Pont du Jardin du Roi. Ludwig dem Achtzehnten machten, während er sich an seinem Horaz delektirte, die Helden, die sich zum Kaiser emporschwingen, und die Schuhflicker, die sich für Königssöhne und Thronerben ausgeben, wie Napoleon und Mathurin Bruneau, schwere Sorgen. Die französische Akademie stellte für eine Preisaufgabe das Thema: »Die Befriedigung, die das Studium gewährt.« Bellart lehrte die offizielle Beredsamkeit. Unter seiner Obhut entfalteten sich die Talente des zukünftigen Staatsanwalts Broë, der dem Spötter Paul-Louis Courier so reichen Stoff liefern sollte. Man hatte einen Pseudo-Chateaubriand, Namens Marchangy, der dann von einem Pseudo-Marchangy, Namens d'Arlincourt abgelöst wurde. Claire d'Albe und Malek Adel galten für literarische Meisterwerke: Frau Cottin, erklärte man, übertreffe alle Schriftsteller ihrer Zeit. Die Akademie duldete, daß Napoleon Bonaparte aus der Liste ihrer Mitglieder gestrichen wurde. Eine königliche Verordnung erhob die Stadt Angoulême zu einem Vorbereitungsort der Marine, denn in Anbetracht, daß der Herzog von Angoulême Großadmiral war, eignete sich die Stadt Angoulême von Rechts wegen zum Seehafen, sonst wäre das monarchische Prinzip geschädigt worden. Man erörterte im Ministerrath die Frage, ob man die Vignetten des Kunstreiters Franconi, die für alle Straßenjungen einen besonderen Reiz hatten, nicht verbieten solle. Paër, der Verfasser der Agnès dirigirte die Konzerte der Marquise von Sassenaye in der Rue Villee-l'Evêque. Alle jungen Mädchen sangen L'Ermite de Saint-Avelle, Text von Edmond Géraud. Das Café Lemblin hielt es mit dem Kaiser, während das Café Valois seine Kundschaft aus den Reihen der Anhänger der Bourbons rekrutierte. Die Gardes du Corps pfiffen Fräulein Mars aus. Die großen Zeitungen waren damals noch sehr klein, ihr Format bescheiden, aber ihre Freiheit ziemlich groß. Der Constitutionnel war für eine Constitution. La Minerve schrieb Chateaubriands Namen mit einem t, was ein großartiger Witz war. Feile Preßknechte insultierten die 1815 verbannten Revolutionäre. David sprach man sein Malertalent, Arnault allen Witz, Carnot alle Rechtschaffenheit ab. Soult, hieß es, habe nie eine Schlacht gewonnen. Und so gehörte es sich! Beschloß man doch, daß Napoleon kein genialer Mann sei. Bekanntlich bekommen Verbannte selten ihre Briefe von der Post, da die Polizei sie mit sorgsamer Gewissenhaftigkeit unterschlägt. Und dies ist nichts Neues, denn schon Descartes klagte darüber. Auch David beschwerte sich in einer belgischen Zeitung, daß er die an ihn adressierten Briefe nicht bekomme, forderte aber damit nur den Spott der königlich gesinnten Blätter heraus. An den Stichwörtern »Königsmörder« oder »Die dafür stimmten«, »die Feinde« oder unsre »Alliirten«, »Napoleon«, oder »Bonaparte« erkannte man zwei himmelweit verschiedene, politische Parteien. Alle sogenannten »gescheidten« Leute stimmten darin überein, daß die Aera der Revolutionen für immer geschlossen worden sei durch Ludwig XVIII, den »unsterblichen Urheber der Verfassungsurkunde.« An dem Sockel, der die Bildsäule Heinrichs IV. aufnehmen sollte, wurde das Wort Redivivus eingemeißelt. Piet stiftete in der Rue Therese Nr. 4 seinen Verein zur Befestigung der Monarchie. Canuel, O'Mahony und de Chappedelaine konspirirten und die Epingle Noire gleichfalls. Delaverderie knüpfte Unterhandlungen an mit Trogoff. Der in einem gewissen Grade liberale Decazes hatte eine leitende Rolle. Chateaubriand stand jeden Morgen vor seinem Fenster in der Rue Dominique Nr. 27 in Strumpfhosen und Pantoffeln, ein Madrastuch auf dem grauen Kopfe, die Augen auf einen Spiegel gerichtet, vor sich ein vollständiges Zahnarztbesteck und reinigte sich seine – sehr hübschen – Zähne, wobei er seinem Sekretär Pilorge Abänderungen zu der Monarchie selon la Charte diktierte. Die maßgebliche Kritik zog Lason dem Lieblingsschauspieler Napoleons, Talma, vor. Von Féletz unterzeichnete seine Schriften mit A, und Hoffmann mit Z. Die Ehescheidung war abgeschafft. Die Gymnasiasten, deren Rockkragen mit einer goldnen Lilie geschmückt war, keilten sich zu Ehren des Königs von Rom, Napoleons Sohn. Die Gegenpolizei des Schlosses denunzirte den gewichtigen Uebelstand, daß der Herzog von Orleans auf seinem überall ausgehängten Porträt, in seiner Uniform als Generaloberst der Husaren, sich besser ausnehme, als der Herzog von Berry in der Uniform eines Generaloberst der Dragoner. Die Stadt Paris ließ auf ihre Kosten den Dom der Invaliden von Neuem vergolden. Gesetzte Leute fragten sich, was wohl in der und der Lage Herr von Trinquelague thun würde; Clausel von Montal stimmte nicht in allen Punkten mit Clausel von Coussergues überein; von Salaberry war mißvergnügt. Der Schauspieler Picard, Mitglied der Akademie, die den Schauspieler Moliere nicht aufgenommen hatte, ließ »die beiden Philibert« im Odeon aufführen, an dessen Giebel man noch die Aufschrift ›Theater der Kaiserin‹ erkennen konnte. Man ergriff für oder gegen Cugnet de Montarlot Partei. Fabvier opponierte; Bavoux war Revolutionär. Pélicier gab Voltaires Werke heraus und setzte zu Voltaires Namen »Mitglied der Akademie« hinzu. »Das zieht Käufer an«, meinte der naive Schlaukopf. Allgemein war die Ansicht, Charles Loyson sei das größte Genie des Jahrhunderts; schon bekrittelte ihn der Neid, der alle großen Geister verfolgt. Der Kardinal Fesch weigerte sich abzudanken; de Pins, Erzbischof von Amasie, verwaltete die Diöcese Lyon. Der Streit um das Thal des Dappes zwischen der Schweiz und Frankreich begann mit einer Denkschrift des Hauptmanns Dufour. Saint-Simon, damals noch unbekannt, arbeitete an dem Aufbau seines großartigen Systems. In der Akademie der Wissenschaften gab es einen berühmten Fourier, den die Nachwelt vergessen hat, und in einer Bodenkammer wohnte ein unbekannter Fourier, dessen die Zukunft sich erinnern wird. Byrons Gestirn begann zu strahlen; in Frankreich machte eine Anmerkung zu einem Gedicht von Millevoye auf ihn aufmerksam mit den Worten: »ein gewisser Lord Baron.« David aus Angers versuchte sich in der Bildhauerkunst. Der Abt Caron erwähnte lobend im Seminar, in der Sackgasse des Feuillantines, einen unbekannten Priester Namens Felicite Robert, der später Lamennais genannt worden ist. Auf der Seine fuhr, an den Tuilerien vorbei, vom Pont Royal bis zum Pont Louis XV. ein Ding, das rauchte und im Wasser wie ein schwimmender Hund patschte, eine Maschine, mit der nicht viel los war, eine Art Spielzeug, das ein Träumer, ein Utopist erfunden hatte, ein Dampfboot. Die Pariser betrachteten das unnütze Ding mit Gleichgiltigkeit. De Vaublanc, der Reformator der Akademie, Schöpfer mehrerer Akademiker, konnte mit allen seinen Ukasen es nicht zu Wege bringen, daß er selber in das Institut aufgenommen wurde. Das Faubourg Saint-Germain und der Pavillon Marsan wünschte Delaveau als Polizeipräfekten, wegen seiner Frömmigkeit. Dupuytren und Récamier kabbelten sich in der Ecole de Medicine und bedrohten einander mit der Faust, um die Frage nach der Göttlichkeit Christi zur Entscheidung zu bringen. Cuvier schielte mit einem Auge nach dem ersten Buch Mose, mit dem andern nach der Natur und bemühte sich der kirchlichen Reaktion zu gefallen, indem er die Uebereinstimmung der Fossilien mit dem Text der Bibel nachwies und Moses von den Mastodonten liebkosen ließ. Francis de Neufchateau verlangte, die Kartoffeln sollten ihrem ersten Anbauer Pannentier zu Ehren Pannentieren genannt werden, hatte aber keinen Erfolg mit seinem Vorschlage. Der Abt Grégoire, ehemals Bischof, Mitglied des Convents und Senator, wurde in der realistischen Polemik der »schändliche Grégoire« tituliert. An dem Pont d'Jéna konnte man noch an seiner helleren Farbe den neuen Stein erkennen, mit dem man das, von Blücher gebohrte, Sprengloch zugestopft hatte. Ein Mann wurde vor Gericht gefordert, weil er beim Eintritt des Grafen von Artois in die Kirche Notre-Dame laut gesagt hatte: Hol's der Teufel! Da lobe ich mir die Zeit, wo ich Bonaparte und Talma Arm in Arm in den Bal-Sauvage gehen sah. Natürlich sechs Monat Gefängniß für die aufrührerische Rede. Verräther, die vor einer Schlacht zum Feinde übergegangen waren, brüsteten sich frech mit den Orden, mit den Würden, Aemtern, Reichthümern, die sie zum Lohn für ihre Nichtswürdigkeit empfangen hatten.

Dies sind die hervorragendsten Thatsachen des Jahres 1817. Die Geschichte bekümmert sich um dergleichen nicht und kann es auch nicht, weil sie sich durch ihre unendliche Menge nicht hindurchzuarbeiten vermag. Aber diese Einzelheiten, die man mit Unrecht Kleinigkeiten nennt, – nichts Menschliches ist klein, so wenig, wie es kleine Blätter an den Bäumen giebt, – diese Einzelheiten haben ihren Werth. Besteht doch aus der Physiognomie seiner Jahre das Antlitz eines Jahrhunderts.

In dem Jahre 1817 leisteten sich vier junge Pariser »einen famosen Witz«.

II.
Ein Doppelquartett

Von diesen Parisern war der eine aus Toulouse, der andere aus Limoges, der dritte aus Cahors und der vierte aus Montauban; aber sie waren Studenten, und wer in Paris studiert, wird zum echten Pariser.

Die Vier waren unbedeutende junge Menschen, Gesichter, wie sie Jedermann zu sehen bekommt, weder gut, noch schlecht; weder gelehrt, noch unwissend, weder Genies, noch Schafsköpfe; hübsch, denn sie erfreuten sich jenes Lenzes, den man die Jugend nennt. Vier Oskare, denn zu jener Zeit war der Vorname Arthur noch nicht Mode. Man schwärmte für Ossian, für die skandinavischen und kaledonischen Namen, die englischen gelangten erst später zur Herrschaft und der erste aller Arthurs, Wellington, hatte die Schlacht bei Waterloo erst vor Kurzem gewonnen.

Diese Oskare hießen Felix Tholomyès, Listolier, Fameuil und Blachevelle. Selbstredend hatte Jeder eine Geliebte. Blachevelle liebte eine Favourite, so genannt, weil sie in England gewesen war, Listolier verehrte Dahlia, Fameuil vergötterte Sephine, Abkürzung von Josephine, und Tholomyès betete Fantine, die Blonde, an.

Favourite, Dahlia, Sephine und Fantine waren vier reizende, frische, lebenslustige Mädchen, Arbeiterinnen, die ihre Nähnadel noch nicht weggeworfen hatten, die durch die Liebe wohl vom rechten Wege abgelenkt waren, aber auf dem Gesicht und im Herzen noch nicht den Stempel des Lasters trugen. Eine von den Vieren, die Jüngste, wurde die Junge genannt, eine andere die Alte: diese war dreiundzwanzig Jahr alt. Um nichts zu verschweigen, so waren drei von ihnen erfahrener, sorgloser, leichtsinniger, als Fantine, die Blonde, die sich noch mit ihrer ersten Illusion trug.

Dahlia, Sephine und besonders Favourite dagegen, waren in ihrem Lebensroman weiter vorgeschritten; der Liebhaber, der im ersten Kapitel Adolf hieß, war im zweiten ein Alfons und im dritten ein Gustav. Armuth und Eitelkeit sind verderbliche Rathgeber; der eine schilt, der andere schmeichelt, und die hübschen Mädchen aus dem Volke leihen Jedem gern ein Ohr. Daher die Fehltritte, die sie begehen, und die Steine, mit denen man nach ihnen wirft. Man verweist sie auf die Herrlichkeit der unzugänglichen Tugend und Unschuld. Du lieber Himmel! Wer weiß, ob die Jungfrau in der Schweiz nicht weniger unnahbar wäre, wenn sie Hunger hätte?!

Favourite, die England gesehen, wurde deshalb von Sephine und Dahlia bewundert. Sie hatte früh eine eigene Wohnung gehabt. Ihr Vater war ein alter unverheiratheter Mathematiklehrer, der noch Privatstunden gab. Dieser Lehrer hatte in seiner Jugend eines Tages zugesehen, wie das Kleid einer Kammerjungfer an einem Kaminvorsetzer hängen blieb, und dieser Vorfall hatte in ihm Gefühle der Liebe geweckt, deren Ergebniß Favourite war. Sie begegnete hin und wieder ihrem Vater und sie sagten sich guten Tag. Eines Morgens war eine alte Frau zu ihr gekommen und hatte gefragt: »Fräulein, Sie kennen mich wohl nicht, Fräulein?« »Nein!« »Ich bin Deine Mutter.« Darauf war die Alte über den Speiseschrank hergefallen, hatte gegessen und getrunken, eine Matratze kommen lassen und sich bei ihr einlogiert. Diese griesgrämige und bigotte Alte redete nie ein gemüthliches Wort mit Favourite, aß für Vier und beklatschte beim Portier ihre eigene Tochter.

Was Dahlia in Listoliers Arme und in die Arme des Müßiggangs geführt hatte, war der Umstand, daß sie allerliebste rosa Nägel hatte, die durch zu viel Arbeit entstellt worden wären. Wenn man tugendhaft bleiben will, darf man mit seinen Händen kein Erbarmen haben. Sephine hatte es Fameuil angethan mit dem schelmischen Ausdruck, den sie in die Worte: »Ja, mein Herr!« zu legen wußte.

Die jungen Männer waren Kameraden, die jungen Mädchen Freundinnen. Dergleichen Liebe paart sich immer mit solcher Freundschaft.

Tugend und Philosophie sind zwei verschiedene Dinge, denn Favourite, Sephine und Dahlia waren Philosophinnen, aber Fantine tugendlich.

Tugendhaft, wenn sie ihren Tholomyès hatte? Salomo würde sagen, daß die Liebe ein Bestandtheil der Tugend ist. Wir beschränken uns auf die Bemerkung, daß Fantinens Liebe ihre erste, einzige und eine treue Liebe war.

Sie war die Einzige von den Vieren, die nur von Einem geduzt wurde.

Fantine gehörte zu den Wesen, die so zu sagen aus den untersten Schichten der Gesellschaft hervorwachsen. Sie trug den Stempel der Anonymität und des Unbekannten an der Stirne. In Montreuil-sur-Mer geboren, hatte sie nie Vater und Mutter gekannt. Sie nannte sich Fantine. Warum Fantine? Einen andern Namen hatte sie nie gehabt. Damals regierte noch das Direktorium. Kein Familienname, denn sie hatte keine Familie; kein Taufname, denn getauft wurde damals nicht. Sie bekam den Namen, den ihr der erste Beste beizulegen beliebte, als sie sich barfüßig auf der Straße herumtrieb. Ein Name fiel auf sie, wie die Regentropfen auf ihren Kopf. Sie hieß die kleine Fantine und damit basta! Das Geschöpfchen war nun einmal so auf die Welt gekommen. Im Alter von zehn Jahren verließ sie die Stadt und trat bei einem Bauern in Dienst. Als sie fünfzehn Jahre alt war, kam sie nach Paris, um ihr Glück zu machen. Sie war schön, bewahrte aber ihre Unschuld, so lange sie konnte. Die niedliche Blondine mit den hübschen Zähnchen besaß Gold und Perlen, das Gold trug sie auf ihrem Kopf, die Perlen im Munde.

Sie verdiente sich ihr Brot mit ihrer Hände Arbeit; aber die Liebe gehört auch zum Leben, und das Herz kennt auch einen Hunger. Daher geschah es, daß sie Liebe zu Tholomyès faßte.

Für ihn war dies Verhältniß ein Zeitvertreib, für sie eine Leidenschaft. Die von dem Gewimmel der Studenten und Grisetten belebten Straßen des Quartier latin sahen den Anfang dieses Liebesbundes. In jenem Straßengewirr auf dem Pantheonhügel, wo so viel Abenteuer sich abspielen, war Fantine manches Mal vor Tholomyès geflohen, hatte es aber immer so eingerichtet, daß er ihr wieder begegnen konnte. Kurz, die Idylle fand statt.

Blachevelle, Listolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, die sich Tholomyès unterordnete. Er war der Klugkopf, der Gescheidteste von den Vieren.

Tholomyès war ein bemoostes Haupt mit einem üppigen Wechsel, denn ein Student mit viertausend Franken jährlich galt damals für einen reichen Herrn. Obschon erst – oder schon – dreißig Jahre alt, hatte dieser Lebemann sich schlecht konserviert. Mit seinen Zähnen konnte er keinen Staat mehr machen, sein Gesicht wies Runzeln auf, und das Haupthaar war schon bedenklich gelichtet. Seine Verdauung ließ viel zu wünschen übrig, und das eine Auge litt an einem Thränenfluß. Aber sein körperlicher Verfall schien ihm wenig Kummer zu machen. Im Gegentheil. In dem Maße, wie seine Jugend ihm entschwand, wurde er fideler und witziger. An die Stelle seiner Zähne traten vergnügte Kalauer, den kranken Magen kurierte er mit Ironie, und sein Thränenauge lachte beständig. Floh seine Jugend schon vor der Zeit, so trat sie ihren Rückzug wenigstens in voller Ordnung an. Er dichtete einen Schwank für das Vaudeville, der allerdings abgewiesen wurde. Auch Gedichte verbrach er hin und wieder. Außerdem zweifelte er an allem Möglichen, was ja in den Augen der Schwachen eine große Ueberlegenheit ist. Also, da er ironisch veranlagt und kahl war, galt er für den Ersten unter den Vieren. Iron ist ein englisches Wort, das Eisen bedeutet. Sollte daher »Ironie« kommen?

Eines Tages nahm Tholomyès die drei Andern bei Seite, setzt eine wichtige Orakelmiene auf und sagte: »Es ist beinah ein Jahr, daß Fantine, Dahlia, Sephine und Favourite uns bitten, wir möchten ihnen eine Ueberraschung bereiten. Wir haben sie ihnen feierlich versprochen. Sie liegen uns damit unausgesetzt in den Ohren, besonders mir. Wie in Neapel die alten Weiber dem heil. Januarius zurufen: »Gelbgesicht, thu Dein Wunder!« so mahnen unsere Schönen unablässig: »Tholomyès, wann rückst Du mit Deiner Ueberraschung heraus?« Zu gleicher Zeit rufen uns unsere Eltern nach Hause. Wir sind also zwischen zwei Feuern, und die Zeit ist gekommen, einen Entschluß zu fassen.«

Hierauf senkte Tholomyès seine Stimme zu einem leisen Geflüster herab, und alsbald überstrahlte eine ungeheure Heiterkeit alle vier Gesichter zugleich.

»Das nenne ich eine famose Idee!« rief Blacheville.

Sie gingen in eine verräucherte Kneipe, die auf ihrem Wege lag, und aus ihrer geheimnisvollen Konferenz ergab sich eine großartige Landpartie, die am folgenden Sonntag die vier Paare zu gemeinsamem Vergnügen vereinigte.

III.
Vier und Vier

Was vor fünfundvierzig Jahren eine Landpartie zwischen Studenten und Grisetten war, kann man sich heutzutage schwer vorstellen. Die Umgegend von Paris hat sich seit einem halben Jahrhundert beträchtlich erweitert. Wo früher kleine Thorwagen verkehrten, da ertönt jetzt der Pfiff der Lokomotive; wo früher das Postschiff einherschlich, fliegt jetzt ein Dampfer dahin. Für uns ist Fécamp bequemer zu erreichen, als Saint-Cloud für unsere Väter. Das Paris des Jahres 1862 ist eine Stadt, dessen Weichbild ganz Frankreich umfaßt.

Die vier Paare verübten gewissenhaft alle Thorheiten, die damals bei Spaziergängen üblich und möglich waren. Die Ferien hatten eben begonnen und es war ein warmer, schöner Sommertag. Am Tage vorher hatte Favourite, die Einzige, die schreiben gelernt, im Namen der vier Damen, in einem, aller Orthographie hohnsprechenden Schreibebrief Tholomyès auf die Annehmlichkeiten des Frühaufstehens nachdrücklichst aufmerksam gemacht und infolge dessen war man schon um fünf Uhr aufgebrochen. Sie fuhren per Landkutsche nach Saint-Cloud, bewunderten den großen Wasserfall, der gerade trocken lag, und meinten: »Das muß sehr schön sein, wenn Wasser da ist!« Darauf frühstückten sie in der Tête-Noire, genehmigten sich eine Fahrt auf dem Karussel bei dem großen Bassin, stiegen zur Laterne des Diogenes empor, spielten Roulett in Sèvres und gewannen Makronen, pflückten Blumen in Puteaux, kauften sich Pfeifen in Neuilly, aßen überall Apfelkuchen und amüsirten sich überhaupt königlich.

Die jungen Mädchen plapperten vergnügt, wie Spatzen im Frühjahrssonnenschein. Es war ein Freudentaumel. Vor Uebermuth gaben sie ihren Verehrern kleine Klappse. O selige Trunkenheit der Jugend! Schöne Jahre! Wer denkt nicht gern an sie zurück! Hast du, Leser, nicht auch im Walde die Zweige und Sträucher aus dem Wege gebogen, um Platz zu machen für ein hübsches Köpfchen hinter dir? Bist du nicht auch ausgeglitten auf einem feuchten Rasen und gehalten worden von einem lieben Wesen, das reizend jammerte: »Oh meine neuen Stiefeletten! Wie die aussehen!«

Indessen fehlte doch eine kleine Widerwärtigkeit, die den Reiz jeder Landpartie erhöht, eine Regenhusche. Eigentlich hätte sie kommen müssen, denn Favourite hatte mit mutterhafter Fürsorge eine Wetterprognose gestellt und schlechtes Wetter prophezeit: »Kinder, die Schnecken«, dozierte sie, »kriechen über die Wege. Das bedeutet Regen.«

Alle vier Mädchen waren entzückend lieblich. Ein wackerer klassischer Dichter, eine damalige Berühmtheit, der an jenem Tage unter den Kastanienbäumen zu Saint-Cloud lustwandelte, der Chevalier de Labouisse, sah sie um zehn Uhr Morgens vorübergehen und bemerkte: »Ich glaubte, es gebe blos drei Grazien,« Favourite, die Freundin Blacheville's, die »Alte« lief voraus im Walde, sprang über die Gräben, stieg über die Sträucher und ermunterte, übermüthig wie eine junge Faunin, die Andern durch ihr Beispiel. Sephine und Dahlia, deren Reize sich gegenseitig vervollständigten und zu besserer Geltung brachten, hielten sich wohlweislich beisammen und ahmten, sich unterfassend, die Haltung feiner Engländerinnen nach; denn damals kamen die ersten keepsakes auf, die Frauen beflissen sich melancholischer Mienen, wie später der Byronismus bei den Männern Mode wurde, und trugen sentimentale Schmachtlocken. Fantinen erklärten Listolier und Fameuil den Unterschied, der zwischen ihren Professoren Delvincourt und Blondeau bestand.

Blachevelle schien eigens dazu geschaffen zu sein, des Sonntags Favourite's, an einem Ende mit Palmen gezierten Kaschmirshawl zu tragen.

Tholomyès marschierte hinterdrein. Er war sehr aufgeräumt, aber man merkte es ihm an, daß er sich als den Diktator der kleinen Schaar fühlte. Sein Hauptschmuck waren Beinkleider mit sogenannten Elefantenbeinen, aus Nankin, mit Sprungriemen aus Kupferdrahtgeflecht. Dazu ein gewaltiger Spazierbaum, der seine zweihundert Franken gekostet haben mochte, in der Hand, und da er alles Neue haben mußte, ein sonderbares Ding, das man eine Cigarre nannte, im Munde. Der kecke Mensch rauchte!

»Das ist ein Kerl, der Tholomyès!« sagten die andern voller Bewunderung. »Diese Pantalons! Dieser Schneid!«

Was Fantinen betrifft, so war sie die personifizierte Freude. Ihre prächtigen Zähne hatte sie augenscheinlich von Gott speziell zu dem Zweck bekommen, daß sie fleißig lachen sollte. Ihr Strohhütchen mit den langen, weißen Bindebändern trug sie lieber in der Hand, als auf dem Kopfe. Ihr dickes blondes Haar, das leicht ausging und beständig wieder aufgesteckt werden mußte, erinnerte an Galatea, wie sie von Polyphem verfolgt, durch das Weidengebüsch dahinfloh. Ihre rosigen Lippen waren bezaubernd schön. Die etwas in die Höh' gezogenen Mundwinkel, die auf Sinnlichkeit zu deuten schienen, sahen aus, als forderten sie Keckheiten heraus; aber die langen, bescheiden gesenkten Wimpern milderten diesen Ausdruck. Ihre ganze Toilette hatte einen Anflug von Heiterkeit. Sie trug ein malvenfarbenes Barègekleid, kleine Goldkäferschuhe mit hohen Absätzen, deren Bänder sich kreuzweise über den feinen durchbrochnen Strumpf legten, und eine eng anliegende Mousselin Spencerjacke. Ihre weniger sittsamen Freundinnen hatten tief ausgeschnittne Kleider an, aber Fantinens durchsichtige Mousselinjacke, die den Augen verrieth, was sie doch zu verhüllen bestimmt schien, war verführerischer und der berühmte Liebeshof der Vicomtesse von Cette mit den meergrünen Augen hätte wahrscheinlich den Preis der Koketterie für diese Jacke gegeben, die Fantinens Schamhaftigkeit wahren sollte. Die Naivität ist manchmal recht pfiffig!

Ein klares Gesicht, ein feines Profil, tiefblaue Augen, breite Augenlider, kleine stark geschweifte Füße, schön eingefügte Hand- und Fußgelenke, eine sehr weiße, von den blauen Verzweigungen der Adern durchschimmerte Haut, kindlich frische Wangen, ein Hals kräftig, wie der einer äginetischen Juno, ein starker geschmeidiger Nacken, Schultern, die wie von einem Coustou gemodelt schienen, mit einem reizenden, durch den Mousselin sichtbaren Grübchen; dies waren Fantinens statuenhafte Reize, denen ein Gemisch von Fröhlichkeit und Ernst Leben verlieh.

Ihrer Schönheit war sich Fantine nicht allzu sehr bewußt. Jene wenigen Idealisten, die nur die Vollkommenheit als schön anerkennen, hätten in dieser graziösen Pariserin die heilige Euphonie der Alten vermuthet. Diese Tochter des Volkes hatte Rasse. Ihre Schönheit besaß sowohl Stil wie Rhythmus, der Form des Ideals und seine Bewegung.

Wir haben gesagt, Fantine war die personifizirte Freude, aber sie zeichnete sich nicht minder durch Schamhaftigkeit aus.

Einem aufmerksamen Beobachter wäre es nicht entgangen, daß trotz der Lebens- und Liebeslust, die aus allen ihren Zügen sprach, Sittsamkeit der Hauptzug ihres Wesens war. Es lag auf ihrem Gesichtchen jene Art Verwunderung die eine Psyche von der Venus unterscheidet. Fantinens lange, weiße und feine Finger erinnerten an die der keuschen Vestalin, die mit goldner Nadel die Asche des heiligen Feuers durchforscht. Obgleich sie Tholomyès nichts versagt hatte, war ihr Gesicht ein durchaus jungfräuliches geblieben; bisweilen nahm es sogar einen Ausdruck von Ernsthaftigkeit, ja Herbheit an, der oft unvermittelt den des Frohsinns ablöste. Ihre Stirn, ihre Nase und ihr Kinn boten auch jene Harmonie der Linie dar, die mit der Harmonie der Proportion keineswegs zusammenfällt, und aus der sich die ästhetische Wirkung des Gesichts ergiebt; in dem charakteristischen Zwischenraum, der die Basis der Nase von der Oberlippe trennt, lag jene kaum merkliche und reizende Falte, die ein Kennzeichen der Keuschheit ist, und die Barbarossa an einer unter den Trümmer von Ikonium gefundenen Dianastatue so sehr bewunderte.

Allerdings ist die Liebe ein Vergehen; aber Fantine besaß noch eine Unschuld nach ihrem Fehltritt.

IV.
Tholomyès singt vor Freude ein spanisches Lied

Der ganze Tag, war von Anfang bis zu Ende fröhlich wie eine schöne Morgenröthe. Die ganze Natur schien ein Festgewand angelegt zu haben. Die Beete in Saint-Cloud athmeten süße Wohlgerüche aus; von der Seine stieg ein kühler Hauch empor; die Zweige gestikulierten im Winde; die Bienen plünderten die Jasminblüthen; das Bummlervölkchen der Schmetterlinge ließ sich auf die Schafgarbe, den Klee und den Taubhafer nieder, und in dem majestätischen Park des Königs von Frankreich trieb sich ein Haufe Vagabunden herum, die Vögel.

Unsere vier Paare freuten sich mit unermeßlichem Behagen des Sonnenscheins, des lieblichen Anblicks der Felder, Blumen und Bäume.

Und Angesichts des paradiesischen Kommunismus, den sie überall in der Natur sahen, konnten auch die Schönen nicht so grausam sein, nur das strenge Recht walten zu lassen und zwischen ihren Liebhabern und deren Freunden einen genauen Unterschied zu machen. Sie ließen sich Alle von Allen küssen, ausgenommen Fantine, die wahrhaft liebte und sich spröde verhielt. Ihr sinniges Wesen verdroß Favourite: »Du siehst immer absonderlich aus!« spöttelte sie.

Nach dem Frühstück sahen sich die vier Paare eine vor kurzer Zeit aus Indien bezogne Pflanze an, die zu jener Zeit ganze Schaaren von Parisern nach Saint-Cloud zog, ein sonderbares und reizendes Bäumchen, dessen unzählige und verworrene, überaus feine blätterlose Aestchen mit tausenden von weißen Röschen bedeckt waren.

Nach pflichtschuldiger Bewunderung des allerliebsten Gewächses riet Tholomyès: »Wie wär's Kinder, wenn wir uns einen Eselritt genehmigten? Ich poniere.« Sie mietheten also einen Eseltreiber und kehren über Vanves und Issy zurück. In letzterem Ort schaukelten die Herren mit starken Armen ihre Schönen in dem großen Netz, das zwischen den zwei, von dem Abt de Bernis besungenen Kastanienbäumen ausgespannt ist. Während die Kleider malerisch im Winde flogen, sang Tholomyès, der als Toulousaner – Toulouse ist mit Tolosa verwandt – sich spanisch aufgelegt fühlte, ein zur Situation passendes spanisches Lied:

Soy de Badajoz.
Amor me llama
Coda mi alma
Es en mis ojos
Ovequé ensennas
A' tus piernos

Nur Fantine wollte sich nicht schaukeln lassen, und wieder zankte Favourite: »Was das für eine Ziererei ist!«

Nach dem Ritt abermals ein großartiges Amüsement: Eine Kahnfahrt auf der Seine. Dann ging es zu Fuß von Passy nach der Barriere de l'Etoile. Trotzdem sie seit fünf Uhr Morgens auf den Beinen waren, begann hier das Vergnügen noch einmal. »Sonntag giebt's keine Müdigkeit!« predigte Favourite, und um drei Uhr saßen die vier Paare in einem Wagen der Rutschbahn, die damals auf dem Hügel Beaujon stand, und deren Schlangenlinie die Bäume der Champs-Elysées überragte.

Trotz alledem fand Favourite, daß man nie glücklich genug sein kann. »Wie steht's mit der Ueberraschung?« forschte sie von Zeit zu Zeit. »Geduld!« antwortete Tholomyès.

V.
Bei Bombarda

Nachdem sie die Rutschbahn gründlich ausgekostet, stellte sich endlich Müdigkeit und Hunger ein und so fielen sie bei Bombarda hinein, dem berühmten Restaurateur in den Champs-Elysées, der auch in der Rue de Rivoli ein Lokal hatte.

Ein großes, aber häßliches Zimmer mit Alkoven und Bett im Hintergrunde (denn da das Restaurant überfüllt war, stand kein anderer Raum zur Verfügung); zwei Fenster, von denen aus man durch die Ulmen eine Aussicht auf den Fluß und das Ufer hatte; eine herrliche Augustsonne, deren Strahlen das Zimmer überflutheten; zwei Tische, auf dem einen ein stolzer Berg von Blumensträußen, Mannes- und Frauenhüten, auf dem andern ein lustiger Wirrwarr von Schüsseln, Tellern, Gläsern und Flaschen; wenig Ordnung auf diesem Tisch und einige Unordnung darunter: Dies war das Stadium, wo gegen halb fünf des Nachmittags unsere um fünf Uhr Morgens begonnene Idylle angelangt war. – Die Sonne neigte sich allmählig ihrem Untergange zu, und ebenso endlich auch der Appetit unserer jungen Freunde.

Die Champs-Elysées, vom Sonnenschein und von Menschenmengen durchwogt, waren voller Licht und Staub, der beiden Elemente des Ruhmes. Die marmornen Pferdestatuen von Marly, die zu wiehern scheinen, prangten in goldigem Glanze. Equipagen fuhren hin und her. Eine Schwadron prächtiger Gardes du Corps, mit den Hornisten voran ritt die Avenue de Neuilly herunter; auf der Kuppel der Tuilerien wehte, von der niedergehenden Sonne rosig gefärbt, die weiße Fahne. Die Place de la Concorde, die damals ihren alten Namen die Place Louis XV. wieder angenommen hatte, war mit frohen Spaziergängern überfüllt. Viele von ihnen trugen die silberne Lilie an dem moirierten weißen Bande, das 1817 noch nicht ganz aus den Knopflöchern verschwunden war. Mitten unter dem Publikum, das ihnen fleißig applaudirte, sah man kleine Mädchen, welche, die Hände zum Reigen verschlungen, ein damals beliebtes, zur Niederschmetterung der Anhänger Napoleons bestimmtes Lied sangen. »Gebt uns unsern Vater wieder!« lautete der Refrain.

Leute aus den Arbeitervierteln, von denen manche nach dem Beispiel des feineren Publikums das Abzeichen der Bourbonen, die Lilien, trugen, hatten sich gleichfalls hier eingefunden; sie ritten Karussel und stachen nach den Ringen; andere saßen vor den Schänken und zechten; manche – es waren Druckerlehrlinge – stolzierten mit Papiermützen auf dem Kopfe einher und waren seelenvergnügt. Alles athmete Frohsinn. Es war eine friedfertige Zeit, wo die Bourbonen sich in Sicherheit wiegen konnten, wo ein spezieller Bericht des Polizeipräfekten Anglès an den König über die Bevölkerung der Vorstädte mit folgenden Zeilen schloß: »Alles wohl erwogen, Majestät, ist von diesen Leuten nichts zu befürchten. Sie sind sorglos und indolent wie Katzen. Das gemeine Volk in den Provinzen ist unruhig, die Pariser nicht. Es sind alles Leute von kleiner Statur. Zwei von ihnen, auf einander gestellt, gehören dazu, um die Länge eines Grenadiers zu erreichen. Denn merkwürdiger Weise hat die Natur des pariser Volks seit einem halben Jahrhundert abgenommen. Kurz, die Pariser der Vorstädte sind ungefährliche, gute Kanaillen.«

Daß eine Katze zu einem Löwen werden kann, halten Polizeipräfekten nicht für möglich; das Volk von Paris hat aber dieses Wunder fertig gebracht. Uebrigens hatten auch die Republiken des Alterthums eine höhere Meinung von der Katze, als der Präfekt Anglès; sie war bei ihnen das Sinnbild der Freiheit und die Korinther ließen, gleichsam der ungeflügelten Minerva des Piraceus zum Trotze, auf ihrem Versammlungsplatze die kolossale broncene Statue einer Katze errichten. Von dem Pariser Volke hatte auch die naive Polizei der Restauration eine »zu vortheilhafte« Meinung. So gut, wie man gewöhnlich annimmt, ist diese Kanaille keineswegs. Der Pariser ist unter den Franzosen, was einst der Athener unter den andern Griechen war. Keiner kann träger und leichtsinniger sein. Keiner vergißt so leicht wie er; aber man lasse sich dadurch nicht täuschen; winkt ihm der Ruhm, so ist er der wildesten Energie fähig. Man gebe ihm eine Pieke, so stürmt er die Tuilerieen und stürzt das Königthum; ein Gewehr, so gewinnt er ruhmreiche Schlachten. Ein Napoleon sowohl, wie ein Danton verließen sich auf ihn. Ruft ihn das Vaterland, so wird er Soldat; ist die Freiheit bedroht, so baut er Barrikaden. Man sehe sich vor. Sein Zorn kann Stoff zu Epopöen liefern, sein Kittel sich in eine Chlamys verwandeln. Nehmt Euch in Acht. Aus der ersten besten Straße macht er einen caudinischen Engpaß. Der Vorstädter wird groß, wenn die Stunde schlägt; der Kleine steht auf, sein Blick wird furchtbar, sein Atem wird ein Sturm, der die Alpen umblasen kann. Dem Arbeiter der pariser Vorstädte verdankt es die Revolution, daß sie mittels der Armee Europa erobern kann. Seine Hauptfreude ist Gesang und findet man das Lied, das seiner Natur entspricht, so kann man Wunder sehen. So lange er nur die Carmagnole singt, kann er nur einen Ludwig XVI. stürzen; mit der Marseillaise befreit er die Welt.

Nach dieser Randbemerkung zu dem Bericht des Polizeipräfekten Anglès wollen wir zu unsern vier Pärchen zurückkehren. Das Diner also ging zu Ende.

VI.
Wie man sich gegenseitig anbetet

Tisch- und Liebesgespräche sind so wenig greifbar wie Wolkendunst und Rauch.

Fameuil und Dahlia trällerten; Tholomyès trank; Sephine lachte; Fantine lächelte. Listolier amüsierte sich mit einer hölzernen Trompete, die er sich in Saint-Cloud zugelegt hatte; Favourite sah Blachevelle mit schmachtenden Blicken an und flötete:

»Blachevelle, ich bete dich an!«

Dies veranlaßte Blachevelle zu der Frage:

»Was würdest Du thun, Favourite, wenn ich aufhören würde dich zu lieben?«

»Was ich thun würde? Sage mir so etwas nicht einmal zum Spaß. Wenn Du aufhörtest mich zu lieben, würde ich dir nachstürzen, dich hauen, dich kratzen, dich mit Wasser begießen, dich arretieren lassen.«

Inniges geckenhaftes Vergnügen malte sich auf Blachevelles Antlitz ab. Favourite fuhr eifrig fort:

»Wirklich, auf die Wache ließe ich dich bringen! Das versichere ich dich, du infame Kanaille!«

Außer sich vor Wonne lehnte sich Blachevelle in seinem Stuhl zurück und schloß stolz die Augen.

Aber als Dahlia im allgemeinen Lärm Favourite die Frage zuflüsterte: »Bist Du wirklich so verschossen in deinen Blachevelle?« antwortete Fauvourite:

»Ich kann ihn nicht besehen. Er ist ein knickerig. Ich liebe einen kleinen, netten Menschen, der mir gegenüberwohnt Du kennst ihn wohl? Er beißt den Schauspieler heraus, und ich schwärme für die Schauspieler. Sobald er den Fuß ins Haus setzt, schreit seine Mutter ›Ach Du mein Gott, nun ist's mit meiner Ruhe vorbei!‹ Jetzt wird er gleich wieder losbrüllen. Lieber Sohn, du sprengst mir noch mal den Kopf mit deinem Geschrei! Er geht nämlich stets auf den Boden, und so hoch hinauf, wie er irgend kann, und singt und deklamiert, daß man ihn unten hört. Und zwanzig Sous verdient er schon den Tag bei einem Rechtsanwalt, dessen Schikanen er abschreibt. Er ist der Sohn eines Kantors von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas. Ein netter Mensch, kann ich dir sagen. Ich hab's ihm so stark angethan, daß er einmal, als ich Kuchenteig knetete, zu mir gesagt hat: ›Fräulein, machen Sie aus Ihren Handschuhen da – damit meinte er den Teig, der an meinen Fingern klebte, – machen Sie Strudel aus Ihren Handschuhen, dann esse ich Ihre Handschuhe.‹ So was Feines und Galantes kann bloß ein Künstler sagen. Solch ein netter Mensch! Ich bin auf dem besten Wege mich in den Kleinen zu vernarren. Aber zu Blachevelle sage ich doch, daß ich ihn anbete. Nicht wahr? Ich verstehe mich aufs Lügen?«

Hier hielt Favourite inne, seufzte und fuhr fort:

»Dahlia, mir ist trübselig zu Muthe. Den ganzen Sommer ist es in einem Regen geblieben, und windig, und ich kann den ewigen Wind nicht ausstehen. Ganz krank werde ich davon. Blachevelle ist ein Filz. Kaum, daß Schoten auf dem Markt zu haben sind. Man weiß nicht, was man essen soll. Ich habe den Spleen, wie die Engländer sagen. Und die Butter ist theuer! Und das Allerschlimmste ist, wir essen in einem Zimmer, wo ein Bett steht. Das verekelt mir das Leben.

VII.
Die Weisheit des Tholomyès

Währenddem sangen die Einen, Andre sprachen überlaut und Alle durcheinander, was einen wüsten Lärm ergab. Da gebot Tholomyès Ruhe.

»Reden wir nicht aufs Gerathewohl, und überstürzen wir uns nicht. Wer seine Zuhörer entzücken will, der überlege, was er spricht. Wer aus dem Stegreif redet, wird leicht öde. Also nicht zu hastig, meine Herren. Schlampampen wir mit Würde; würzen wir unsere Fresserei mit Andacht. Eile mit Weile. Seht Euch den Frühling an: Kommt er zu hitzig herbeigerannt, so bringt er zu viel Kälte mit, und wir erfrieren. Blinder Eifer thut der Gemächlichkeit Eintrag. Also keinen Eifer, meine Herren!«

Ein dumpfes Gemurmel unterbrach den Redner.

»Tholomyès, laß uns zufrieden!« rief Blachevelle.

»Nieder mit dem Tyrannen!« donnerte Fameuil.

»Der Ulk ist zollfrei!« mahnte Listolier.

»Siehe, wie gesetzt ich bin!« prahlte Fameuil.

»Auf einem magern Sitzorgan«, spottete Tholomyès. Alles lachte über den armen Fameuil, und Tholomyès ergriff wieder die Zügel der Herrschaft.

»Freunde,« beruhigte er großmüthig, »laßt Euch durch meinen Schlager nicht niederschlagen. Mein Kalauer war ein Geschenk des Himmels, und nicht alles, was vom Himmel fällt ist schön. So ist z. B. der Mist, den die Vögel gratis auf uns niederfallen lassen, fast ebenso ungenießbar, wie der Mist, den unsere Professoren reden und den wir mit schwerem Mammon bezahlen. Ich erlaube euch also Euer Verwundrungsmaul nicht zu weit aufzusperren, wenn mein Genie im Fluge sich eines Kalauers entledigt. Freilich würde ich mir andrerseits auch verbitten, daß ihr den Kalauer unterschätzt. Die erhabensten Erdensöhne und die allerniedlichsten Erdentöchter haben Wortspiele verübt. Gekalauert hat Christus über Petrus, Moses über Isaak, Aeschylus über Polynices, Kleopatra über Oktavian. Ist dieses richtig demonstrirt und konstatiert, so kehre ich zu meiner Vermahnung zurück. Ich wiederhole es geliebte Brüder und geliebtere Schwestern: Kein Eifer, kein Sammelsurium, keine Ueberpurzelung mit Witzen, Wortspielen und anderen Ulken. Thuet Eure Ohren auf, nicht sehr weit auf, denn solches thun nur die Esel, nein! nur so weit, daß Ihr meine Rede vernehmen könnet. Denn ich gleiche dem Seher Amphiaraus an Weisheit und daß mein Kopf hell ist wie Caesars, könnt Ihr schon daraus erschließen, daß er ebenso kahl ist, wie seiner war. Ein jedes Ding hat seine Grenze, selbst ein Rebus oder auf lateinisch: Est modus in rebus. Folglich habe auch ein Diner seine Grenze. Die Vielfresserei bestraft den Vielfresser, indem sie ihm den Magen verdirbt. Und merkt Euch: Alle unsere Triebe und Leidenschaften, selbst die Liebe, haben einen Magen, der nicht überfüllt werden darf. Immer und überall muß man bei Zeiten Finis! sagen, seinen Appetit beim Schlafittchen kriegen, seine Gelüste und Begierden dingfest machen. Glaubet meinen Worten, habet Vertrauen zu meinem Gripps. Daraus, daß ich Examina bestanden, daß ich den Unterschied zwischen einem anhängigen und einem noch zu erhebenden Prozesse kenne, daß ich eine These auf lateinisch vertheidigt habe über die intelligente Applizierung der Folter durch den Quästor Alfantius Dummerianus, daraus folgt noch nicht unwiderleglich, daß ich ein Rindvieh bin. Befleißet Euch also der Mäßigkeit. So wahr ich Felix Tholomyès heiße, ich rede gut. Wohl dem, der, sobald die Stunde geschlagen hat, einen heldenmütigen Entschluß faßt und wie Sulla oder der Origenes abdankt.«

Favourite hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. »Felix! Ein hübscher Name. Das ist Lateinisch und bedeutet so viel wie Prosper.«

Tholomyès fuhr fort:

»Quiriten, gentlemen, caballeros, Freunde! Wollet Ihr die Begierden des Fleisches dämpfen und Amor ein Schnippchen schlagen? So vernehmet folgendes Rezept: Limonade, viel Bewegen, Bachulken, schindet Euch, sägt Holz, schlaft nicht, schlagt Euch den Leib voll mit salpetrigen Getränken, Seerosenthee, Mohnmilch, Keuschbaumemulsionen, würzet diese Genüsse mit einer knappen Diät, dazu kalte Bäder, Kräutergürtel, Abwaschungen mit Bleibaumlikör und Weinessigumschläge.«

»Etwas Weibliches ist mir lieber!« meinte Listolier.

»Den Weibern ist nicht zu trauen!« versetzte Tholomyès. »Das Weib liebt Veränderung, ist falscher Art und wandelt gern krumme Wege. Wenn sie die Schlangen nicht leiden kann, so thut sie das nur aus Konkurrenzneid.

»Tholomyées, rief Blachevelle, Du bist besoffen!«

»Na ob!« räumte Tholomyès ein.

»Dann sei gemüthlich.«

»Meinetwegen.« Er füllte sein Glas bis zum Rande und erhob sich von seinem Sitze. »Es lebe der Wein! Ninic, te, Bache, canam. Verzeihung, meine Damen, daß ich spanisch spreche. Beweis hierfür ist der Spruch: Wie ein Volk ist, so ist sein Weinmaß. Die kastilische Arroba faßt sechszehn Liter, der Cantaro von Alicante zwölf, die Almuda der kanarischen Inseln fünfundzwanzig, der Cuartin der Balearen sechsundzwanzig, der Stiefel Peters I. von Rußland dreißig. Ein Lebehoch dem Zaren, der ein großer Mann war, und ein noch höheres seinem noch größeren Stiefel! Einen guten Rath, meine Damen! Irren Sie Sich, wenn es Ihnen paßt, küssen Sie einen Andern. Irren ist menschlich, und von Einem zum Andern zu irren ist lieblich. Meine Damen, ich verehre Sie Alle, o Sephine, o Josephine. Sie sind reizend, schade nur, daß ihr Gesicht ein wenig schief gerathen ist. Es sieht aus, als hätte sich einmal Einer aus Versehen auf ihren Kopf gesetzt, und seitdem sind Ihre holden Züge etwas verschoben. Was Favourite anbetrifft, o Nymphen und Musen! Eines Tages sah Blachevelle ein schönes Mägdelein über einen Rinnstein schreiten. Sie hatte weiße knappe Strümpfe an, was in den Strümpfen steckte, war schön, und es gefiel ihm, und er empfand Liebe. Sie hieß Favourite. O Favourite, Du hast jonische Lippen. Es war einmal ein griechischer Maler, genannt Euphorion, dem hatte man den Beinamen ›der Lippenmaler‹ gegeben. Nur dieser Grieche wäre wert gewesen, Deine Lippen zu malen. Höre mich! Vor Dir gab es nichts Schönes auf Erden. Du verdienst den Apfel, den Paris der Venus gab, zu besitzen oder ihn aufzuessen wie Eva. O Favourite, ich höre auf Sie zu duzen, weil ich jetzt von der Poesie zur Prosa übergehe. Sie sprachen so eben von meinem Namen. Das hat mich tief gerührt; aber mißtrauen wir allen Worten und Namen. Es kann einer Reich heißen und sein Leben lang an unheilbarem Dalles kranken. Auch Ihnen, Fräulein Dahlia, möchte ich rathen, sich Rosa zu nennen. Die Rose riecht gut und der Wohlgeruch ist das Beste an der Blume, wie der Verstand an dem Weibe. Ueber Fantine will ich nichts sagen. Sie ist eine Träumerin, eine Denkerin, eine zarte Mimose; ein Schatten in Gestalt einer Nymphe und mit der Sittsamkeit einer Nonne, die als Grisette unter Grisetten lebt, aber sich in das Reich der Illusionen flüchtet, die singt und betet und zu der Azurbläue hinaufschaut, ohne zu wissen, was sie da sieht, und was sie thut; und ihre Augen über einen himmlischen Garten hinschweifen läßt, wo mehr Vögel herumfliegen, als es auf der Welt giebt. O Fantine, wisse: Ich Tholomyès, bin eine Illusion; aber sie versteht mich nicht, die blonde Tochter einer Chimaere. Im Uebrigen ist sie eitel Jugendfrische, Süßigkeit, Holdseligkeit, lichte Klarheit. O Fantine, Mägdelein du verdienst Margarete, das ist verdolmetscht Perle, zu heißen, denn du bist eine Perle von schönstem Wasser. Ein zweiter Rath, meine Damen. Heirathen Sie nicht. Die Ehe ist wie Pfropfreis. Es kann veredeln oder auch nicht. Vermeiden Sie dieses Risiko. Aber ach! ich rede in den Wind! Die jungen Mädchen können das Heiraspeln nicht lassen, und was wir Weisen auch reden mögen, wird keine Putzmacherin oder Schneiderin unterlassen von einem Diamantenprinzen zu träumen, der sie eines schönen Tages zum Ehegemahl erküren wird. Sei es drum; aber, Ihr Schönen, merket Euch folgende Lehre: Ihr esset zu viel Zucker, und dies ist ein großer Fehler, allerdings Euer einziger. Aber, Freundinnen, der Zucker ist ein Salz. Ein jedes Salz zieht das Wasser an und trocknet folglich aus. Der Zucker aber ist das austrocknendste unter allen Salzen. Er saugt die flüssigen Bestandtheile des Blutes auf; daher Gewinnung, dann Verdickung des Blutes; daher Tuberkulose und endlich der Tod. Deshalb ist die Zuckerkrankheit mit der Schwindsucht verwandt. Also naschet keinen Zucker, und Ihr werdet am Leben bleiben. Nun wende ich mich an das Mannsvolk. Meine Herren, machen Sie Eroberungen. Stibitzen sie sich gegenseitig Ihre Liebchen. Chassez-Croisez. In Liebessachen hört die Freundschaft auf. Handelt es sich um ein hübsches Mädchen, so sind die Feindseligkeiten eröffnet. Kein Pardon! Krieg bis aufs Messer! Ein hübsches Mädchen ist ein casus belli. In allen Invasionen der Geschichte spielt der Unterrock die Hauptrolle. Romulus hat die Sabinerinnen, Wilhelm die Angelsächsinnen, Caesar die Römerinnen geraubt. Der Mann, der nicht mit etwas Liebem versehen ist, schwebt wie ein Geier über den Liebchen Andrer, und ich für mein Theil rufe allen den Unglücklichen, die unbeweibt sind, Bonapartes großartige Proklamation zu: ›Soldaten, Euch mangelt es an Allem. Der Feind hat Alles. Greift zu.‹«

Tholomyès brach ab.

»Verpuste Dich, Tholomyès!« rieth Blachevelle.

Zu gleicher Zeit gab er der Rührung, die Tholomyès Weisheit in ihm erzeugt hatte, angemessenen Ausdruck, indem er, sekundirt von Listolier und Fameuil, ein erbauliches Lied anstimmte. Sinn hatte es nicht, denn es bestand aus zusammengewürfelten Wörtern; aber es wurde nach einer wehmüthigen, feierlichen Bänkelsängermelodie vorgetragen, die der weihevollen Stimmung des Augenblicks angepaßt war. Leider übte es keinen Einfluß auf Tholomyès, der wieder sein Glas füllte und fortfuhr:

»Nieder mit der Weisheit und Vernunft! Vergeßt Alles, was ich gesagt habe. Ich bringe einen Toast aus auf die Freude! Gesellen wir dem Jus den Ulk und den Suff zu. Vermählen wir Justinian mit der Fidelität! Freue dich, Weltall! Ich bin glücklich. Wie die Vögel sich amüsieren! Sei mir gegrüßt, Sommer. O Parke und Gärten, wie schön seid ihr, mit euern döseligen Kommisjungen und allerliebsten Kindermädchen, die nicht blos die Kinder, die schon da sind, warten, sondern auch das Fundament zu anderen legen! Die Pampas könnten mir gefallen, aber ich ziehe die Arkaden des Odeons vor. Umarme mich, Fantine!«

Er irrte sich aber und küßte Favourite.

VIII.
Tod eines Pferdes

»Bei Bombarda ist es hübscher als bei Edon«, behauptete Sephine.

»Bewahre!« entgegnete Blachevelle. »Edon ist luxuriöser eingerichtet. Fast asiatisch. Bei Bombarda sind die Messerhefte aus Silber, bei Edon aus Horn.«

»Dort«, sagte Tholomyès und zeigte auf den Invalidendom, »sind Welche, die nicht für das Silber schwärmen. Diejenigen, denen man silberne Kinnbacken eingesetzt hat.«

Nach einer Pause fragte Fameuil:

»Wen ziehst Du vor, Descartes oder Spinosa?«

»Desaugiers!« entschied Tholomyès, trank sein Glas aus und fuhr fort:

»Ich habe nichts gegen das Leben einzuwenden. Es ist nicht alles zu Ende auf der Welt, so lange man noch Unsinn reden kann. Den unsterblichen Göttern danke ich dafür. Man lügt, aber man lacht. Man behauptet, aber man zweifelt. Aus dem Syllogismus entwickelt sich Unerwartetes, und das ist schön. Noch giebt es hienieden Menschen, die mit der Vexirschachtel des Paradoxes umzugehen wissen. Was Sie jetzt so gleichgültig trinken, meine Damen, ist Madeira, Coural das Freiras, das 317 Klafter über dem Meeresspiegel liegt, und diese 317 Klafter verkauft ihnen der splendide Restaurateur Bombarda für vier und einen halben Franken. Gepriesen sei Bombarda. Er könnte sich messen mit Munophis von Elephanta, wenn er mir eine Bajadere zulegen und Thygelion von Chäronea, wenn er mir eine Hetäre nachweisen könnte, denn, o meine Damen, es gab Bombardas in Griechenland und Aegypten. Dies theilt uns Apulejus mit. Immer dasselbe und nie etwas Neues! Das ist der Lauf der Welt. Nil sub sole novum, sagt Salomo. In der Liebe sind alle gleich! sagt Virgil.«

So hätte Tholomyès noch lange schwabbeln können, wenn nicht draußen auf dem Pflaster plötzlich ein Pferd gestürzt wäre, was einen Auflauf verursachte. Bei dem Lärm liefen Alle auf die Fenster zu und Tholomyès verstummte.

»Armes Thier!« seufzte Fantine.

Worauf Dahlia spöttelte:

»Jetzt jammert Fantine gar um ein Pferd! Wie kann man so dämlich sein!«

In dem Augenblick trat Favourite mit verschränkten Armen und zurückgeworfenem Kopfe vor Tholomyès hin und fragte mit energischem Ton:

»Wo bleibt denn die versprochene Ueberraschung?«

»Ja richtig. Der Augenblick ist gekommen. Meine Herren, die Stunde der Ueberraschung hat geschlagen. Meine Damen, warten Sie einige Minuten auf uns.«

»Zuerst ein Kuß!« erklärte Blachevelle.

»Auf die Stirn«, ergänzte Tholomyès.

Jeder drückte feierlich seiner Geliebten einen Kuß auf die Stirn; dann gingen sie im Gänsemarsch der Thür zu, indem sie den Zeigefinger auf den Mund hielten.

Favourite klatschte in die Hände.

»Das fängt ja spaßhaft an«, sagte sie.

»Bleibt nicht zu lange!« mahnte Fantine. »Wir warten auf Euch.«

IX.
Das lustige Ende der Lustigkeit

Als die jungen Mädchen allein waren, stellten sie sich zu zweien an die Fenster und neigten sich hinaus.

Die jungen Leute kamen aus dem Restaurant Bombardo Arm in Arm, wandten sich zu ihren Damen um, grüßten sie lachend und verschwanden in der Menge, die auf den Champs-Elysés hin- und herwogte.

»Bleibt nicht zu lange!« rief ihnen Fantine zu.

»Was werden sie uns wohl mitbringen?« fragte Sephine.

»Doch gewiß etwas recht Hübsches!« bestimmte Dahlia.

»Es muß etwas Goldenes sein!« sagte Favourite.

Ihre Aufmerksamkeit wurde bald in Anspruch genommen durch das rege Treiben, das sich jetzt an dem Ufer des Flusses einwickelte. Es war die Stunde, wo die Postkutschen ihre Fahrt antraten. Damals waren die Champs-Elysée der wichtigste Ausgangspunkt für den Postverkehr mit dem Osten und Westen und die meisten Deligencen fuhren an dem Fluß entlang zu dem Thor von Passy hinaus. Eins nach dem andern von diesen gelb und schwarz angestrichenen, gewaltigen, schwerfälligen, mit Gepäck überladenen, mit Menschen vollgestopften Fuhrwerke rasselte in rasendem Galopp, Funken sprühend und Staub aufwirbelnd durch das Menschengewirr. Dieser Lärm machte unsern jungen Mädchen Spaß. Favourite rief:

»Ein Lärm, als wenn Ketten auseinander gerissen werden!«

Eine Deligence, die man durch die Ulmenkronen schwer erkennen konnte, hielt plötzlich an und setzte sich dann wieder in Bewegung.

»Sonderbar!« meinte Fantine. »Ich glaubte, die Deligencen hielten nicht an.«

Favourite zuckte die Achseln.

»Die Fantine ist komisch. Ich besuche sie aus Neugierde, – weil sie mir Spaß macht. Ueber die einfachsten Dinge staunt sie. Gesetzt ich will mitfahren und sage: Ich gehe voraus. In der und der Straße steige ich ein. Gut. Ich warte also an der betreffenden Stelle, die Deligence kommt, hält an und ich steige ein. Das passiert alltäglich. Aber Du weißt nicht, wie's in der Welt zugeht, kleine Fantine.«

So verging eine geraume Zeit. Endlich fuhr Favourite auf und rief ungeduldig:

»Wann kommt denn die famose Ueberraschung?«

»Sie bleiben sehr lange!« seufzte Fantine.

In diesem Augenblick trat der Kellner, der sie bedient hatte, herein, mit einem Papier, das wie ein Brief aussah.

»Was ist das?« fragte Favourite.

»Ein Billet, das die Herren hinterlassen haben und das ich den Damen geben sollte.«

»Warum ist das nicht gleich gebracht worden?«

»Weil die Herren befohlen haben, es sollte den Damen erst nach Verlauf einer Stunde zugestellt werden.

Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand:

Was? Keine Adresse. Aber statt dessen steht darauf:

Dies ist die Ueberraschung.

Sie erbrach hastig den Brief und las, denn sie konnte lesen:

»O theure Geliebte!

Wisset, daß wir Eltern haben. Was Eltern sind, davon habt Ihr keine rechte Wissenschaft. So was nennt der Civil- oder Anstandskodex Vater und Mutter. Diese Eltern also seufzen, diese Alten sehnen sich nach uns, diese guten Männlein und Weiblein schelten uns verlorne Söhne, wünschen, daß wir zurückkehren, und erbieten sich uns zu Ehren Kälber zu schlachten. Da wir tugendhaft sind, gehorchen wir ihnen. Zur Zeit, wo ihr dieses leset, bringen uns fünf edle Rosse heimwärts, zu unsern Papas und Mamas. Wir schrammen ab, um uns der gewählten Ausdrucksweise unsrer Musterschriftsteller zu bedienen. Wir machen uns auf die Strümpfe, wir sind jetzt schon auf den Strümpfen. Die Deligence entreißt uns dem Abgrund, und der Abgrund seid Ihr, holde Kleinen! Wir kehren in die Gesellschaft, zur Pflicht, zur Ordnung im schnellsten Trabe, zwölf Kilometer per Stunde zurück. Es liegt im Interesse des Vaterlands, daß wir wie jeder Andre, Präfekten, Familienväter, Feldhüter und Staatsräthe werden. Heget also Ehrfurcht vor uns, denn wir üben Selbstverleugnung. Beweinet uns recht schnell und suchet baldigen Ersatz für uns. Wenn dieser Brief Euch das Herz zerreißt, so vergeltet ihm Gleiches mit Gleichem. Lebet wohl.

Nahezu zwei Jahre lang haben wir Euch glücklich gemacht. Tragt es uns nicht nach.

Unterzeichnet: Blachevelle. 
Fameuil.      
Listolier.       
Felix Tholomyès.  

P.S. Die Zeche ist bezahlt.«

Die vier jungen Mädchen sahen einander an.

Favourite brach zuerst das Stillschweigen.

»Es ist ein ganz guter Witz, das muß man sagen.«

»Es ist zum Lachen,« stimmte Sephine bei.

»Das ist ein Einfall von Blachevelle,« sagte Favourite. »Nun könnte ich mich in ihn verlieben. Die alte Geschichte. Sobald er weg ist, liebt sie ihn.«

»Bewahre!« entgegnete Dahlia. »Das hat Tholomyès ausgeheckt. Das ist doch leicht zu merken.«

»Dann nieder mit Blachevelle, und Tholomyès lebe hoch!« rief Favourite.

»Es lebe Tholomyès!« schrieen Dahlia und Sephine.

Und die drei lachten laut auf.

Fantine lachte mit.

Aber eine Stunde später, als sie nach Hause gekommen war, weinte sie. War doch Tholomyès, wie schon erwähnt, ihre erste Liebe, und die Aermste hatte ein Kind.


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