Victor Hugo
Die Elenden. Erster Theil. Fantine
Victor Hugo

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Zweites Buch. Der Fehltritt

I.
Am Abend eines Tagemarsches

An einem der ersten Tage des Monats Oktober im Jahre 1815 betrat ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang ein Wanderer die kleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die zu dieser Zeit am Fenster oder auf ihrer Thürschwelle standen, betrachteten den Mann mit ängstlichen Gefühlen. War es doch schwer sich einen elenderen Anblick vorzustellen, als dieser unbekannte Vorübergehende darbot. Es war ein untersetzter starker Mann, der sechsundvierzig bis achtundvierzig Jahre zählen mochte. Er trug eine Mütze, deren lederner Schirm sein sonnengebräuntes, mit Schweiß bedecktes Gesicht zum Theil barg. Sein grobes gelbes Hemd, das oben durch einen kleinen silbernen Anker zusammengehalten wurde, ließ seine haarige Brust sehen. Er trug ein, wie ein Strick zusammengedrehtes Halstuch, verschlissene Beinkleider aus blauem Zwillich, von denen das eine Bein am Knie weiß, daß andere durchlöchert war, einen alten grauen zerlumpten Kittel, dem am Ellenbogen ein mit Bindfaden genähter Flick aufgesetzt war, einen sehr vollen, gut zugeschnallten und ganz neuen Tornister, einen gewaltigen Knotenstock und eisenbeschlagene Schuhe ohne Strümpfe. Das Kopfhaar war sehr kurz geschoren, der Bart dagegen sehr lang.

Niemand kannte diesen müden, über und über mit Staub bedeckten Wanderer. Woher kam er? Von Süden, vielleicht vom Meere her. Denn er betrat die Stadt auf derselben Straße, die sieben Monate vorher den Kaiser Napoleon auf seinem Zuge von Cannes nach Paris hatte einziehen sehen. Der Fremde mußte offenbar den ganzen Tag marschiert haben. Einige Frauen aus dem unterhalb der Stadt gelegenen Flecken hatten gesehen, wie er unter den Bäumen des Boulevard Gassendi, am Ende der Promenade, stehen geblieben war, um aus der Fontaine zu trinken. Er schien recht durstig zu sein, denn zweihundert Schritte weiter wurde er von Kindern beobachtet, wie er aus der Marktfontaine abermals trank.

An der Ecke der Rue Poichevert angelangt, wandte er sich links und ging auf das Stadthaus zu. Hier trat er ein und kam nach einer Viertelstunde wieder heraus. Dicht bei der Thür saß ein Gendarm auf einer steinernen Bank, auf der am 4. März der General Drouot gestanden und dem verwunderten Volke die Proklamation des Kaisers Napoleon vorgelesen hatte. Unser Wanderer nahm seine Mütze ab und grüßte demüthig den Gendarmen.

Dieser sah ihn, ohne ihm zu danken, aufmerksam an, folgte ihm mit den Augen und ging dann in das Rathhaus hinein.

Es gab zu der Zeit in Digne eine sehr gute Herberge »zum Kreuze.« Der Wirt hieß Jacquin Labarre und erfreute sich in der Stadt einer besondern Hochachtung wegen seiner Verwandtschaft mit einem andern Labarre, der die Herberge zu den »Drei Dauphins« in Grenoble besaß und bei der Leibwache gedient hatte. Zur Zeit der Landung Napoleons bei Cannes waren über diese Herberge »zu den drei Dauphins« ganz sonderbare Gerüchte umgegangen. Es hieß, der General Bertrand sei, als Fuhrmann verkleidet, im Monat Januar oft dort eingekehrt, um an die Soldaten Ehrenkreuze und an die Civilisten Napoleond'ors zu vertheilen. Thatsächlich aber hatte der Kaiser bei seinem Einzug in Grenoble die Einladung, im Präfekturgebäude Wohnung zu nehmen, mit Dank abgelehnt, indem er zu dem Bürgermeister sagte: »Ich kehre bei einem rechtschaffenen Gastwirt, den ich kenne, ein« und hatte in den drei Dauphins logirt! Die große Ehre, die so dem Labarre in Grenoble zu Theil wurde, warf noch fünfundzwanzig Meilen weit einen Abglanz auf den Labarre in Digne. Man rühmte von diesem: »Er ist ein Vetter von dem in Grenoble.«

Nach dieser Herberge »zum Kreuze«, der besten in der der Stadt, lenkte unsrer Wanderer seine Schritte. Er trat in die Küche ein, deren Thür unmittelbar auf die Straße hinausging. Alle Kochherde und Backöfen waren im Gange, und im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Der Wirt stand am Herde und hatte alle Hände voll zu thun mit der Zubereitung eines üppigen Abendessens, das für eine sehr vergnügte Gesellschaft von Frachtfuhrleuten in einem Nebenzimmer bestimmt war. Ißt und trinkt doch, wie Jedem, der viel gereist hat, bekannt ist, Niemand besser als die Fuhrleute. Am Kamin drehte sich am Bratspieß ein von Repphühnern flankirtes fettes Murmelthier und auf den Kochherden brieten zwei große Karpfen aus dem See von Lauzet und eine Forelle aus dem See von Alloz.

Als der Wirth die Thür gehen und einen neuen Gast hereinkommen hörte, fragte er ohne den Kopf umzuwenden:

»Was wünscht der Herr?«

»Ein Abendessen und ein Nachtlager.«

»Nichts leichter, als das«, erwiderte der Wirt. In demselben Augenblick aber wandte er sich um, überflog mit einem Blicke den Ankömmling von Kopf bis zu Fuß und ergänzte seine Antwort mit der Einschränkung: »Wer bezahlt!«

Der Fremde holte eine große lederne Börse aus einer Tasche seines Kittels hervor und antwortete:

»Ich habe Geld.«

»In dem Fall stehe ich zu Diensten.«

Der Mann steckte die Börse wieder ein, nahm seinen Tornister ab, stellte ihn in der Nähe der Thür an die Erde, behielt seinen Stock in der Hand und ließ sich auf eine Fußbank vor dem Kamin nieder. Digne liegt im Gebirge und die Oktoberabende sind daselbst kalt.

Währenddem musterte der Wirt, indem er überall herumhantirte, den Ankömmling.

»Wird bald gegessen?« fragte dieser.

»Gleich!« lautete der Bescheid des Wirtes.

Während der Gast sich am Kamin wärmte, zog der wackre Wirt Jaqcuin Labarre hinter seinem Rücken einen Bleistift aus der Tasche und riß von einer alten Zeitung, die sich aus einem kleinen Tisch am Fenster herumtrieb, eine unbedruckte Ecke ab. Auf diesen Fetzen Papier schrieb er ein paar Zeilen, faltete ihn ohne ihn zuzusiegeln und übergab ihn einem Jungen, den er in der Küche und als Laufburschen in seinem Dienst hatte. Diesem flüsterte er einige Worte ins Ohr, worauf der Junge spornstreichs davon eilte, nach dem Stadthaus zu.

Der Gast hatte von dem ganzen Vorgang nichts bemerkt.

Nach einer Weile fragte er wieder: »Wird bald gegessen!« und abermals antwortete der Wirt: »Gleich!«

Bald darauf kam der Küchenjunge mit dem Stück Papier zurück. Der Wirt faltete es hastig auseinander, wie Jemand, der die Antwort mit Ungeduld erwartet hat. Er schüttelte den Kopf, während er den Zettel las und sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann trat er vor den Gast, der in trübe Gedanken versunken schien.

»Guter Freund, ich kann Sie nicht aufnehmen.«

Der Gast richtete sich auf seinem Sitz empor.

»Wieso? Haben Sie Angst, daß Sie kein Geld von mir kriegen? Soll ich vorausbezahlen? Ich habe Geld, sage ich Ihnen.«

»Nicht darum.«

»Ja, warum denn aber?«

»Sie haben Geld . . .«

»Ja gewiß«, bestätigte der Fremde.

»Aber ich habe kein Zimmer für Sie.«

»Dann lassen Sie mich im Stall schlafen.«

»Geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil die Pferde allen Platz im Stall brauchen.«

»Gut, dann weisen Sie mir irgend einen Winkel auf dem Boden an. Ein Bund Stroh werden Sie ja auch wohl noch haben. Wir können ja nach dem Essen darüber sprechen.

»Ich kann Ihnen nichts zu essen geben.«

Diese in ruhigem Tone, aber mit Nachdruck abgegebene Erklärung machte den Gast stutzig. Er erhob sich von seinem Sitze.

»Das ist ja noch schöner! Ich falle um vor Hunger. Ich habe seit Sonnenaufgang marschirt. Wenn ich Geld habe, muß ich doch zu essen bekommen.«

»Ich habe aber nichts,« entgegnete der Wirt.

Der Fremde lachte laut auf und wies mit dem Kopf nach dem Kamin und dem Herde.

»Sie haben nichts! Ist das nichts?«

»Das ist alles bestellt.«

»Von wem?«

»Von den Herren Fuhrleuten.«

»Wie viele sind das?

»Zwölf.«

»Damit können Zwanzig reichen.«

»Sie haben alles bestellt und vorausbezahlt.«

Der Fremde setzte sich wieder und fuhr, ohne heftig zu werden, fort:

»Ich bin in einer Herberge, ich habe Hunger, also bleibe ich.«

Jetzt beugte sich der Wirt zu ihm nieder und sagte mit einer Betonung, bei der sein Gast zusammenschrak! »Gehen Sie!«

Der Fremde hatte sich gerade niedergebückt und stieß mit der eisernen Zwinge seines Stockes einige Kohlen in das Feuer. Er wandte sich hastig um, aber als er den Mund zu einer Erwiderung aufthat, sah ihm der Wirt fest in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort: Lassen wir die überflüssigen Redensarten. Soll ich Ihnen sagen, wie Sie heißen? Jean Valjean. Und wer Sie sind? Vorhin, als Sie hereinkamen, habe ich schon einen richtigen Animus gehabt und habe auf dem Stadthaus nachfragen lassen. Können Sie lesen?

Bei diesen Worten überreichte er dem Fremden den Zettel, der zwischen dem Stadthaus und der Herberge hin- und hergewandert war . . . Der Gast überflog ihn mit einem Blicke. Dann fuhr der Wirt nach einer Pause fort:

»Ich bin aus Grundsatz gegen Jedermann höflich. Gehen Sie.«

Der Fremde ließ den Kopf auf die Brust sinken, hob den Tornister von der Erde auf und ging.

Er ging die Hauptstraße entlang. Vor sich hin, auf's Gerathewohl, dicht an den Häusern, wie Einer, dem eine Demüthigung widerfahren, und der infolgedessen schwermüthig gestimmt ist. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um. Hätte er es gethan, so würde er gesehen haben, wie der Gastwirt und um ihn herum alle seine Gäste, so wie andres Publikum ihm nachschauten, nach ihm zeigten, sich lebhaft unterhielten, und hätte aus ihren mißtrauischen und ängstlichen Blicken schließen können, daß binnen Kurzem seine Ankunft wie ein wichtiges Ereignis ausposaunt sein würde.

Aber er merkte nichts von alle dem. Die Unglücklichen sehen sich nicht um. Sie wissen auch so, daß das Unglück hinter ihnen geht.

So schlich er eine Zeitlang dahin, durch Straßen, die er nicht kannte, ohne seine Müdigkeit zu beachten, wie dies bei schwermüthiger Stimmung der Fall zu sein pflegt. Plötzlich aber meldete sich wieder der Hunger. Die Nacht brach herein. Er sah sich um, ob er nicht irgend einen Unterschlupf finden könne.

Aus dem feinen Gasthaus war er hinausgewiesen worden; er suchte also irgend ein bescheidenes Logirhaus, irgend ein armseliges Loch.

In dem Augenblick flammte gerade am Ende der Straße ein Licht auf, und ein Kiefernzweig an einem eisernen Ständer zeichnete sich an dem weißen Abendhimmel ab. Er ging darauf zu.

Es war in der That eine Schänke, die in der Rue de Chaffaut.

Der Fremde blieb einen Augenblick davor stehen und betrachtete durch das Fenster einen niedrigen Saal, der von einer kleinen Lampe und einem hellen Kaminfeuer beleuchtet war. Es waren einige Gäste darin. Der Wirt stand am Kamin und wärmte sich. Ueber dem Feuer hing ein eiserner Topf an einem Kesselhacken.

Diese Schänke, in der man auch logieren kann, hat zwei Thüren, von denen die eine nach der Straße hinausgeht, und die andere nach einem Hofe, in welchem Dünger liegt.

Zu der Straßenthür wagte der Fremde sich nicht hinein. Er schlich sich in den Hof, blieb nochmals stehen, drückte auf die Klinke und machte die Thür auf.

»Wer ist da?« rief der Wirt.

»Jemand, der um ein Abendessen und ein Nachtlager bittet.«

»Sehr wohl. Das kann man hier kriegen.«

Er trat ein. Alle Gäste sahen nach ihm hin, während die Lampe von der einen und das Kaminfeuer von der andern Seite ihn beleuchteten. So musterte man ihn eine Zeit lang, während er seinen Tornister aufschnallte.

Der Wirt sagte dann zu ihm: »Hier ist ein gutes Feuer. In dem Topf kocht das Abendbrod. Kommen Sie näher, guter Freund, und wärmen Sie Sich!«

Der Fremde setzte sich, hielt seine wund gelaufenen Füße an das Kaminfeuer und sog den angenehmen Duft ein, der dem Kochtopf entstieg. Derjenige Theil seines Gesichts, den seine tief heruntergezogene Mütze noch sehen ließ, drückte Behagen aus und erhellte einigermaßen die leidensvollen Falten, die fortgesetztes Elend um seinen Mund gebildet hatte.

Das Profil des Fremden deutete auf Festigkeit und Energie. Seine Züge ließen auf ein sonderliches Gemisch von Demuth und Strenge schließen. Die Augen leuchteten unter den Augenbrauen wie Feuer aus einem Gestrüpp hervor.

Zufälliger Weise befand sich unter den Gästen in diesem Lokal auch ein Fischhändler, der kurz zuvor sein Pferd bei Labarre untergebracht hatte. Der Mann erkannte in dem neuen Ankömmling ein verdächtiges Subjekt, dem er am Morgen eben dieses Tages zwischen Bras d'Asse und – wenn ich mich recht entsinne – Escoublon begegnet war. Dieser, der schon zu der Zeit sehr ermüdet schien, hatte ihn gebeten, ihn hinter sich auf sein Pferd zu nehmen, worauf der Fischhändler statt aller Antwort noch schneller gefahren war. Dieser Mann also, der eine halbe Stunde vorher mit Labarre auf der Thürschwelle gestanden und seine gefahrvolle Begegnung erzählt hatte, winkte jetzt heimlich dem Wirt. Derselbe trat an ihn heran und sie wechselten einige Worte im Flüsterton, während der Fremde am Feuer saß und seinen Gedanken nachhing.

Der Wirt kam alsbald wieder zu dem Kamin zurück legte derb seine Hand auf die Schulter des Fremden und herrschte ihn an:

»Mach, daß Du fortkommst!«

Der Fremde wandle den Kopf und erwiederte mit sanfter Stimme!

»Sie wissen also . . .?«

»Ja.«

»Ich bin aus der andern Herberge hinausgewiesen worden.«

»Und hier wirst Du auch weggejagt.«

»Wo soll ich denn hingehen?«

»Anderswohin.«

Der Fremde griff nach seinem Stock und Tornister und ging davon.

Als er herauskam, warfen ihn einige Kinder, die ihm von der ersten Herberge her gefolgt waren und hier auf ihn zu warten schienen, mit Steinen. Er lief ihnen wüthend nach und drohte mit dem Stock. Die Kinder stoben auseinander wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel.

Er kam an einem Gefängniß vorbei. An der Thür hing eine eiserne Kette, die an einer Glocke befestigt war. Er schellte.

»Herr Schließer,« bat er mit demüthig abgenommener Mütze, »würden Sie wohl die Güte haben mir aufzumachen und mir für diese Nacht Unterkunft zu geben?«

Eine Stimme antwortete:

»Ein Gefängnis ist keine Herberge. Erst müssen Sie arretirt sein. Dann wird Ihnen aufgemacht.«

Damit ging das Schiebefenster wieder zu.

Nun kam er in eine Straße, an der viele kleine Gärten liegen. Einige davon sind, statt mit hohen Mauern, nur von Hecken eingehegt, was der Straße ein hübscheres Aussehen verleiht. Hier erblickte er ein kleines einstöckiges Haus, dessen Fenster erleuchtet war. Er schaute hinein, wie kurz vorher in die Fenster der Schenke. Er sah ein großes weißgetünchtes Zimmer mit einem Bett, das mit Draperien aus bedrucktem Kattun behängt war, einer Wiege in einer Ecke, einigen Holzstühlen und einer Doppelflinte, die an der Wand hing.

In der Mitte des Zimmers stand ein gedeckter Tisch. Eine Lampe strahlte ihr Licht aus über das weiße grobe Tischtuch, die zinnerne Weinkanne, die wie Silber glänzte, und die dampfende braune Suppenschüssel. An diesem Tisch saß ein etwa vierzig Jahre alter Mann, der sehr vergnügt ein Kind auf seinen Knieen reiten ließ. Neben ihm säugte eine junge Frau ein andres Kind. Der Vater lachte, das Kind krähte vergnügt und die Mutter lächelte dazu.

Der Fremde sah einen Augenblick diesem anmuthenden und friedlichen Schauspiel zu. Was ging in seiner Seele vor? Er allein hätte es sagen können. Wahrscheinlich dachte er, daß in einem Hause, wo es so gemüthlich zuging, auch Gastfreundschaft geübt werden müsse. Vielleicht würde er hier, wo er so viel Glück sah, auch ein wenig Erbarmen finden.

Er klopfte ganz schwach an die Fensterscheibe.

Niemand hörte.

Er klopfte zum zweiten Mal.

Jetzt hörte er die Frau sagen: »Männchen, mir däucht, es klopft.«

»Bewahre!« antwortete der Mann.

Er klopfte zum dritten Mal.

Der Mann stand auf, nahm die Lampe, kam auf die Thür zu und schloß sie auf.

Es war ein hochgewachsener Mann, halb Bauer, halb Handwerker. Er trug eine große Lederschürze, die ihm bis zur linken Schulter hinaufreichte, und die über dem Gürtel von einem Hammer, einem rothen Tuch, einem Pulverhorn aufgebauscht war. Er hielt den Kopf nach hinten geneigt und sein weit offenes Hemd, dessen Kragen niedergeschlagen war, ließ seinen weißen, stiermäßig starken Hals sehen. Er hatte buschige Augenbrauen, einen gewaltigen schwarzen Backenbart, hervorstehende Augen, ein spitzes Kinn und über dem Ganzen war jener unbeschreibliche Ausdruck von Ruhe und Sicherheit ausgebreitet, welchen das Bewußtsein Herr eines eignen Heims zu sein, dem Menschen verleiht.

»Ich bitte um Verzeihung, lieber Herr,« begann der Wanderer. »Wenn ich bezahle, würden Sie mir wohl einen Teller Suppe abgeben und einen Winkel in dem Schuppen da, wo ich schlafen könnte. Ja, würden Sie das? Ich bezahle.«

»Wer sind Sie?« fragte der Hausherr.

Der Fremde antwortete: »Ich komme von Puy-Moisson. Ich bin den ganzen Tag zu Fuß gegangen. 48 Kilometer. Würden Sie das wohl? Ich bezahle.«

»Einem rechtschaffenen Menschen, der bezahlte, würde ich schon Unterkunft geben. Aber warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«

»Die sind überfüllt.«

»Ist nicht möglich. Es war ja heute kein Markttag, kein Jahrmarkt. Sind Sie bei Labarre gewesen?«

»Ja.«

»Nun?«

Der Fremde antwortete verlegen: »Ich weiß nicht – Er hat mich nicht aufgenommen.«

»Sind Sie bei Dingrich, in der Rue Chaffaut gewesen?« Die Verlegenheit des Fremden nahm zu. Er stotterte:

»Der hat mich auch nicht aufgenommen.«

Das Gesicht des Bauern nahm einen Ausdruck von Mißtrauen an, er betrachtete den Fremden von oben bis unten und schrie plötzlich mit einer Art Entsetzen:

»Sind Sie etwa der Mann, der . . .«

Er warf einen prüfenden Blick auf den Fremden, trat einige Schritte zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und hakte die Flinte von der Mauer los.

Bei den Worten: »Sind Sie etwa der Mann?« war die Frau von ihrem Sitz aufgestanden, hatte ihre beiden Kinder in die Arme genommen und sich eilig hinter ihren Mann geflüchtet, indem sie erschrocken nach dem Fremden blickte und etwas von »Räubern« murmelte.

Alles dies geschah in kürzerer Zeit, als erforderlich ist, sich den Vorgang vorzustellen. Nachdem er eine Zeit lang den Ankömmling im Auge behalten hatte, als hätte er eine Viper vor sich, kam der Hausherr in die Thür zurück und sagte:

»Mach', daß Du fortkommst.«

»Ein Glas Wasser. Aus Erbarmen.«

»Eine Kugel durch den Kopf gehört Dir!«

Damit warf er die Thür heftig zu, und der Abgewiesene hörte, wie innen zwei starke Riegel vorgeschoben wurden. Einen Augenblick darauf wurden die Fensterladen zugemacht, und nach außen drang ein Geräusch, als wenn eine eiserne Stange innen vorgelegt würde.

Unterdessen kam die Nacht immer näher. Es wehte ein kalter Wind von den Alpen her. Bei dem Schein des verlöschenden Tageslichtes bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die sich längs der Straße erstreckten, eine Art mit Rasen belegter Hütte. Er schwang sich schnell entschlossen über den Zaun in den Garten hinüber und ging auf die Hütte zu. Sie hatte statt der Thür eine schmale und niedrige Oeffnung und besaß Aehnlichkeit mit den Baracken, die sich die Chausseearbeiter längs der Landstraßen zu bauen pflegen. Er glaubte ohne Zweifel, sie gehöre wirklich einem Arbeiter; ihm fror und ihn hungerte. Den Hunger wollte er geduldig ertragen, aber er fand hier wenigstens ein Obdach gegen die Kälte. Dergleichen Behausungen sind für gewöhnlich des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich platt auf die Erde hin und kroch in die Hütte hinein. Es war warm darin, und er fand ein gutes Strohlager vor. Auf diesem blieb er eine Zeitlang lang ausgestreckt liegen, ohne sich rühren zu können – so groß war seine Müdigkeit. Dann aber machte er sich daran seinen Tornister loszuschnallen, der Bequemlichkeit halber und um ihn als Kopfkissen zu verwerthen. In diesem Augenblick ließ sich ein grimmiges Knurren vernehmen. Er blickte auf. Im Eingang der Hütte zeichnete sich der Kopf einer gewaltigen Dogge ab.

Er war in eine Hundehütte gerathen.

Er konnte sich auf seine Kraft verlassen, und wagte sich, den Stock als Angriffs-, den Tornister als Schutzwaffe benutzend, aus der Hundehütte heraus, nicht ohne die Löcher in seinen Lumpen noch weiter aufzureißen.

Auch aus dem Garten kam er glücklich heraus, rückwärts und indem er mit einem geschickten, den Stockfechtern abgelernten Manöver die Dogge von sich abwehrte.

Als er, nicht ohne Mühe, seinen Rückzug über den Zaun bewerkstelligt hatte und sich wieder auf der Straße befand, allein, ohne Nachtlager, ohne Obdach, von dem Strohlager und aus der elenden Hütte verjagt, sank er mehr, als er sich setzte, auf einen Stein nieder und stöhnte.

»Ich habe es nicht einmal so gut wie ein Hund!«

Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, zur Stadt hinaus, in der Hoffnung einen Baum, einen Schober zu finden, der ihm ein schützendes Obdach gewähren würde.

So schleppte er sich eine Strecke dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt. Als er sich weitab von jeder menschlichen Behausung fühlte, hob er die Augen auf und hielt Umschau. Er befand sich auf einem Acker, vor einem niedrigen Hügel, der mit Stoppeln bedeckt war und einem kurz geschornen Menschenkopf ähnlich sah.

Der Horizont war tief schwarz, nicht blos von dem Dunkel der heraufsteigenden Nacht, sondern es waren sehr niedrige Wolken, die auf dem Hügel selber zu lasten schienen und über den ganzen Himmel heraufstiegen. Da indessen der Mond zu scheinen begann und im Zenith noch etwas Abendhelle schwebte, bildeten diese Wolken oben eine Art weißliches Gewölbe, von dem sich ein Lichtglanz auf die Erde niedersenkte.

Die Erde war also heller erleuchtet, als der Himmel, was sich recht schaurig ausnahm, und der kläglich winzige Hügel hob sich matt und undeutlich von dem düstern Horizont ab.

Die ganze Aussicht war eine öde, abstoßende, armselige, unheimlich eingeengte. Auf dem Acker und auf dem Hügel nichts, als ein verkrüppelter Baum, der sich in einer Entfernung von wenigen Schritten, vom Winde durchschauert, hin- und herkrümmte.

Unser Wanderer war sicherlich weit davon entfernt jene Empfindungs- und Denkweise zu besitzen, die das Gemüth feinerer Menschen für geheimnisvolle Natureindrücke empfänglich macht; allein dieser Himmel, dieser Hügel, diese Ebene, dieser Baum waren so schaurig, so wüst, daß er nach kurzem Besinnen seine Schritte hastig rückwärts lenkte. Es gibt Augenblicke, wo die Natur dem Menschen ein feindliches Gesicht zeigt.

Er kehrte auf demselben Wege wieder nach der Stadt zurück, und fand die Thore schon geschlossen. Denn Digne, das in den Religionskriegen Belagerungen ausgehalten hat, war noch 1815 von Mauern mit viereckigen Thürmen umgeben, die seitdem geschleift worden sind. Der Fremde ging durch eine Bresche in die Stadt hinein.

Es mochte jetzt acht Uhr Abends sein. Da ihm die Straßen unbekannt waren, marschierte er wieder ohne Plan und Ziel.

Auf diese Weise kam er an der Präfektur, dann an dem Seminar vorbei. Als er über den Domplatz ging, ballte er die Faust gegen die Kirche.

In der einen Ecke dieses Platzes befindet sich eine Druckerei. Dort wurden zum ersten Mal die Proklamationen des Kaisers und der kaiserlichen Garde an die Armee gedruckt, die von Napoleon selber auf der Insel Elba diktirt worden waren.

Vollständig erschöpft und hoffnungslos streckte sich der Obdachlose auf die steinerne Bank aus, die sich vor der Druckerei befindet.

In dem Augenblick trat eine alte Dame aus der Kirche und sah ihn im Schatten dort liegen. »Was machen Sie da, guter Freund?«

Er fuhr heftig auf: »Sie sehen ja, gute Frau, ich lege mich schlafen.«

Die gute Frau, die auf diese Benennung ein volles Recht hatte, war die Frau Marquise von R.

»Auf diese Bank?«

»Ich habe neunzehn Jahre lang auf einer hölzernen Matratze gelegen, so kann ich auch einmal auf einer steinernen schlafen.«

»Sie sind Soldat gewesen.«

»Ja wohl, gute Frau.«

»Warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«

»Weil ich kein Geld habe.«

»Leider habe ich nur vier Sous bei mir.«

»Geben Sie sie mir.«

Die Marquise gab ihm das Geld und fuhr fort: »Mit so wenig können Sie keine Unterkunft in einer Herberge bekommen. Aber haben Sie's wenigstens versucht? Sie können doch nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen, Sie haben ohne Zweifel Hunger und frieren. Man hätte Sie aus Mitleid aufnehmen können.«

»Ich habe an alle Thüren geklopft.«

»Und?«

»Sie haben mich überall hinausgeworfen.«

Die gute Frau berührte den Mann am Arme und zeigte ihm ein kleines niedriges Haus, das auf der andern Seite des Platzes neben dem bischöflichen Palast stand.

»Sie sagen, Sie haben an alle Thüren geklopft?«

»Ja.«

»Auch an die da drüben?«

»Nein.«

»Nun dann, klopfen Sie einmal da an.«

II.
Alltagsweisheit und Philosophie

An demselben Abend war der Herr Bischof nach seinem Spaziergange in der Stadt lange auf seinem Zimmer geblieben. Er arbeitete damals gerade an einem größeren Werke über die Pflichten, das leider unvollendet geblieben ist. Zu diesem Zwecke sammelte er alles, was die Kirchenväter und andere Autoritäten über diesen bedeutungsvollen Gegenstand gesagt haben. Sein Buch zerfiel in zwei Theile; erstens die Pflichten Aller; zweitens die Pflichten des Einzelnen, je nach seinem Stande, Berufe, Alter, Geschlecht u. s. w. Die Pflichten Aller, lehrte er, sind die wichtigsten. Sie zerfallen in vier Unterarten, die uns Sankt Matthäus bezeichnet: die Pflichten gegen Gott (Ev. Matth. Kap. 6), gegen sich selbst (Ev. Matth. Kap. 5 V. 29 und 30), gegen den Nebenmenschen (Ev. Matth. Kap. 7 V. 12).

Was die übrigen Pflichten anbelangt, so hatte der Bischof sie in andern Schriften der Bibel gefunden; die der Herrscher und Unterthanen in der Epistel an die Römer; die der Richter, der verheirateten Frauen, Mütter und jungen Männer, in der Epistel des heiligen Petrus; die der Ehemänner, Eltern, Kinder und Diener in der Epistel an die Epheser; die der Gläubigen in der Epistel an die Ebräer; die der Jungfrauen in der Epistel an die Korinther. Alle diese Vorschriften faßte er mit mühseligem Fleiße zu einem übersichtlichen Ganzen zusammen, das er den Gläubigen widmen wollte.

An diesem Abend arbeitete er noch fleißig um acht Uhr und schrieb, ein großes offenes Buch über den Knieen, in unbequemer Haltung auf kleinen Zetteln, als Frau Magloire hereinkam, das Silbergeschirr aus dem Wandschrank zu holen. Ein Weilchen nachher, als er merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht auf ihn wartete, klappte er sein Buch zu, stand vom Tische auf und begab sich in das Speisezimmer.

Es war dies ein rechteckiger Raum mit Kamin, Eingangsthür nach der Straße zu und einem Fenster, das auf den Garten hinausging.

Frau Magloire hatte in der That schon gedeckt und plauderte, während sie im Zimmer hantierte, mit Fräulein Baptistine.

Auf dem Tische, der sich nahe dem Kamin befand, stand eine Lampe und in dem Kamin brannte ein leidlich gutes Feuer.

Man kann sich leicht eine Vorstellung machen von den beiden Frauen, die beide sechzig Jahre hinter sich hatten: Frau Magloire klein, gut beleibt, lebhaft; Fräulein Baptistine sanft, hager, schwächlich, etwas größer, als ihr Bruder, in einer Robe von flohfarbener Seide, wie es 1806 Mode war, die sie damals in Paris gekauft hatte, und die immer noch vorhielt. Um uns einer volksthümlichen Redewendung zu bedienen, – die aber trotz ihrer Kürze inhaltsvoller ist, als eine seitenlange Beschreibung, – so hatte Frau Magloire das Aussehen einer Bäuerin und Fräulein Baptistine das einer Dame. Frau Magloire trug eine in Röhrenfalten gelegte weiße Haube, um den Hals ein Sammetband mit einem goldnen Kreuz, auf dem ein Herz lag, dem einzigen Frauenjuwel übrigens, das sich im Hause befand. Bekleidet war sie mit einem schneeweißen Brusttuch, einem Kleide aus grobem schwarzen Wollstoff mit weiten kurzen Aermeln, einer roth und grün karrirten Kattunschürze, die mit einem grünen Bande um die Taille gebunden war, und deren gleichartiger Latz an den oberen Ecken durch zwei Stecknadeln festgehalten wurde. Dazu an den Füßen grobe Schuhe und gelbe Strümpfe, wie sie von den Frauen in Marseille getragen wurden. Fräulein Baptistines Robe war nach Mustern aus dem Jahre 1806 zugeschnitten; mit kurzer Taille, engem Rock, Achselbändern, Patten und Knöpfen. Ihre grauen Haare verbarg sie unter einer Kräuselperrücke à l'enfant. Frau Magloires Gesichtszüge ließen auf Klugheit, Lebhaftigkeit und Herzensgüte schließen; nach den ungleich aufgezogenen Mundwinkeln und nach der Oberlippe, die dicker war als die untere, zu urtheilen, mußte sie brummig und rechthaberisch sein. In der That führte sie Sr. Bischöflichen Gnaden gegenüber, wenn Dieselben schwiegen, eine bei allem Respekt freimüthige Sprache; aber sobald Sr. Gnaden das Wort ergriffen, gehorchte sie, wie wir schon oben gesehen haben, so passiv wie ihr gnädiges Fräulein. Fräulein Baptistine, that dann nicht einmal den Mund auf. Sie beschränkte sich darauf, zu gehorchen und ihrem Bruder zu Gefallen zu handeln. Auch in ihrer Jugend war sie nicht hübsch gewesen. Sie hatte große, blaue, hervorstehende Augen und eine lange, gebogene Nase; aber ihr ganzes Antlitz, ihr ganzes Wesen athmete eine unbeschreibliche Güte. Von jeher sanftmüthig veranlagt, hatte sie sich durch herzerwärmende Tugenden des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung allmählich zur Heiligen vervollkommnet. Von Natur nur ein Lamm, hatte die Religion sie zu einem Engel gemacht. Armes frommes Fräulein! Welche theure Erinnerungen weckt Dein sanftes Bild in dem Gedächtniß Derer, die Dich kannten!

Was sich nun an jenem Abend in dem Hause des Bischofs Alles ereignete, hat Fräulein Baptistine so oft erzählt, daß sich mehrere Leute, die noch heute leben, an alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten genau erinnern können.

Frau Magloire sprach, als der Bischof in das Speisezimmer trat, mit großer Lebhaftigkeit über ihr Lieblingsthema, das ihr Herr geduldig über sich ergehen zu lassen pflegte, nämlich über die Klinke der Straßenthür.

Sie hatte während sie Einkäufe für das Abendessen besorgte, gar schlimme Neuigkeiten gehört. Es hieß ein Strolch, ein gefährlicher Landstreicher sei angekommen und treibe sich gegenwärtig in der Stadt herum, und wer heute Abend spät nach Hause komme, dem könne leicht etwas Unangenehmes begegnen. Die Polizei thue leider ihre Schuldigkeit nicht, indem der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister keine Freundschaft hielten und es gerne sähen, wenn ein Unglück passiere. Das würde ihnen eine prächtige Gelegenheit geben, den Andern als den schuldigen Teil hinzustellen. Die gescheidten Leute sollten also hübsch selber über ihre Sicherheit wachen. Selbstredend müsse ein Jeder sein Haus verschließen, verriegeln, verrammeln und ja die Thüren ordentlich zumachen.

Frau Magloire betonte das Wort Thüren mit großem Nachdruck; aber der Bischof, den in seinem ungeheizten Zimmer gefroren hatte, saß vor dem Kamin, und wärmte sich; abgesehen hiervon hing er noch andern Gedanken nach. Er beachtete also Frau Magloires energischen Wink nicht besonders, und sie sah sich genötigt, ihn zu wiederholen. Da mischte sich Fräulein Baptistine in das Gespräch und fragte, um es Frau Magloire recht zu machen, ihrem Bruder aber nicht zu mißfallen:

»Lieber Bruder, hast Du gehört, was Frau Magloire erzählt?«

»Zum Theil, ja!« antwortete er, drehte seinen Stuhl halb um, hielt die Hände auf die Kniee und wandte sein freundliches, gemüthlich heiteres Gesicht, das von unten durch den Lichtschein des Kaminfeuers hell beleuchtet war, der alten Magd zu. »Nun, erzählen Sie! Was geht denn vor? Was denn? Wir schweben also wirklich in einer furchtbaren Gefahr?«

Frau Magloire begann ihre ganze Geschichte von vorn, wobei sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, die Farben recht stark auftrug. Es solle sich zur Zeit ein Bummler, ein zerlumpter Kerl, ein gefährlicher Bettler in der Stadt aufhalten. Er hätte bei Jacquin Labarre nächtigen wollen, der aber hätte ihn abgewiesen. Dann sei er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und dann habe er in den Straßen herum gestrolcht. Ein Kerl mit einem wahren Galgengesicht!

»Was Sie sagen!« meinte der Bischof.

Daß er so bereitwillig auf ihr Gespräch einging, ermuthigte Frau Magloire. Deutete sie sich dies doch als ein Zeichen, daß er anfing, Furcht zu bekommen. Sie fuhr also triumphirend fort:

»Ja, ja. Bischöfliche Gnaden, so steht's. Diese Nacht passirt ganz gewiß ein Unglück in der Stadt. Jeder sagt das. Leider thut die Polizei ihre Schuldigkeit nicht. (Diese Wiederholung, um einen wirksamern Eindruck zu machen.) Ein Gebirgsland, und nicht einmal des Nachts Laternen in den Straßen! Geht man aus, so umgiebt Einen eine Finsterniß, als stäke man in einem Sack. Und ich, Bischöfliche Gnaden, behaupte, und das gnädige Fräulein behauptet auch . . .«

»Ich behaupte gar nichts«, fiel ihr das Fräulein ins Wort. »Was mein Bruder thut, ist wohlgethan.«

Aber Frau Magloire beachtete nicht den erhobenen Einspruch.

»Wir behaupten also, daß dieses Haus ganz und gar nicht sicher ist, und wenn Bischöfliche Gnaden erlauben, hole ich den Schlosser, Paulin Musebois, und lasse ihn die alten Riegel wieder an der Thür anbringen. Sie sind noch da, und die Arbeit ist im Handumdrehen gemacht. Riegel brauchen wir, wäre es auch nur für diese Nacht. Denn eine Thür, die der erste Beste von außen aufklinken kann, nein, so was schreckliches giebt's nicht mehr. Dabei haben Bischöfliche Gnaden die Gewohnheit und rufen immer gleich: Herein! Und in der Nacht – Herr, erbarme Dich! braucht auch Keiner erst um Erlaubnis zu bitten.«

In demselben Augenblicke wurde heftig an die Thür geklopft.

»Herein!« rief der Bischof.

III.
Heldenmüthiger Gehorsam

Die Thür ging auf, heftig, weit auf, und hereintrat der uns schon bekannte Fremde, der Wandrer, den wir vorhin auf der Suche nach einem Obdach beobachtet haben.

Er trat ein, that noch einen Schritt und blieb stehen, ohne die Thür hinter sich wieder zuzumachen. Den Tornister auf dem Rücken, den Stock in der Hand, das entschlossene grimmige Gesicht vom Kaminfeuer beleuchtet, war er eine furchtbare, unheimliche Erscheinung.

Frau Magloire hatte nicht einmal so viel Kraft übrig, um laut aufzuschreien und stand wie angewurzelt mit offnem Munde da.

Fräulein Baptistine hatte sich beim Eintritt des Vagabunden nach ihm umgewendet. Sie fuhr zusammen vor Schreck, wandte aber dann allmählich das Gesicht nach dem Kamin hin, wo ihr Bruder saß, und alsbald nahmen wieder ihre Züge die gewohnte Ruhe und Heiterkeit an.

Der Bischof faßte den Ankömmling ruhig ins Auge.

In dem Augenblick, als er den Mund aufthat, wohl um nach dem Begehr des Fremden zu fragen, stützte Dieser beide Hände auf seinen Stock, ließ seine Augen über den greisen Herrn und die beiden Frauen irren und sprach, ohne die Anrede des Bischofs abzuwarten, mit lauter Stimme:

»Die Sache ist die. Ich heiße Jean Valjean. Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave. Ich habe neunzehn Jahre im Bagno verlebt. Vor vier Tagen bin ich in Freiheit gesetzt worden und jetzt auf dem Wege nach Pontarlier, meinem Bestimmungsort. Vier Tage marschiere ich nun schon, von Toulon aus. Heute habe ich achtundvierzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Diesen Abend, wo ich in diesem Ort angekommen bin, habe ich in einem Gasthaus einkehren wollen, aber sie haben mich hinausgewiesen, von wegen meinem gelben Paß, den ich im Stadthaus vorgezeigt habe. Das mußte ich nämlich. Dann bin ich wieder in eine Herberge gegangen. Da hat's wieder geheißen: Raus mit Dir. Keiner hat mich haben wollen. Dann bin ich nach einem Gefängniß gegangen. Der Schließer hat mir nicht aufgemacht. Dann bin ich in eine Hundehütte gekrochen. Da ist der Hund gekommen, hat mich gebissen und mich weggejagt, gerade als wäre er ein Mensch. Es war als wüßte er, was für Einer ich bin. Dann bin ich querfeldein gegangen und wollte unter freiem Himmel übernachten. Der Himmel war aber nicht frei, er hing voll Wolken und ich dachte, es würde regnen, und einen Gott, der den Regen nicht herunterfallen läßt, mir zu Gefallen, giebt's ja doch nicht. Da bin ich wieder nach der Stadt zurückgegangen und wollte mir einen Thorweg suchen. Auf dem Platz hier habe ich mich auf eine Steinbank niedergelegt Da ist eine Frau gekommen, hat mir dies Haus gezeigt und hat gesagt: Klopfe mal da an. Das habe ich gethan. Was ist das für ein Haus? Eine Herberge? Ich habe Geld. Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Was ich mir in neunzehn Jahren, in meiner Sträflingszeit, mit meiner Arbeit verdient habe. Ich kann alles bezahlen. Mir soll's nicht drauf ankommen. Ich habe ja Geld. Ich bin sehr müde, achtundvierzig Kilometer, und hungrig. Darf ich hier bleiben?«

»Frau Magloire,« sagte der Bischof, »noch ein Gedeck!«

Der Vagabund trat drei Schritte, an die Lampe heran, die auf dem Tische stand. »So ist das nicht,« hob er wieder an, »Sie verstehen mich gewiß nicht. Ich bin ein Galeerensklave, ich komme aus dem Bagno.« Er zog ein großes gefaltetes Papier aus der Tasche. »Hier,« und er faltete es aus einander, »mein Paß. Ein gelber. Das hat den Zweck, daß ich überall, wo ich hingehe, weggejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen. Ich hab's im Bagno gelernt. Da ist eine Schule, da können die hingehen, die's wollen. Da können Sie's lesen. »Jean Valjean, aus dem Gefängniß entlassener Sträfling, gebürtig aus . . . Das ist Ihnen egal, ob Sie das wissen oder nicht . . . ist neunzehn Jahre im Bagno gewesen. Fünf Jahre wegen Diebstahl mit Einbruch, vierzehn Jahre, weil er vier Mal hat entspringen wollen. Ein sehr gefährliches Subjekt.« So! nun wissen Sie's. Jedermann hat mich rausgeschmissen. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das hier eine Herberge? Kriege ich hier was zu essen und Unterkunft für die Nacht? Haben Sie einen Stall?«

»Frau Magloire, beziehen Sie das Bett im Alkoven mit neuen Laken.«

Wir haben schon auseinandergesetzt, wie die beiden Frauen zu gehorchen pflegten. Frau Magloire ging also hinaus, das zu thun, was ihr geheißen war.

»Herr Valjean, nehmen Sie Platz und wärmen Sie Sich. Wir speisen sofort, und während der Essenszeit wird Ihr Bett zurecht gemacht.

Jetzt begriff der Vagabund. Auf seinem bisher finstern und grimmigen Gesicht war plötzlich eine unsagbare Verwundrung, Zweifel, Freude zu lesen. Mit einer Ueberstürzung, als wäre er irrsinnig geworden, stieß er die Worte hervor:

»Wahrhaftig! Sie behalten mich hier! Sie jagen mich nicht fort? Einen ehemaligen Sträfling? Sie sagen: Herr Valjean, nicht Du? Mach, daß Du fortkommst, Du Hund Du! So sagen sie immer zu mir. Ich glaubte wirklich, Sie würden mich rausjagen. Deswegen habe ich ja auch gleich gesagt, wer ich bin. Das ist mal eine gute Frau, die mich hierher gewiesen hat. Ich kriege was zu essen! Und ein Bett mit Matratze und Laken wie alle andern Leute! Ein Bett! Neunzehn Jahre habe ich in keinem Bett gelegen! Sie sagen nicht, daß ich wieder fortgehn soll. Ihr seid gute Leute. Aber ich habe Geld. Ich will alles richtig bezahlen. Verzeihung, Herr Gastwirt, wie heißen Sie? Ich bezahle, so viel Sie wollen. Sie sind ein braver Mann, Sie sind doch Gastwirt, nicht wahr?

»Ich bin ein Priester, der hier wohnt.«

»Ein Priester! Ein guter braver Priester! Dann verlangen Sie kein Geld von mir? Sie sind der Pfarrer von der großen Kirche da drüben? Nun natürlich! Jetzt erst sehe ich Dummkopf das Käppchen,«

Während seiner Rede hatte er Tornister und Stock in eine Ecke gestellt, den Paß wieder eingesteckt und sich gesetzt. Fräulein Baptistine betrachtete ihn mit freundlichen Blicken. Er fuhr fort.

»Sie sind menschlich, Herr Pfarrer, Sie haben keine Verachtung gegen mich. Wie gut das ist, so ein guter Priester! Also haben Sie's nicht nöthig, daß ich was bezahle?«

»Nein! Behalten Sie Ihr Geld. Wieviel haben Sie? Sagten Sie nicht hundertneun Franken?«

»Und fünfzehn Sous!«

»Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Und wieviel Zeit haben Sie gebraucht, das zu verdienen?«

»Neunzehn Jahre!«

»Neunzehn Jahre!«

Der Bischof seufzte tief.

Der Fremde fuhr fort. Ich habe noch mein ganzes Geld. Seit vier Tagen habe ich nur fünfundzwanzig Sous ausgegeben, und die habe ich in Grasse verdient. Da wurden Wagen abgeladen und dabei habe ich geholfen. Da Sie Abbé sind, so muß ich Ihnen sagen, wir hatten auch einen Geistlichen im Gefängniß. Und einmal habe ich auch einen Bischof zu sehen gekriegt. So Einer, den Sie Ew. Bischöfliche Gnaden nennen. Er war aus Marseille. Das ist ein Pfarrer, der über den andern Pfarrern ist. Entschuldigen Sie, ich drücke mich schlecht aus, aber was versteht Unser Einer von so was! – Er hat die Messe gelesen, mitten im Bagno, vor einem Altar, er trug ein spitzes goldnes Ding auf dem Kopf. Das glänzte mal im Sonnenlicht: Wir waren an drei Seiten aufgereiht, uns gegenüber die Kanonen mit angezündeter Lunte. Wir konnten nicht gut sehn, er war zu weit ab, da hinten. Und was er gesagt hat, verstand man auch nicht. Das ist ein Bischof.«

Während er noch sprach, war der Bischof aufgestanden und hatte die offen gebliebne Thür zugemacht.

In demselben Augenblick kam auch Frau Magloire mit dem Gedeck wieder zurück.

»Möglichst nahe am Kamin!« befahl der Bischof. Und zu seinem Gast gewendet: »In der Nacht weht ein kalter Wind in den Alpen. Sie friert gewiß, Herr Valjean?«

Jedes Mal, wenn er mit seiner freundlichen Stimme das höfliche »Herr« aussprach, leuchtete es auf in dem Gesicht des Unglücklichen. Der Klang dieses Wortes wirkt auf einen Sträfling, wie der Anblick eines Glases Wasser, das man einem Verdurstenden darreicht. Wer in der Schande steckt, lechzt nach Achtung.

»Die Lampe leuchtet schlecht!« bemerkte mit einem Mal der Bischof.

Frau Magloire verstand den Wink, holte aus dem Schlafgemach Sr. Bischöflichen Gnaden die beiden silbernen Leuchter und stellte sie auf die Tafel.

»Herr Pfarrer,« sagte der Gast, »Sie sind recht gut. Sie verachten mich nicht. Sie stecken Ihre feinen Kerzen für mich an. Ich habe Ihnen aber doch nicht verschwiegen, wo ich herkomme, und daß ich ein elender Mensch bin.«

Der Bischof, der neben ihm saß, berührte sanft seine Hand. »Sie konnten es unterlassen mir zu sagen, wer Sie sind. Dies ist nicht mein Haus, sondern das Haus Jesu Christi. Wer hier herein will, den fragt diese Thür nicht, ob er einen Namen, sondern ob er einen Kummer hat. Sind Sie leidbedrückt, hungert und dürstet Sie, so sind Sie willkommen. Und danken Sie mir nicht, sagen Sie nicht, daß ich Sie in mein Haus aufnehme. Hier wohnt Niemand, außer wer einer Zufluchtsstätte bedarf. Ich sage Ihnen, Sie, der Sie hier vorbeigehen, haben mehr Anrecht auf den Schutz dieses Hauses, als ich selber. Alles, was hier ist, gehört Ihnen. Wozu brauche ich Ihren Namen zu wissen? Uebrigens haben Sie einen Namen den ich wußte, bevor Sie mir Ihren Namen nannten.«

Der Gast machte große Augen vor Verwundrung.

»Wahrhaftig? Sie wußten, wie ich heiße?«

»Ja, Sie heißen mein Bruder!«

»Hören Sie,« Herr Pfarrer, rief der Gast »Ich hatte gehörigen Hunger, als ich hier hereinkam, aber Sie sind so gut, daß ich – ich weiß nicht, wie das kommt, meinen Hunger nicht mehr fühle.«

Der Bischof sah ihn an und fragte:

»Sie haben wohl viel Schlimmes durchgemacht?«

»Ach ja! In der rothen Jacke, die Kanonenkugel am Bein, ein Brett zum Schlafen, Hitze, Kälte, Arbeit, Stockschläge. Eine doppelte Kette, wenn man so gut wie gar nichts verbrochen hatte. In die Einzelzelle, wenn man mal ein Bischen aufmuckte. Auch im Bett noch, wenn man krank war, behielt man die Kette. Die Hunde, die Hunde sind glücklicher. Neunzehn Jahre lang. Ich bin sechsundvierzig Jahre alt. Und jetzt zu guter Letzt der gelbe Paß. Ja ja!«

»Ja, Sie kommen aus einem Ort des Jammers. Hören Sie auf meine Worte. Es wird im Himmel mehr Freude herrschen über die Thränen eines reuigen Sünders, als über das weiße Gewand hundert Gerechter. Wenn Sie aus jenem Ort des Leidens mit Gedanken voll Haß und Groll gegen die Menschen kommen, so sind Sie zu bemitleiden; hegen Sie aber Gedanken des Wohlwollens, der Sanftmuth und der Friedfertigkeit, so sind Sie ein besserer Mensch, als der Beste von uns.«

Währenddem hatte Frau Magloire das Essen aufgetragen. Eine Suppe bestehend aus Wasser, Oel, Brod und Salz; etwas Speck, ein Stück Hammelfleisch, Feigen, frischer Käse, und ein großes Roggenbrod. Außerdem hatte sie aus eignem Antrieb eine Flasche alten Mauves spendirt.

Bei diesem Anblick überflog plötzlich die Züge des Bischofs jene Vergnügtheit, die gastfreundlichen Menschen eigen zu sein pflegt. »Zu Tische!« kommandierte er lebhaft. Er lud, wie er zu thun pflegte, wenn er einen Gast zu Tische hatte, den Vagabunden ein zu seiner Rechten Platz zu nehmen, und Fräulein Baptistine setzte sich ruhig und unbefangen links von ihm.

Dann sprach der Bischof das Tischgebet und schöpfte seiner Gewohnheit gemäß die Suppe aus. Der Gast fiel gierig über seinen Teller her.

Plötzlich bemerkte der Bischof: »Mich dünkt, es fehlt irgend etwas auf dem Tische.«

In der That hatte Frau Magloire nur die drei durchaus nothwendigen Bestecke auf die Speisetafel gelegt. Wenn aber der Bischof einen Gast hatte, so war es der Brauch des Hauses, daß die sechs silbernen Bestecke auf dem Tische prangen mußten. Diese kindliche Prahlerei mit einem so bescheidnen Luxus muthete angenehm an in diesem Hause, wo die Armuth für wohlanständig galt.

Frau Magloire verstand die Bemerkung des Bischofs, ging ohne ein Wort zu sagen hinaus und alsbald erglänzten auf dem Tischtuche die drei andern Bestecke.

IV.
Über die Käsereien in Pontarlier

Damit man sich eine Vorstellung machen könne, wie es an dieser Tafel herging, wollen wir eine Stelle aus einem Briefe von Fräulein Baptistine an Frau von Boischevron hier wiedergeben, in dem mit naiver Ausführlichkeit das Gespräch des Bischofs und des Galeerensklaven erzählt wird.

»Der Mann achtete auf Niemand und schlang immer nur sein Essen mit einer Gier hinunter, als wäre er nahe daran gewesen, vor Hunger umzukommen. Aber nach dem Abendessen sagte er:

»Lieber guter Herrgottspfarrer, das ist alles noch viel zu gut für mich, aber das muß ich sagen, die Fuhrleute, die mich nicht wollten mitessen lassen, leben besser als Sie.«

Unter uns gesagt, die Bemerkung hat mich verdrossen. Mein Bruder antwortete ihm:

»Sie müssen sich auch mehr anstrengen, als ich.«

»Nein,« meinte der Andre, »sie haben mehr Geld. Ich sehe wohl, Herr Pfarrer, Sie sind arm. Sie sind vielleicht noch nicht einmal Pfarrer? Wenn der liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer sein.«

»Der liebe Gott ist mehr als gerecht«, versetzte mein Bruder und fügte nach einer Weile hinzu:

»Also nach Pontarlier gehen Sie, Herr Valjean?«

»Mit Zwangspaß.«

So sagte er, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt. Dann fuhr er fort:

»Morgen bei Tagesanbruch muß ich schon unterwegs sein. Das Marschieren ist jetzt beschwerlich. Wenn die Nächte kalt sind, so ist es am Tage heiß.«

»Sie kommen da in eine gute Gegend«, meinte mein Bruder. »Zur Zeit der Revolution ist meine Familie ruinirt worden, und ich habe mich damals zuerst nach der Franche-Comté geflüchtet, wo ich von meiner Hände Arbeit lebte. Ich hatte guten Willen und fand auch Beschäftigung. Man hat dort zu Lande die Wahl. Es giebt dort Papiermühlen, Gerbereien, Branntweinbrennereien, Oelmühlen, Uhrfabriken, Stahl- und Kupferfabriken, wenigstens zwanzig Eisenwerke, darunter vier sehr bedeutende in Lods, Châtillon, Audincourt und Beure.«

Ich müßte mich sehr irren, wenn dies nicht die Namen sind, die mein Bruder anführte. Hierauf aber brach er ab und wandte sich an mich:

»Liebe Schwester, haben wir nicht Verwandte in jener Gegend?«

Ich antwortete:

»Früher, ja! Unter Andern Herrn von Lucenet, Hauptmann bei den Thürgardisten zu Pontarlier vor der Revolution.«

»Ganz richtig«, erwiderte mein Bruder, »aber 1793 war es mit den Verwandten nichts, da mußte man sich auf sich selber und auf seine gesunden Arme verlassen. Ich habe gearbeitet. Sie haben in der Gegend von Pontarlier, wo Sie hingehen, Herr Valjean, eine ganz patriarchalische und ganz gemüthliche Industrie, liebe Schwester, nämlich Käsereien.«

Darauf setzte mein Bruder dem Manne, während er ihn zum Essen nöthigte, sehr ausführlich auseinander, wie die Käsereien eingerichtet sind.

»Sie zerfallen in zwei Klassen«, erläuterte er. »Die großen, die den Reichen gehören, mit vierzig bis fünfzig Kühen, und die sieben bis acht Tausend Stück Käse pro Sommer liefern, und die kleinen, genossenschaftlich organisirten, die von den Armen gebildet werden. Zu diesen thun sich die Bauern aus dem Mittelgebirge zusammen und theilen den Gewinn. Sie engagieren einen Käser, der dreimal täglich von den Mitgliedern der Genossenschaft die Milch in Empfang nimmt und die Quantität auf einem doppelten Kerbholz markirt. Gegen Ende April fängt die Fabrikation an; Mitte Juni werden die Kühe auf die Berge getrieben.«

Der Fremde wurde muntrer, während er aß. Mein Bruder schenkte ihm guten Mauves ein, von dem er selber nicht trinkt, weil es ein theurer Wein ist. Mein Bruder zeigte im Gespräche die Ihnen wohlbekannte Unbefangenheit und frohe Laune und richtete auch manche freundlichen Bemerkungen an mich. Auf die Beschäftigung des Käsers kam er oft zurück, als wollte er ihm auf zarte Weise zu verstehen geben, daß er sich so aus seiner Nothlage befreien könne. Eins ist mir noch aufgefallen. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, was das für ein Mensch war. Nun also, mein Bruder hat weder bei Tische noch überhaupt an dem ganzen Abend, mit alleiniger Ausnahme der Erwähnung Jesu Christi bei der Ankunft des Gastes, kein Wort fallen lassen, das den Mann erinnert hätte, wer er war, und ihn über den Stand meines Bruders belehrt hätte. Und es war doch eine schöne Gelegenheit, ein wenig Moral zu predigen und den Zuchthäusler seine bischöfliche Autorität nachdrücklichst fühlen zu lassen. Ein Andrer, der den Unglücklichen so in der Hand gehalten hätte, würde nicht blos getrachtet haben, ihm Nahrung für den Körper, sondern auch für die Seele zu spenden und hätte es für angemessen erachtet, ihm mit guten Rathschlägen und Ermahnungen gemilderte Vorwürfe zu machen oder hätte eine Aeußerung des Mitleids nebst einer Aufforderung sich fortan besser aufzuführen, fallen lassen. Mein Bruder dagegen fragte den Menschen nicht einmal nach seinem Geburtsorte oder seiner Lebensgeschichte. Denn seine Lebensgeschichte enthielt auch die Geschichte seines Vergehens, und mein Bruder ließ es sich offenbar angelegen sein, alles zu vermeiden, das Jenen an seine Schuld hätte erinnern können. Einmal sogar, als er von den Gebirglern bei Pontarlier sprach, deren Wohnungen dem Himmel nahe wären, die, weil schlicht und rechtschaffen, auch glücklich seien, brach er plötzlich seine Rede ab, aus Furcht, die ihm entschlüpfte Aeußerung könne seinem Gaste wehe thun. Ich habe hierüber gründlich nachgedacht und glaube jetzt zu verstehen, was in dem Herzen meines Bruders vorging. Er meinte offenbar, den Unglücklichen quäle der Gedanke an sein Elend auch ohnehin genug; es schien ihm geboten, ihm den Kummer zu verscheuchen, indem er ihn auf dieselbe Weise behandelte wie jeden Andern und ihn – wenn auch nur für einen Augenblick – in den Glauben wiegte, er wäre eben solch ein Mensch wie jeder Andre. Heißt das nicht die Pflicht der christlichen Liebe richtig verstehen, wenn man sich zartsinnig aller Moralpredigten und Anspielungen enthält und den wunden Punkt überhaupt nicht berührt? Dies war, dünkt mich, die Idee, von der sich mein Bruder leiten ließ. Allerdings hat er sich nichts merken lassen, auch mir gegenüber nicht. Er war durchaus derselbe, wie an jedem andern Abend und benahm sich Jean Valjean gegenüber ganz ebenso, als hätte er Hrn. Gédéon Le Prévost oder einen Landpfarrer zu Gaste gehabt.

Zu Ende der Mahlzeit, als wir eben die Feigen verspeisten, klopfte es an die Thür. Es war Mutter Gerbaud mit ihrem Kinde auf dem Arm. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie Mutter Gerbaud zu geben. Der Fremde achtete auf alles dieses nicht. Er sprach nicht mehr und schien recht abgespannt zu sein. Dann sagte mein Bruder, nachdem die arme, alte Gerbaud fortgegangen, das Dankgebet und wandte sich zu dem Gast mit den Worten: »Sie sehnen sich gewiß nach Ihrem Bett.« Frau Magloire deckte rasch ab und ich begriff, daß wir uns nach oben verfügen mußten, um ihn schlafen zu lassen. Indessen schickte ich Frau Magloire noch einmal hinunter mit einem Rehfell, das sie ihm auf sein Bett legte. Die Nächte sind eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es so alt ist, die ganzen Haare fallen schon aus. Mein Bruder hat es zu der Zeit gekauft, wo er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen, sowie auch das kleine Messer mit dem Elfenbeingriff, dessen ich mich bei Tische bediene.

Frau Magloire kam sofort wieder herauf, wir beteten in dem Zimmer, wo die Wäsche getrocknet wird und zogen uns dann, ohne ein Wort zu sprechen, jede in ihre Kammer zurück.

V.
Furchtlose Seelenruhe

Nachdem der Bischof seiner Schwester eine gute Nacht gewünscht, nahm er von dem Tische einen der beiden silbernen Leuchter, gab den andern seinem Gaste und sagte:

»Herr Valjean, ich werde Sie jetzt nach Ihrem Schlafzimmer geleiten.«

Der Fremde folgte ihm.

Wie schon bemerkt, waren die Räume so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und den Alkoven zu gelangen, durch das Schlafzimmer des Bischofs hindurch mußte.

Als sie durch dieses Zimmer gingen, war Frau Magloire gerade im Begriff, das Silberzeug in dem am Kopfende des Bettes befindlichen Wandschrank zu verschließen. Das war das Letzte, was ihr jeden Abend vor dem Schlafengehn zu thun oblag.

Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven, wo ein frisch bezogenes Bett bereit stand. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein Tischchen.

»Nun schlafen Sie wohl,« sagte der Bischof. »Morgen früh, bevor Sie aufbrechen, sollen Sie noch eine Tasse ganz frische Milch bekommen.«

»Danke, Herr Abt,« erwiderte der Gast.

Kaum hatte er diese friedfertigen Worte ausgesprochen, als ihn plötzlich und ohne Uebergang eine sonderbare Regung anwandelte, welche die beiden frommen Frauen, wären sie zugegen gewesen, mit eisigem Schreck erfüllt hätte. Noch heute wird es uns schwer, uns Rechenschaft davon zu geben, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Wollte er eine Warnung aussprechen, oder eine Drohung ausstoßen? Gehorchte er nur einem ihm unbewußten Triebe, den er selbst nicht verstand? Er wandte sich plötzlich um, verschränkte die Arme, betrachtete seinen greisen Wirt mit wilden Blicken und schrie mit rauher Stimme:

»Nanu, Sie geben mir wirklich ein Zimmer in Ihrem Hause, so dicht neben Ihrem?«

Er hielt inne, schlug eine laute Lache auf, die sich grausig anhörte und fuhr fort:

»Haben Sie sich die Sache auch ordentlich überlegt? Woher wissen Sie, ob ich nicht vielleicht ein Raubmörder bin?«

Der Bischof antwortete:

»Das ist eine Sache, die den lieben Gott allein angeht.«

Damit hob er feierlich und indem er die Lippen, wie zum Gebet oder Selbstgespräch, bewegte, zwei Finger der rechten Hand empor, segnete den Gast, der sich nicht neigte, und begab sich, ohne sich umzuwenden und rückwärts zu blicken, in sein Zimmer.

Wenn der Alkoven einen Bewohner hatte, war der Altar mit einem groben Vorhang, der sich durch das ganze Betzimmer hindurch zog, verhangen. Vor diesen Vorhang kniete der Bischof nieder und verrichtete ein kurzes Gebet.

Einen Augenblick darauf spazierte er in seinem Garten, versunken in die Betrachtung jener erhabnen, unerforschbaren Herrlichkeiten, die Gott des Nachts den Augen der Wachenden enthüllt.

Was den Gast betrifft, so war er dermaßen übermüdet, daß er nicht einmal Gebrauch machte von den frischen reinen Laken. Er blies nach Art der Zuchthäusler das Licht mit der Nase aus und sank vollständig angekleidet auf das Bett nieder, wo er sofort fest einschlief.

Es schlug Mitternacht, als der Bischof aus dem Garten in sein Schlafzimmer zurückkehrte.

Einige Minuten nachher schlief alles in dem Hause.

VI.
Jean Valjean

Um die Mitte der Nacht erwachte Jean Valjean.

Jean Valjean entstammte einer Bauernfamilie der Provinz La Brie. In seiner Kindheit hatte er nicht lesen gelernt. Als er das Mannesalter erreicht hatte, war er Baumputzer in Faverolles. Seine Mutter hieß Jeanne Mathieu, sein Vater Jean Valjean oder Vlajean.

Jean Valjean war, wie dies den an Liebe reichen Naturen eigen ist, von nachdenklicher Gemüthsart, ohne jedoch melancholisch zu sein, im Großen und Ganzen aber doch etwas schläfrig und matt. Im ersten Kindesalter verlor er schon seine Eltern. Seine Mutter starb an einem vernachlässigten Milchfieber, sein Vater, der gleichfalls Baumputzer war, an den Folgen eines Sturzes. Es blieb ihm nur noch eine Schwester, die älter war, als er, eine Wittwe mit sieben Kindern. Diese Schwester hatte Jean Valjean erzogen und ihn, so lange sie einen Mann hatte, ernährt. Aber der Mann starb, als das älteste von den Kindern erst acht und das jüngste ein Jahr alt war. Nun vertrat Jean Valjean, der sein fünfundzwanzigstes Jahr erreicht hatte, die Stelle des Vaters und ernährte seine Schwester. Dies betrachtete er als eine selbstverständliche Pflicht und wurde sogar ärgerlich, wenn man ihm wegen seiner Gutmütigkeit Lob spendete. So brachte er seine Jugend in schwerer, schlecht bezahlter Arbeit hin. Mit einer »guten Freundin« war er nie gesehen worden. Er hatte keine Zeit, an die Frauen zu denken.

Des Abends kam er mit zerschlagenen Gliedern nach Hause und aß, ohne ein Wort zu sprechen, seine Suppe. Oft fischte ihm seine Schwester, Mutter Jeanne, das Beste aus seinem Napfe vor der Nase heraus, das Stück Fleisch, den Speck, das Herz von dem Kohl und gab es ihren Kindern, und er aß dabei ruhig weiter, vorn übergeneigt, den Kopf fast im Napfe, um den seine langen Haare herumhingen, und schien nichts zu sehen. In Faverolle wohnte unweit von Valjeans Hütte eine Bäuerin, Marie-Claude genannt. Zu dieser Frau kamen bisweilen die ewig hungrigen Valjean'schen Kinder und holten, angeblich im Namen ihrer Mutter, eine Pinte Milch auf Borg, um die sie sich dann hinter irgend einer Hecke, oder in einem andern Versteck balgten, wobei sie sich die Schürzen tüchtig begossen. Hätte die Mutter Wind bekommen von diesen Spitzbübereien, so hätten die Missethäter erbarmungslose Hiebe besehen. Aber der sonst so barsche und brummige Jean Valjean pflegte hinter dem Rücken der Mutter die Milch der Frau Marie-Claude zu bezahlen und die Kinder entgingen der Züchtigung.

Er verdiente als Baumputzer achtzehn Sous den Tag, nachher verdang er sich als Schnitter, als Handlanger, Hirt, Hausknecht. Er quälte sich redlich und seine Schwester arbeitete ihrerseits auch nach Kräften, aber sieben Kinder sind nicht leicht durchzubringen. Allmählich umklammerte das Elend die bejammernswerte Familie immer fester. Da geschah es einst, daß ein strenger Winter das Land heimsuchte und Jean keine Beschäftigung fand. Die Familie hatte kein Brot, buchstäblich kein Brot. Dabei sieben Kinder!

An einem Sonntag Abend schickte sich Maubert Isabeau, der Bäcker an dem Kirchenplatz in Faverolles, eben an, sich zur Ruhe zu begeben, als er ein starkes Geräusch vernahm, das von dem vergitterten Schaufenster seines Ladens herkam. Er kam noch zu rechter Zeit, um einen Arm zu sehen, der durch die soeben zertrümmerte Vergitterung und die Glasscheibe in den Laden langte und ein Brot herausholte. Isabeau stürzte eilig hinaus, hinter dem Dieb her, der spornstreichs davonrannte, und holte ihn ein. Das Brot hatte der Mann weggeworfen, aber sein Arm war noch ganz blutig. Es war Jean Valjean.

Dies trug sich im Jahre 1795 zu. Jean Valjean wurde wegen nächtlichen Diebstahls mit Einbruch in bewohntem Hause vor Gericht gestellt. Er besaß ein Gewehr, das er trefflich zu brauchen verstand, denn er wilderte gern, was ihm jetzt großen Nachteil brachte. Gegen Wilddiebe besteht ein berechtigtes Vorurtheil. Der Wilddieb ist ebenso wie der Schmuggler, sehr nahe mit dem Räuber verwandt. Indessen trennt diese Leute noch eine weite Kluft von dem abscheulichen Mörder in den Städten. Der Wilddieb lebt im Walde, der Schmuggler im Gebirge oder auf dem Meere. In den Städten kann der Mensch in Folge der Sittenverderbniß blutdürstig werden; im Gebirge, auf dem Meere, im Walde wohl scheu und verschlossen, jedoch ohne stets alle Menschlichkeit abzustreifen.

Jean Valjean wurde schuldig erklärt. Der Wortlaut des Strafgesetzbuches ließ keine mildernde Deutung zu. Unsre Civilisation hat furchtbare Strafen, diejenigen insbesondere, wo kraft eines Richterspruches eine menschliche Existenz Schiffbruch erleidet. Trauervoller Augenblick, wo die Gesellschaft sich abwendet und die nicht wieder gut zu machende Verstoßung eines denkenden Wesens vollzieht! Jean Valjean ward zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurtheilt.

Am 22. April 1796 wurde in Paris der Sieg ausgerufen, den bei Montenotte der Obergeneral der in Italien kämpfenden Armee davon getragen, jener General, den die Botschaft des Direktoriums an den Rath der Fünfhundert Buona-Parte nennt; an demselben Tage wurde im Gefängniß Bicêtre eine große Kette Galeerensträflinge gebildet, in die auch Jean Valjean eingefügt wurde. Ein ehemaliger, jetzt neunzigjähriger Schließer entsinnt sich noch sehr gut jenes Unglücklichen, der in der Nordecke des Hofes angeschmiedet wurde. Er saß, wie alle Andern, auf der Erde. Er schien nicht zu begreifen, was mit ihm vorging; nur dessen wurde er inne, daß es etwas Schreckliches war. Vielleicht hob sich auch von all den unklaren Gedanken, die in seinem armen, unwissenden Hirn herumwirbelten, derjenige etwas deutlicher ab, daß die ihm angethane Grausamkeit alles Maß überschreite. Während ihm hinter dem Kopfe mit kräftigen Hammerschlägen der Bolzen seines Halseisens eingetrieben wurde, weinte er, weinte so heftig, daß es seine Worte erstickte und nur von Zeit zu Zeit stieß er hervor: »Ich war Baumputzer in Faverolles.« Dann hob er, während er weiter schluchzte, die rechte Hand in die Höhe und senkte sie, jedes Mal etwas tiefer wie vorher, als wenn er sie nacheinander auf sieben Kinder verschiedner Größe legen wollte, und aus diesen Handbewegungen schloß man, daß er nur gefehlt hatte, weil er für sieben Kinderchen Nahrung und Kleidung hatte beschaffen wollen.

Er wurde nach Toulon geschickt, wo er nach einer siebenundzwanzigtägigen Reise, die Kette am Halse, auf einem Karren, eintraf. Hier wurde er in die rothe Jacke gesteckt, und sein ganzes Leben, einschließlich seines Namens, ausgelöscht: Er war nicht mehr Jean Valjean, sondern Nummer 24601. Was wurde aus der Schwester und den sieben Kindern? Wer fragt nach so etwas? Was wird aus den paar Blättern des Baumes, den die Säge von seiner Wurzel getrennt hat?

Es ist immer dieselbe Geschichte, die armen Wesen, ihres Ernährers und Führers beraubt, gingen verloren auf dem Wege, auf dem die Menschheit einherwandert. Sie verließen ihre Heimat. Die Kirche, in der sie gebetet, das Feld, auf dem sie gespielt, vergaß sie; Jean Valjean selber vergaß sie nach einigen Jahren. Die Wunde in seinem Herzen vernarbte einfach. Kaum daß er während seiner ganzen Sträflingszeit ein einziges Mal von seiner Schwester Nachricht bekam. Dies geschah, wenn ich nicht irre, zu Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Auf welchem Wege diese Botschaft zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr. Irgend Jemand, der sie beide gekannt hatte, war seiner Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße bei der Kirche Saint-Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur noch das jüngste Kind, einen Knaben bei sich. Wo die anderen waren, wußte sie wohl selber nicht. Alle Morgen ging sie in eine Druckerei in der Rue Sabot, wo sie als Falzerin und Hefterin beschäftigt war. Sie mußte um sechs Uhr Morgens da sein, noch ehe im Winter der Tag anbricht. In demselben Gebäude war eine Schule, wo sie jeden Tag ihren siebenjährigen Jungen hinbrachte. Da sie aber um sechs Uhr in die Druckerei mußte und die Schule erst um sieben geöffnet wurde, so wartete das Kind auf dem Hofe eine Stunde lang im Finstern und in der Kälte. In die Druckerei wollte man ihn nicht hereinlassen, weil er im Wege sei. Die Arbeiter sahen des Morgens das arme kleine Wesen, wie es kaum fähig die Augen aufzuhalten vor Müdigkeit, auf dem Pflaster saß, oder über seinen Korb gebeugt, in einer Ecke schlief. Wenn es regnete, erbarmte sich seiner die alte Portierfrau und ließ es herein in ihre armselige Wohnung, wo nur ein schlechtes Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle standen. Da schlummerte das Kind in einer Ecke, dicht an die Katze geschmiegt, um nicht so zu frieren. Um sieben Uhr wurde die Schule aufgemacht, und der Kleine konnte hinein. Dies war es, was man Jean Valjean erzählte. Es war der einzige Blick, den er aus seinem Gefängniß auf das Schicksal seiner Lieben werfen durfte; dann hörte er nie wieder von ihnen sprechen.

Gegen Ende des vierten Jahres wurde Jean Valjean die Gelegenheit geboten, zu entspringen. Seine Kameraden halfen ihm, wie dies in einem solchen Ort des Elends gewöhnlich ist. Er entkam und irrte zwei Tage lang frei umher – vorausgesetzt, daß man es Freiheit nennt, wenn Einer wie ein wildes Thier gehetzt wird, jeden Augenblick sich angstvoll umwendet, beim geringsten Geräusch zusammenschrickt, sich vor allem Möglichen fürchtet, vor einem rauchenden Schornstein, einem Menschen, der vorbeigeht, einem bellenden Hunde, einem galloppierenden Pferde, vor dem Stundenschlag der Kirchturmuhr, vor dem Tageslicht, weil er dabei gesehen werden kann, vor der Nacht, weil er dann nichts sieht, vor den Chausseen, den Wegen, den Gebüschen, vor dem Schlaf. Am Abend des zweiten Tages wurde Jean Valjean wieder eingefangen, nachdem er die sechsunddreißig Stunden hindurch weder gegessen noch geschlafen hatte. Das Seetribunal verurtheilte ihn wegen dieses Vergehens zu einer Verlängerung seiner Strafzeit um drei Jahre, so daß er im Ganzen acht Jahre zu verbüßen hatte. Im sechsten Jahre kam die Reihe zu entspringen abermals an ihn. Er machte wieder einen Versuch, gelangte aber nicht einmal ins Freie. Er hatte beim Namensruf gefehlt. Es wurde der übliche Signalschuß abgefeuert, und in der Nacht fand ihn die Runde unter dem Kiel eines im Bau begriffenen Schiffes und nahm ihn trotz seines heftigen Widerstandes fest. Also Flucht und Widersetzlichkeit. Dieser von dem Strafgesetzbuch vorgesehene Fall wurde mit fünf Jahren bestraft. Machte dreizehn Jahre. Im zehnten Jahr kam er wieder an die Reihe, benutzte auch die Gelegenheit, hatte aber wieder keinen Erfolg. Drei Jahr für diesen Versuch. Summa: sechzehn Jahre. Endlich wagte er es im dreizehnten Jahre, wenn ich nicht irre, noch einmal und richtete weiter nichts aus, als daß er nach einstündiger Abwesenheit, wieder dingfest gemacht wurde. Drei Jahre für die vier Stunden, Summa: neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er aus dem Gefängniß entlassen, in das er 1796 eingesperrt worden war, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.

Eine kurze Anmerkung. Es ist das zweite Mal, daß dem Verfasser dieses Buches bei seinen Studien über die Strafgerechtigkeit die Entwendung eines Brodes als Ursache der Vernichtung einer menschlichen Existenz aufstößt, Claude Gueux hatte ein Brod gestohlen, Jean Valjean desgleichen. Laut einem statistischen Bericht ist in vier Fällen unter fünf der Diebstahl eine Folge des Hungers.

Jean Valjean hatte das Gefängniß schluchzend und Verzweiflung im Herzen betreten; als er es verließ, war er ein harter, finstrer Mann geworden.

Was war inzwischen in seiner Seele vorgegangen?

VII.
Wie es im Herzen eines Verzweifelten aussieht

Versuchen wir es klar zu legen.

Die Gesellschaft muß dergleichen Dinge ihrer Beachtung würdigen, denn sie giebt ja den Anlaß zu ihrer Entstehung.

Jean Valjean war, wie schon erwähnt, ohne Bildung; aber doch auch kein Dummkopf. Seinen Verstand erleuchtete ein natürliches Licht. Das Unglück, das aufhellend wirkt, verstärkte dieses schon vorhandene Licht. Die Stockschläge, die Last der Kette, die Qualen der Zellenhaft, die Ueberarbeitung, die Härte seiner Lagerstätte zwangen ihn Einkehr in sein Gewissen zu halten und nachzudenken.

Er unterwarf also seinen Fall einer sorgfältigen Prüfung und lud zunächst sich selber vor das Tribunal seines Gewissens.

Als Resultat der Untersuchung ergab sich, daß er kein ungerecht bestrafter Unschuldiger war. Er gestand sich ein, daß er zu weit gegangen, daß er sich etwas Tadelnswerthes hatte zu Schulden kommen lassen. Man hätte ihm das Brod vielleicht nicht abgeschlagen, wenn er darum gebeten hätte. Er konnte warten, bis man es ihm aus Mitleid schenkte, oder er es mit seiner Hände Arbeit verdiente. Der Einwand, daß ein Hungriger nicht warten könne, war auch nicht stichhaltig. Denn es ist selten, daß ein Mensch wörtlich Hungers stirbt. Glücklicher oder unglücklicher Weise kann der Mensch viel aushalten, in moralischer und physischer Hinsicht, ohne zu sterben. Er hätte sich also gedulden sollen, was auch im Interesse der Kinder das Beste gewesen wäre. Es war eine Thorheit, daß er, schwach wie er als Einzelner war, gewaltthätig gegen die Gesellschaft wurde und sich einbildete, der Diebstahl werde ihn aus dem Elend retten. Auf dem Wege, der zur Schande führt, konnte er doch nicht aus dem Elend herauskommen! Kurz er sah ein, daß er nicht recht gethan hatte.

Nun warf er die Frage auf, ob er allein schuld an seinem Unglück sei. Ob das nicht eine bedenkliche Sache war, daß es ihm, einem Arbeiter, an Arbeit, ihm, einem fleißigen Menschen, an Brod gefehlt habe. Ob ferner, nachdem das Vergehen begangen und eingestanden war, die Strafe nicht übertrieben hart ausfiel. Ob das Gesetz nicht zu weit gegangen in der Bestrafung, wie er in seiner Verschuldung. Ob nicht auf der einen Wagschale, derjenigen, auf der die Sühne lag, ein Uebergewicht vorhanden war. Ob nicht die übermäßige Härte der Strafe das Vergehen aufhob und nicht das Verhältnis umkehrte, so daß jetzt die richtende Gewalt die Stelle des Verbrechens einnahm, der Verurtheilte und Schuldige sich als derjenige Theil erwies, dem Unrecht widerfahren war, als Gläubiger, nicht mehr als Schuldner. Ob die Strafe, samt ihren, wegen der Fluchtversuche auferlegten Verschärfungen sich nicht schließlich zu einer Art Attentat des Stärkeren gegen den Schwächern, zu einem Verbrechen der Gesellschaft gegen ein Individuum zuspitzte, zu einem Verbrechen, das sich täglich wiederholte, das neunzehn Jahre lang begangen wurde.

Er fragte sich auch, ob die Gesamtheit das Recht habe, die Folgen der unvernünftigen staatlichen Einrichtungen und der unerbittlichen Härten des Gesetzes dem Einzelnen aufzubürden, und einen armen Teufel in die Enge zu treiben zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, zu wenig Arbeit und zu viel Strafe.

Ob es nicht eine Ungeheuerlichkeit sei, daß die Gesellschaft gerade die vom Zufall am wenigsten Begünstigten so behandle, also gerade diejenigen, die am meisten der Schonung bedürften.

Nachdem er diese Fragen gestellt und gelöst, sprach er das Urtheil über die Gesellschaft.

Es lautete, daß sie seines Hasses schuldig sei.

Er machte sie für sein unglückliches Loos verantwortlich und sagte sich, er werde vielleicht sich nicht bedenken, eines Tages Rechenschaft von ihr zu verlangen. Er erklärte in seinem Innern, es bestehe kein Gleichgewicht zwischen dem Schaden, den er verursacht, und demjenigen, den man ihm zugefügt hatte. Er zog endlich das Facit, daß seine Bestrafung zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit war.

Der Groll kann thöricht und abgeschmackt sein, wer erzürnt ist, hat dazu nicht immer einen zulänglichen Grund; aber entrüstet ist man nur, wenn man in irgend einem Punkte Recht hat. Jean Valjean empfand Entrüstung.

Ueberhaupt hatte ihm die Gesellschaft nur Böses zugefügt. Wenn sie ihm ihr Antlitz zukehrte, geschah es nur um Zorn zu bekunden, auf ihn loszuschlagen, was sie »Gerechtigkeit« nannte. Die Menschen hatten sich um ihn nur bekümmert, um ihn zu martern. Bei jeder Berührung mit ihnen fiel ein Schlag auf ihn. Seit seiner Kindheit, seitdem er seine Mutter verloren, seitdem er von seiner Schwester getrennt war, nie war ihm ein freundliches Wort, nie ein wohlwollender Blick gespendet worden. Die endlosen Qualen befestigten in ihm schließlich die Ueberzeugung, das Leben sei ein Kampf, indem er den Kürzeren gezogen habe. Er hatte keine andre Waffe, als seinen Haß. Diese beschloß er im Gefängniß möglichst scharf zu machen und sie mitzunehmen, wenn er in die Welt hinausgehen würde.

In Toulon gab es eine, von den Ignorantinern gehaltne Schule, wo den Sträflingen, die sich freiwillig dazu meldeten, das Notwendigste gelehrt wurde. Jean Valjean nahm an diesem Unterricht theil, und lernte im Alter von vierzig Jahren lesen, schreiben und rechnen. Er hatte die Empfindung, daß eine Stärkung seines Verstandes auch seinen Haß stärken würde. Bildung und Klugheit eignen sich nicht blos zur Förderung des Guten, sondern machen auch das Böse mächtiger.

Leider richtete Jean Valjean nicht nur die Gesellschaft, die schuld an seinem Unglück war; er richtete und verurtheilte auch die Vorsehung, die die Gesellschaft geschaffen.

Auf diese Weise schritt er während seiner neunzehnjährigen Qual und Sklaverei auf dem Wege der Erkenntnis sowohl vorwärts, als auch rückwärts. Auf der einen Seite drang Licht, auf der andern Finsternis in seine Seele.

Jean Valjean, haben wir gesagt, war von Natur nicht schlecht. Als er ins Gefängniß kam, wer er noch gut. Er verurtheilte hier die Gesellschaft und fühlte, daß er bösartig, er verurtheilte die Vorsehung und fühlte, daß er gottlos wurde.

An dieser Stelle ist es schwer, einige Fragen, die sich mit Gewalt vordrängen, zurückzuweisen.

Aendert sich die menschliche Natur so vollständig und von Grund aus? Kann der Mensch, ein Geschöpf Gottes, das von Natur gut ist, durch Menschen in ein schlechtes Wesen umgewandelt werden? Kann die Seele durch die Ungunst des Schicksals ganz und gar umgemodelt werden? Kann das Herz eine Mißbildung erleiden und unter dem Druck eines übermäßigen Unglücks unheilbar verunstaltet werden, wie das Rückgrat unter einem zu niedrigen Gewölbe? Glimmt nicht in jeder Menschenseele, glimmte nicht in Jean Valjeans Seele ein Funke, ein unzerstörbarer Bestandteil göttlichen Ursprungs, den das Gute beleben, zu strahlendem Glanze anfachen, das Böse aber nie vollständig auslöschen kann?

Die letzte dieser gewichtigen und schwierigen Fragen hätte wohl jeder Physiologe negativ beantwortet, und ohne sich zu bedenken, hätte er zu Toulon in den Ruhestunden, wenn Jean Valjean sich in seine Gedanken vertiefte, ihn gesehen, diesen trübseligen, ernsten, schweigsamen Galeerensklaven, diesen Paria der Gesetze, der auf die Menschen mit Zorn, diesen von der Civilisation Verstoßenen, der zum Himmel mit Unwillen emporblickte.

Sicherlich – wir können es uns nicht verhehlen – würde ein beobachtender Physiologe dieses Uebel für unheilbar erklärt haben; er hätte vielleicht diesen Kranken, der sein Leiden dem Gesetz verdankte, beklagt, aber eine Kur hätte er nicht versucht; er würde seinen Blick von den Abgründen abgewendet, die ihm aus dieser Seele entgegengähnten und wie Dante am Thor der Hölle, für dieses Dasein, das Wort »Hoffnung« ausgestrichen haben, das doch Gottes Finger auf die Stirn jedes Menschen geschrieben hat.

War sich Jean Valjean über seinen Seelenzustand so vollkommen klar, wie unsere Leser, wenn es uns gelungen ist, ihn richtig zu schildern? Erkannte er deutlich nach ihrer Entstehung alle die Stücke, welche die Bestandtheile seines sittlichen Elends bildeten? Hatte sich dieser rohe und unwissende Mensch klare Rechenschaft darüber gegeben, vermöge welcher Reihenfolge von Ideen er zu den öden, trostlosen Anschauungen gelangt war, die seinen geistigen Horizont einengten? War er sich dessen bewußt, was alles in ihm vorgegangen war und sich gegenwärtig in ihm regte? Diese Fragen wagen wir nicht zu beantworten; ja wir glauben, daß es nicht der Fall war. Es steckte zu viel Unwissenheit in Jean Valjean, als daß, selbst nach so viel Leiden, keine Unklarheit in ihm zurückgeblieben wäre. Zeitweise wußte er nicht einmal genau, was er eigentlich empfand. Jean Valjeans Geist war in Finsternis gehüllt und diese Finsternis verschleierte ihm sein Unglück sowohl, wie seinen Haß: Er haßte, sozusagen, blindlings darauf los. Er lebte und webte in diesem Dunkel, in dem er wie ein Blinder und Träumer umhertappte. Von Zeit zu Zeit nur, wenn urplötzlich in seinem Innern der Zorn wild aufwallte, oder von außen ein neues Unglück über ihn hereinbrach, flammte in seiner Seele ein Licht auf und zeigte ihm all' die Schrecknisse des schaurigen Weges, auf dem er vom Schicksal verdammt war, durch dieses Erdenleben zu wandern.

War das Licht erloschen, so umgab ihn wieder finstere Nacht und er wußte nicht mehr, wo er war.

Eine Besonderheit der erbarmungslosen, also verthierenden Strafen besteht darin, daß sie den Menschen dumpf und stumpf machen, ihn verdummen und verwildern, ja bisweilen in ein reißendes Thier verwandeln. Daß in der That eine solche Veränderung einer Menschenseele dem Gesetz auf Rechnung zu setzen ist, beweisen zur Genüge Jean Valjeans wiederholte und hartnäckige Fluchtversuche. Er hätte dieselben, so hoffnungslos und unsinnig sie auch waren, immer wieder erneuert, so oft sich eine Gelegenheit bot, ohne einen Augenblick an die Folgen und die vorigen schlechten Erfahrungen zu denken. Er riß so ungestüm aus, wie der Wolf, der seinen Käfig offen findet. Der Instinkt rief ihm zu: »Lauf weg!« Die Vernunft hätte geboten: »Bleibe hier!« Aber einer starken Versuchung gegenüber schwieg die Ueberlegung und es blieb nur der thierische Instinkt übrig. War der Flüchtling dann wieder eingefangen, so hatten die neuen Strafen nur die Folge, daß sie seinen Sinn noch mehr verwirrten und verstörten.

Noch müssen wir erwähnen, daß ihm an Körperkraft kein einziger seiner Leidensgefährten nahe kam. Galt es ein Tau zu spinnen, eine Winde zu drehen, so leistete Jean Valjean so viel, wie vier Mann zusammengenommen. Er konnte ungeheure Lasten heben und auf dem Rücken tragen und ersetzte gelegentlich eine Wagenwinde. Eines Tages, als der Balcon des Rathhauses zu Toulon reparirt wurde, gab eine der wunderbar schönen Karyatiden von Puget, die jenen Balcon tragen, nach und drohte herunter zu fallen. Da trat Jean Valjean, der gerade zugegen war, heran und hielt die Karyatide mit seinen Schultern fest, bis die Arbeiter kamen.

Seine körperliche Gewandtheit übertraf noch seine Kraft. Manche Zuchthäusler, die unausgesetzt auf Flucht sinnen, bilden die Verbindung der Kraft und Geschicklichkeit zu einer wahren Wissenschaft aus. Tagtäglich wird eine geheimnisreiche Statik von den Gefangenen ausgeübt, die ewig mit Neid an den Flug der Fliegen und der Vögel denken. An einer senkrechten Fläche emporklimmen, Stützpunkte finden, wo ein Andrer kaum eine Unebenheit sieht, war für Jean Valjean ein Spiel. Er brachte es fertig in einer Ecke, indem er seine Rücken- und Kniemuskeln spannte, Ellbogen und Hacken in die schwachen Vertiefungen des Steins stemmte, sich bis zu dem dritten Stock eines Gebäudes hinaufzuziehen. Manchmal hatte er so das Dach des Gefängnisses erreicht.

Er sprach wenig und lachte noch seltner. Es bedurfte einer besondern Erregung, um ihn zum Lachen zu bringen. Dann war es, als höre man den Wiederhall eines grausigen Dämonengelächters. Für gewöhnlich sah er aus, wie wenn er eine schreckliche Erscheinung betrachte.

Dies war auch, im Grunde genommen, der Fall.

Neben den krankhaften Einbildungen, die ihm sein unausgebildeter und geängstigter Verstand vorspiegelte, drängte sich ihm die Vorstellung auf, daß etwas Ungeheuerliches auf ihm laste. In dem geistigen Halbdunkel, in dem er umherkroch, sah er jedes Mal, wenn er den Hals umwendete und den Blick emporrichtete, mit Wuth und Schrecken Gesetze, Vorurtheile, Menschen und Thatsachen zu einem unendlich hohen, grausig steilen Berge aufgeschichtet, dessen Umrisse sich seinem Blick entzogen, dessen Umfang ihn entsetzte, und der nichts Andres war, als was wir die Civilisation nennen. In diesem formlosen Wirrwarr unterschied er, bald in der Nähe, bald in der Ferne und auf unnahbaren Höhen, irgend eine lebhaft beleuchtete Gruppe oder Einzelerscheinung, wie den Profoß mit seinem Stock, den Gendarmen mit seinem Säbel, den Erzbischof mit der Mitra und ganz oben, von grellem Licht übergossen, den Kaiser mit der Krone auf dem Haupte. Ihm däuchte, diese fernen Glanzgestalten machten die Nacht um ihn, statt sie zu erhellen, noch grausiger und dunkler. Alles dies, Gesetze, Vorurtheile, Thatsachen, Menschen, Institutionen, bewegte sich über ihm hin und her, nach jenen verwickelten und geheimnisvollen Gesetzen, die Gott der Civilisation vorgeschrieben hat, schritt über ihn hinweg und erdrückte ihn, ruhevoll und gemüthlich bei all seiner Grausamkeit und herzlosen Gleichgiltigkeit.

Was für Betrachtungen mochte wohl Jean Valjean anstellen, wenn er über sein Verhältnis zur Welt nachdachte? Doch wohl Betrachtungen ähnlicher Natur, wie die eines Getreidekornes zwischen zwei Mühlsteinen, wenn ein Getreidekorn denken könnte.

Das Durcheinander von Spuk und Wirklichkeit hatte schließlich seinen Geist in einen absonderlichen Zustand versetzt.

Von Zeit zu Zeit hielt er plötzlich mitten in der Arbeit inne und fing an zu grübeln. Seine Vernunft, die im Laufe der Zeit zugleich reifer geworden und an Klarheit verloren hatte, empörte sich. Alles, was ihm widerfahren war, kam ihm sinnlos, was ihn umgab, unmöglich vor. Er dachte bei sich: »Es ist ein Traum.« Er sah dicht in seiner Nähe den Profoß und hielt ihn für ein Phantom, aber plötzlich erhielt er einen Stockschlag von dem Phantom.

Die sichtbare Natur existirte kaum für ihn. Man könnte beinah behaupten, daß es für Jean Valjean keinen Sonnenschein, keine schönen Sommertage, keine kühle Morgenröthe gab. Seine Seele befand sich, so zu sagen, in einer Art Kellerdämmerung.

Um schließlich das Gesagte, so weit dies angeht, kurz zusammenzufassen, konstatieren wir, daß Jean Valjean, ein harmloser Baumputzer in Faverolles, ein gefährlicher Zuchthäusler in Toulon, dank dem neunzehnjährigen Aufenthalt im Gefängniß, jetzt im Stande war, zweierlei Arten von Schlechtigkeiten zu begehen. Erstens eine rasch beschlossene, unüberlegte, instinktiv schlechte Handlung, eine Art Rache für erduldetes Leid; zweitens eine vorbedachte, aus den falschen Begriffen des Unglücks abgeleitete. Seine Entschlüsse durchliefen nach einander die drei Stadien, die nur gewisse Naturen durchmachen: Ueberlegung, Wille, Eigensinn. Seine Beweggründe waren gewohnheitsmäßige Entrüstung, Verbitterung, Auflehnung gegen die ganze Menschheit, auch gegen die Guten, Schuldlosen und Gerechten, – wenn es solche giebt. Der Ausgangs- und Anfangspunkt aller seiner Gedanken war der Haß gegen das von Menschen gemachte Gesetz; dieser Haß artet, wenn er nicht durch irgend ein, von der Vorsehung gewolltes Ereigniß in seiner Entwickelung gehemmt wird, in Haß gegen die Menschheit überhaupt, dann gegen die Thiere aus und giebt sich kund durch ein instinktives, unaufhörliches, bestialisches Verlangen, irgend einem lebenden Wesen zu schaden. Also bezeichnete Jean Valjeans Paß ihn nicht ohne Grund als einen sehr gefährlichen Menschen.

Von Jahr zu Jahr war sein Herz langsam, aber mit Notwendigkeit allmählich vertrocknet, und ebenso seine Augen. Als er das Gefängniß verließ, waren es neunzehn Jahre her, daß er eine Thräne geweint hatte.

VIII.
Ein Mann über Bord!

Ein Mann über Bord!

Wer kehrt sich daran? Das Schiff bleibt nicht stehen. Der Wind treibt es weiter, und es muß seinen Weg fortsetzen. Es fährt vorbei.

Der Mann verschwindet in den Wellen und taucht wieder empor. Er ruft, streckt die Arme aus. Niemand hört ihn. Matrosen und Passagiere denken nur an den Sturm, der das Schiff erbarmungslos schüttelt. Keiner sieht den Verlornen, sein unglückliches Haupt ist nur ein Punkt in der unendlichen Wasserwüste.

Wie grauenvoll ist für ihn der Anblick jenes Segels, das vor ihm flieht! Er stiert ihm nach mit der ganzen Kraft seiner Augen. Aber wehe! Es wird kleiner, immer kleiner. Eben noch war er mit den andern Matrosen auf dem Deck und hatte Theil am Leben und am Licht. Und jetzt! Er glitt blos aus, er fiel, und nun ist es vorbei mit ihm.

Jetzt ist er ein Spielball der Fluthen. Sie weichen und gleiten unter ihm dahin, steigen empor und umtosen ihn, spritzen ihre Gischt auf ihn, wirbelten ihn herum, tauchen ihn unter und zeigen ihm die Finsternisse der Tiefe, umstricken seine Füße mit unentwirrbaren, unbekannten Gewächsen, dringen durch alle Poren, durch Mund und Nase in ihn hinein und wetteifern ihn zu verhöhnen, zu verderben.

Wohl wehrt er sich gegen ihren Haß. Er bietet alle seine schwachen Kräfte auf, die unerschöpflichen Naturgewalten zu bekämpfen. Er schwimmt.

Wo ist denn das Schiff? Da hinten, kaum noch sichtbar im fahlen Dämmerlicht des Horizonts.

Der Sturm rast weiter, die Fluthen dringen stärker auf ihn ein. Er richtet die Augen empor und sieht nur noch die fahlen Wolken.

Es fliegen wohl Vögel über dem unendlichen Wasserschwall, wie die Engel einherschweben über all der Noth des Erdendaseins; aber was können sie thun, ihm zu helfen? Das fliegt, steigt und zwitschert, und er, er stöhnt und seufzt.

Jetzt bricht die Nacht herein. Stundenlang schwimmt er schon; seine Kräfte gehen zu Ende. Das Schiff, das Ding, in dem Menschen waren, ist verschwunden. Er ist allein in der grauenvollen, dämmrigen Oede. Er sinkt. Er hebt sich, windet und krümmt sich. Er fühlt unsichtbare Mächte, die ihn hinabreißen wollen, und ruft.

Menschen sind nicht da. Wo ist Gott?

Er ruft. Um ihn und über ihm ist nur der Raum, das Wasser, Algen, Klippen, der Himmel; aber die sind alle taub und stumm.

Da packt ihn die Verzweiflung. Des unnützen Kampfes müde, entschließt er sich zu sterben und versinkt in die Tiefe der Vernichtung.

Diesem Manne, der hilflos auf dem Meere untergeht, gleicht auch der Unglückliche, den das erbarmungslose Gesetz zu geistiger und moralischer Vernichtung verdammt.

Auch die Seele, die, von der Gesellschaft über Bord geworfen, sich selbst überlassen bleibt, kann ihr Leben verlieren, und wer wird sie wieder erwecken?

IX.
Neue Mißhandlungen

Als Jean Valjean das Zuchthaus verlassen durfte, als er die sonderbaren Worte vernahm: »Du bist frei!« durchbebte ihn ein unsägliches Wonnegefühl, und ihm war, als dringe endlich ein Strahl belebendes Licht tief in ihn hinein. Aber es währte nicht lange, so verblaßte der Schein. Der Gedanke an die Freiheit hatte ihn entzückt, er hatte gewähnt, nun beginne für ihn ein neues Leben. Bald aber merkte er, was für eine Freiheit das ist, die einen gelben Paß mitbekommt.

Die neuen Erfahrungen begannen schon im Zuchthaus selber. Nach seiner Berechnung mußte sich sein ersparter Verdienst auf hundertundeinsiebzig Franken belaufen. Freilich hatte er die Sonn- und Festtage abzuziehen vergessen, was einen Abzug von ungefähr vierundzwanzig Franken bedeutete. Wie dem aber auch sei, es wurden ihm noch andre Abzüge gemacht, soviel, daß er schließlich nur hundertundneun Franken fünfzehn Sous ausgezahlt bekam.

Er hatte diese Berechnung nicht verstanden und meinte, ihm sei Unrecht geschehen, oder um es ohne Umschweife zu sagen, er wäre geprellt worden.

An dem Tage, nachdem er in Freiheit gesetzt worden war, sah er in Grasse vor einer Destillation Leute, die Waarenballen abluden. Er bot seine Dienste an, und da die Arbeit drängte, wurde er ohne Weiteres engagirt, Er griff tapfer zu und sein Arbeitgeber schien mit ihn zufrieden zu sein. Da kam ein Gendarm des Weges, sah ihn und fragte nach seinen Papieren. Er mußte also seinen gelben Paß vorlangen. Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Kurz zuvor hatte er einen von den Arbeitern gefragt, wieviel sie bei dieser Beschäftigung pro Tag verdienten. »Dreißig Sous«, lautete der Bescheid. Am Abend meldete er sich, da er genöthigt war, am nächsten Morgen in aller Frühe weiter zu marschieren, bei seinem Arbeitgeber und bat um Bezahlung. Dieser sprach kein Wort und gab ihm nur fünfzehn Sous. Er protestirte, erhielt aber die Antwort: »Für so Einen, wie Dich, ist's genug.« Er wollte sich sein Recht nicht nehmen lassen. Da sah ihn der Destillateur scharf an und sagte: »Möchtest Du denn wieder ins Zuchthaus zurück?«

Auch hier konnte er sich als geprellt betrachten.

Hatte ihn der Staat, die Gesellschaft im Großen betrogen, so wurde er jetzt im Kleinen benachteiligt.

Die Entlassung bedeutete noch nicht die Freiheit. Kommt man aus dem Zuchthaus heraus, so hat man damit noch nicht die Verurtheilung abgeschüttelt.

So war es ihm in Grasse ergangen. Weiter oben haben wir gesehen, wie er in Digne aufgenommen worden war.

X.
Das Erwachen

Also als die Domuhr zwei schlug, erwachte Jean. Er erwachte, weil das Bett zu gut war. Nahe an zwanzig Jahre waren dahingegangen, seitdem er in einem Bett geschlafen, und obschon er sich nicht ausgekleidet hatte, war die Empfindung doch zu neu, als daß sie nicht seinen Schlaf hätte stören sollen.

Er hatte etwas über vier Stunden geschlummert. Seine Müdigkeit war vergangen. Es lag nicht in seiner Art, viel Zeit mit Schlafen hinzubringen.

Er machte die Augen auf und ließ seine Blicke im Dunkeln um sich herumschweifen, dann schloß er sie, um wieder einzuschlafen.

Wenn den Tag über vielerlei Gedanken und Gefühle den Geist bestürmt haben, kann man am Abend wohl einschlafen; erwacht man aber, so ist dies nicht mehr möglich. Das erste Mal kommt der Schlaf leichter, als das zweite. Diese Erfahrung machte jetzt auch Jean Valjean. Er konnte nicht wieder einschlafen und fing an nachzudenken.

Er befand sich in einer Gemüthsverfassung, wo man nur verworrener Gedanken fähig ist. In seinem Hirn schwirrte alles hin und her und durcheinander; Altes und Neues nahm die mannigfaltigsten Gestalten und Proportionen an und verschwand dann wieder eben so rasch. Aber unter den vielen Gedanken, die seinen aufgeregten Geist beschäftigten, war einer, der sich beständig in den Vordergrund drängte und alle andern verscheuchte. Es war dies, um es sogleich zu sagen, die Erinnerung an die sechs silbernen Bestecke und den großen silbernen Löffel, die Frau Magloire auf den Tisch gebracht hatte.

Dieses Silbergeschirr ließ ihm keine Ruhe. Es war da. In seiner nächsten Nähe. In dem Augenblick, wo er durch das Zimmer nebenan hindurchgekommen, hatte es die alte Magd in den Wandschrank, neben dem Kopfende des Bettes, gelegt. Diesen Schrank hatte er sich gut gemerkt. Rechts, vom Speisezimmer aus. Massives Silber. Und altes Silber. Man würde mindestens zweihundert Franken dafür kriegen.

Eine ganze Stunde sann er so hin und her, denn er gab sich einige Mühe, des bösen Gedankens Herr zu werden. Als es drei Uhr schlug, öffnete er die Augen wieder, richtete sich auf, tastete nach seinem Tornister, den er in eine Ecke des Alkovens gestellt hatte und blieb dann auf dem Bett sitzen.

In dieser Haltung verharrte er einige Zeit, und wer ihn gesehen hätte, in diesem stillen Hause, wo Alles schlief, der hätte sich schwerlich eines Schauders erwehren können. Plötzlich bückte er sich, zog seine Schuhe aus und stellte sie leise auf die Strohmatte, die vor dem Bett lag, richtete sich wieder empor und fuhr in seiner Grübelei fort.

Der abscheuliche Gedanke ließ sich nicht bannen. Er kam, ging, kam wieder; daneben aber hielt ihm seine Phantasie maschinenmäßig und mit unerklärlicher Hartnäckigkeit das Bild eines ehemaligen Leidensgefährten, Namens Brevet, vor die Seele. Dieser Brevet hatte Hosenträger mit nur einem Tragband, und das Mäandermuster dieses Tragbands tauchte beständig vor Jean Valjeans innern Augen auf.

So hätte er vielleicht noch bis Tagesanbruch regungslos dagesessen, wenn die Uhr nicht geschlagen hätte, ein Viertel oder halb. Ihm war, als hieße das: »Vorwärts!«

Er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und horchte. Alles war still im Hause. Nun ging er mit kurzen Schritten gerade auf das Fenster zu. Die Nacht war nicht sehr dunkel; am Himmel schien der Vollmond, nur daß er ab und zu durch die vom Winde gejagten Wolken verdeckt wurde. Es fiel also in das Zimmer, auch wenn es draußen am dunkelsten war, noch ein dämmriges, fahles Licht, bei dem man die Gegenstände deutlich genug erkennen konnte. Am Fenster angelangt, sah Jean Valjean es genau an. Es war nicht vergittert, ging nach dem Garten hinaus und war, wie es dort zu Lande üblich ist, nur leicht verklinkt. Er öffnete es, aber da plötzlich ein kalter Luftzug in das Zimmer drang, machte er es eiligst wieder zu. Dann überschaute er aufmerksam den Garten. Eine weiße Mauer ringsherum, die ganz niedrig und leicht zu ersteigen war. Im Hintergrunde, jenseit der Mauer, gleichweit von einander abstehende Baumkronen, also war dort eine Allee oder eine mit Bäumen bepflanzte Straße.

Nach Beendigung dieser Umschau machte er eine entschlossene Bewegung, kehrte in seinen Alkoven zurück, wühlte in seinem Tornister, entnahm ihm einen Gegenstand, den er auf das Bett legte, steckte seine Schuhe in eine von seinen Taschen, schnallte den Tornister wieder zu, lud ihn sich auf den Rücken, setzte seine Mütze auf, zog den Schirm tief herab, tappte sich zu der Ecke hin, wo sein Stock stand und stellte ihn an das Fenster, kam dann wieder zu dem Bett zurück und ergriff entschlossen den Gegenstand, den er vorhin dort hingelegt hatte. Es sah aus wie eine kurze, an dem einen Ende spießartig zugespitzte Eisenstange.

In der Dunkelheit wäre es schwer gewesen zu erkennen, wozu dieses Eisen wohl dienen könne. Ob es ein Hebel war? Oder eine Keule?

Beim Tageslicht hätte man gesehen, daß es ein von Bergleuten gebrauchtes Werkzeug war. Das spitze Ende war dazu bestimmt, in die Felsen gebohrt zu werden und das Gestein loszubrechen. Zu dieser Arbeit verwendete man auch die Sträflinge in Toulon.

Jean Valjean nahm dieses Eisen in die rechte Hand und schlich mit verhaltnem Athem und leisen Schrittes auf die Thür zu, die in das Schlafzimmer des Bischofs führte. Sie stand halb offen. Der Bischof hatte sie nicht verschlossen.

XI.
Was er that

Jean Valjean horchte. Kein Geräusch.

Er stieß die Thür an.

Mit dem Ende des Fingers, leicht, so leise und ängstlich, wie eine Katze.

Die Thür gab dem Druck nach und wich geräuschlos etwas zurück.

Er wartete einen Augenblick, stieß dann wieder die Thür an, dies Mal dreister.

Sie gab abermals ohne Geräusch nach. Die Oeffnung war jetzt so weit, daß er hindurch gekonnt hätte. Aber neben der Thür, so daß er den Eingang versperrte, stand ein kleiner Tisch.

Jean Valjean erkannte die Schwierigkeit. Die Oeffnung mußte durchaus erweitert werden.

Er entschloß sich kurz und stieß wieder die Thür an, kräftiger, als die beiden ersten Male. Aber dieses Mal kreischte eine schlecht geölte Thürangel.

Jean Valjean erschrak. Das Geräusch klang seinem Ohr so scharf und furchtbar, wie die Posaune des jüngsten Gerichts.

In dem ersten Augenblick, wo der Schreck ihm alles phantastisch vergrößerte, bildete er sich beinahe ein, die Thürangel sei ein belebtes Wesen geworden, das bellen würde, wie ein Hund, um die Schläfer zu wecken und Hilfe herbeizurufen.

Er blieb stehen, zitternd vor Angst, und fiel auf seine Fersen zurück. Das Blut hörte er in seinen Schläfen hämmern und seinen Athem mit der Gewalt eines Sturmes aus seiner Brust herauskommen. Es dünkte ihm unmöglich, daß der schreckliche Lärm nicht das ganze Haus in seinen Grundfesten erschüttert haben sollte, wie ein Erdbeben. Der Alte würde auffahren, die Frauen ein Geschrei erheben; dann mußte Hülfe kommen, und in höchstens einer Viertelstunde war die Stadt in Aufruhr, die Gendarmerie auf den Beinen. Er hielt sich für verloren.

Er blieb stehen, wo er war, starr wie eine Bildsäule, regungslos.

So verstrichen einige Minuten. Die Thür war weit aufgegangen. Er wagte es endlich, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich geregt. Er lauschte. Alles war still im Hause. Das Geknarr der verrosteten Thürangel hatte Niemand aufgeweckt.

Die erste Gefahr war vorbei, aber noch tobte ein heftiger Tumult in seinem Innern. Trotzdem ging er nicht zurück, so wenig, wie im ersten Augenblick, wo er geglaubt hatte, alles sei verloren. Entschlossen wollte er ein Ende machen. Er that einen Schritt vorwärts und befand sich in dem Zimmer.

Hier unterschied das Auge verworrene, unbestimmte Gegenstände, in denen man am Tage auf dem Tisch verstreute Papiere, offene Folianten, Bücher, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betstuhl erkannt hätte, die aber jetzt sich nur als dunkle Winkel und Ecken, oder weiße Flächen darstellten. Vorsichtig schritt Jean Valjean weiter, indem er es sorgfältig vermied, an die Möbel anzustoßen. Im Hintergrunde ließ sich der gleichmäßige Athem des Bischofs vernehmen, der fest schlief.

Plötzlich blieb Jean Valjean stehen. Er sah dicht vor sich das Bett. Er war dort früher angelangt, als er geglaubt hatte.

Die Natur scheint bisweilen in den Gang der menschlichen Handlungen eingreifen, in entscheidungsvollen Augenblicken uns warnen, zum Nachdenken zwingen zu wollen. So zertheilte sich, gerade, als Jean Valjean vor dem Bett stehen blieb, eine große Wolke, die seit einer halben Stunde den Himmel verdunkelte, so zu sagen mit Zweck und Absicht, und das Mondlicht überfluthete plötzlich das blasse Gesicht des Bischofs, der friedlich schlummerte. Er trug im Bett, wegen der Kälte, die des Nachts in den Unteralpen herrscht, ein braunwollenes Hemd, dessen Aermel bis zu den Handgelenken hinabreichten. Sein Kopf war nach oben gewendet; die mit dem Bischofsring geschmückte Hand hing aus dem Bett heraus. Aus allen Zügen seines edlen Antlitzes leuchtete klare Heiterkeit, Hoffnung, Seelenfriede, als schaue er im Schlafe den Himmel. Und ein Himmel war es ja auch, der sich auf seinem Antlitz abspiegelte: Sein Gewissen.

In dem Augenblick, wo sich das Mondlicht mit dieser innern Klarheit paarte, war der schlafende Bischof wie von einem Glorienschein umwoben. Aber dieses Licht war ein mildes, gedämpftes und die Umgebung, der Mond am Himmel, die schlummernde Landschaft, die Stille des Hauses standen in feierlich harmonischem Einklang mit dem majestätischen Anblick, den der hehre Greis in seinem kindlich festen Schlafe den Augen des Betrachters darbot.

Jean Valjean, der nie Aehnliches gesehen, dem eine solche friedfertige Sorglosigkeit unfaßbar war, starrte unbeweglich, mit Erstaunen, auf den Schlafenden. Er war empfänglich für das Erhabene, das Schöne, und seine Haltung sowohl, wie seine Mienen verriethen, daß dieses Schauspiel einen tiefen Eindruck auf sein Gemüth machten. Aber welches seine Gedanken waren, ließ sich nicht muthmaßen. Er konnte ebenso gut überlegen, ob er dem Greise den Schädel einschlagen, oder ihm die Hand küssen solle.

Nach einer kurzen Weile nahm er mit der linken Hand seine Mütze ab und ließ sie ebenso langsam wieder sinken. Dann versank er wieder in die Betrachtung des unerklärlichen Schauspiels, die Mütze in der linken, die eiserne Stange in der rechten Hand.

Plötzlich stülpte er die Mütze wieder auf den Kopf, ging hastig, ohne den Bischof anzusehen, das Bett entlang, auf den Wandschrank zu und setzte das Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Da bemerkte er, daß der Schlüssel darin steckte, schloß den Schrank auf, nahm den Korb mit dem Silberzeug heraus, ging mit raschem Schritt und ohne Obacht zu geben, ob er auch keinen Lärm machte, auf die Thür zu, in das Betzimmer zurück, riß das Fenster auf, packte seinen Stock, schwang sich über die Brüstung, steckte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb weg, rannte durch den Garten, sprang wie ein Tiger über die Mauern und eilte davon.

XII.
Der Bischof bei der Arbeit

Beim Sonnenaufgang, als der Bischof in seinem Garten spazieren ging, kam Frau Magloire mit verstörtem Gesicht herbeigeeilt.

»Bischöfliche Gnaden, wissen Bischöfliche Gnaden, wo der Korb mit dem Silbergeschirr ist?«

»Ja«, sagte der Bischof.

»Gott und der Heiland sei gepriesen! Ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«

Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet gefunden und reichte ihn jetzt der Magd.

»Hier ist er.«

»Ja, wo ist denn aber das Silberzeug?«

»Ach, das Silbergeschirr wollen Sie haben? Ja, wo das ist, weiß ich nicht.«

»Herr des Himmels, es ist gestohlen! Der Fremde hat es gestohlen!«

Im Handumdrehen eilte die flinke Alte in das Betzimmer und den Alkoven, und wieder zu ihrem Herrn zurück. Der Bischof stand gebückt und betrachtete seufzend eine Staude Löffelkraut, die unter dem Korb zerknickt worden war. Bei dem Geschrei, das Frau Magloire erhob, richtete er sich auf.

»Bischöfliche Gnaden, der Mann ist fort! Das Silber ist gestohlen.«

Zu gleicher Zeit fiel ihr Blick auf eine Ecke des Gartens, wo aus der Zinne der Mauer ein Stück abgebrochen war.

»Da, sehen Sie! Da ist er hinübergeklettert, in die Rue Cochefilet! O diese Schändlichkeit! Er hat uns unser Silberzeug gestohlen!«

Der Bischof verharrte eine Weile in seinem Stillschweigen; dann richtete er seine ernsten Augen auf Frau Magloire und fragte mit sanfter Stimme:

»Gehörte denn das Silber uns?«

Frau Magloire war sprachlos. Wieder trat eine Pause ein, dann hob der Bischof wieder an:

»Frau Magloire, dieses Silberzeug habe ich mit Unrecht und viel zu lange zurückbehalten. Es gehörte den Armen. Unser Gast war doch gewiß ein Armer.«

»Du lieber Himmel! Ich sage es ja nicht meinetwegen und nicht wegen dem gnädigen Fräulein. Uns ist es ja egal. Aber Bischöfliche Gnaden! Woraus sollen denn Bischöfliche Gnaden jetzt speisen?«

Der Bischof sah sie erstaunt an.

»Als wenn es keine zinnernen Bestecke gäbe!«

Frau Magloire zuckte die Achseln.

»Zinn riecht schlecht.«

»Dann kaufen wir eiserne.«

»Eisernes Geschirr hinterläßt einen Nachgeschmack.«

»Gut, dann nehmen wir hölzerne.«

Gleich darauf frühstückte er an demselben Tische, an den sich am Abend zuvor Jean Valjean gesetzt hatte, und während seine Schwester schwieg und Frau Magloire brummte, bemerkte er vergnügt, es bedürfe keines Löffels und keiner Gabel, auch keiner hölzernen, um ein Stück Brod in Milch zu tauchen.

»Nein, so was!« brummte Frau Magloire, während sie im Zimmer hantierte. »Einen solchen Menschen bei sich zu beherbergen! Und so dicht neben sich! Ein wahres Glück, daß er blos gestohlen. Erbarmen! Wenn man denkt, was hätte passieren können!«

Eben wollte der Bischof und seine Schwester sich von der Tafel erheben, als an die Thür geklopft wurde.

»Herein!« rief der Bischof.

Die Thür that sich auf und vier Menschen erschienen auf der Schwelle. Drei davon waren Gendarmen, die den Vierten, Jean Valjean, beim Kragen gepackt hielten. Auch ein Gendarmerie-Wachtmeister war zugegen. Er trat vor und salutierte militärisch den Bischof.

»Ew. Bischöfliche Gnaden« . . . begann er.

Bei diesen Worten stutzte Jean Valjean, der düster und niedergeschlagen schien:

»Ew. Bischöfliche Gnaden! Dann ist es ja nicht der Pfarrer!«

»Maul gehalten!« herrschte ihn ein Gendarm an.

Unterdessen hatte sich der Bischof erhoben und kam, so rasch es ihm sein hohes Alter gestattete, heran.

»Ah! Da sind Sie!« sagte er zu Jean Valjean. »Das freut mich. Aber sagen Sie mal, ich hatte Ihnen die Leuchter auch geschenkt. Die sind gleichfalls von Silber und ihre zweihundert Franken wert. Warum haben Sie die nicht auch mitgenommen, so gut wie Ihre Bestecke?«

Jean Valjean riß die Augen weit auf und betrachtete den ehrwürdigen Bischof mit Empfindungen, die keine Sprache wiedergeben kann.

»Also, Bischöfliche Gnaden, ist es wahr, was der Mann zu uns gesagt hat? Wir sind ihm begegnet. Er sah aus wie Einer, der was begangen hat. Da haben wir ihn angehalten und visitiert. Er hatte dieses Silbergeschirr.«

»Und er hat Ihnen gesagt,« fiel der Bischof ein, »daß ein alter Priester es ihm geschenkt hat, bei dem er übernachtete. Ich verstehe schon. Und Sie haben ihn hierher gebracht? Ja ja! Aber Sie haben Sich geirrt.«

»Also,« fragte der Wachtmeister, »können wir ihn laufen lassen?«

»Ohne Zweifel!«

Die Gendarmen ließen Jean Valjean los, der zurücktrat.

»Also darf ich wirklich gehen?« sagte er mit fast unartikulierter Stimme und als wäre er im Schlafe.«

»Na, kannst Du denn nicht hören? Gewiß kannst Du gehen,« bestätigte einer der Gendarmen.

»Guter Freund,« fuhr jetzt der Bischof wieder fort. »Hier, ehe Sie gehen, nehmen Sie die Leuchter.«

Er holte die beiden silbernen Leuchter von dem Kaminsims und überreichte sie Jean Valjean. Die beiden Frauen sahen ihm dabei zu, ohne mit einem Wort, einer Gebärde, einem Blick Einspruch zu erheben.

Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Er nahm mechanisch und mit irren Blicken die Leuchter in Empfang.

»Und nun gehen Sie in Frieden!« sagte der Bischof. »Noch Eins. Wenn Sie wiederkommen, lieber Freund, brauchen Sie nicht durch den Garten zu gehen. Die Straßenthür ist Tag und Nacht nur zugeklinkt.«

Und zu den Gendarmen gewendet, sagte er:

»Meine Herren, ich halte Sie nicht länger auf.«

Die Gendarmen entfernten sich.

Jean Valjean stand da wie Einer, der im Begriff ist ohnmächtig zu werden.

Der Bischof trat nahe an ihn heran und sprach leise:

»Vergessen Sie nicht, vergessen Sie niemals, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten das Geld dazu gebrauchen, ein ehrlicher Mann zu werden.«

Jean Valjean, der sich nicht entsann, irgend ein Versprechen gegeben zu haben, fand kein Wort der Erwiedrung. Der Bischof hatte mit Nachdruck gesprochen. Er fuhr jetzt in feierlichem Tone fort.

»Lieber Bruder Jean Valjean, Sie gehören nicht mehr dem Geist des Bösen, sondern des Guten. Ich kaufe Ihnen hiermit Ihre Seele ab, entziehe sie den schlimmen Gedanken und weihe sie Gott.«

XIII.
Der kleine Gervais

Jean Valjean eilte aus der Stadt hinaus, als hätte er Verfolger auf den Fersen, ins Freie, auf den Wegen und Pfaden, die sich ihm gerade darboten, ohne zu merken, daß er jeden Augenblick eine Strecke wieder zurückging. So irrte er den ganzen Vormittag umher, ohne zu essen und Hunger zu fühlen. Eine Menge neuer Empfindungen erhielten ihn in der heftigsten seelischen Aufregung. Er empfand zunächst eine Art Aerger, ohne zu wissen gegen wen. Auch hätte er nicht angeben können, ob er gerührt sei oder sich gedemüthigt fühle. Hin und wieder überkam ihn eine weichere Stimmung, gegen die er indeß ankämpfte mit seiner im Laufe von neunzehn Jahren zur Gewohnheit gewordnen Herzenshärte. Die Festigkeit der Ueberzeugungen, die Unglück und Ungerechtigkeit in ihm gezeitigt hatten, und seine finstre Entschlossenheit zum Bösen war erschüttert, und er fragte sich, wie er sie stützen werde. Manchmal wünschte er, die Gendarmen hätten ihn wieder ins Zuchthaus abgeführt, und daß es anders gekommen wäre; das hätte ihn nicht so erregt. Außerdem quälten ihn noch Erinnerungen an seine Kindheit, die durch den Anblick der Herbstblumen in den Hecken in ihm geweckt wurden. Wie lange war es her, daß er an diese Zeit nicht mehr gedacht hatte!

So häuften sich in seinem Geiste den ganzen Tag über unsäglich viele, ihm unverständliche Gefühle und Gedanken.

Als die Sonne zur Rüste ging, und schon die winzigsten Steinchen lange Schatten warfen, saß Jean Valjean hinter einem Strauch auf einer großen, öden Ebene. Am Horizont sah man nur die Alpen. Weit und breit nicht einmal ein Kirchthurm. Jean Valjean mochte ungefähr zwölf Kilometer von Digne entfernt sein. Einige Schritte von dem Strauch, wo er saß, war ein Fußsteig, der die Ebene durchquerte.

Während er hier sich mit seinen bösen Gedanken herumschlug, hörte er plötzlich fröhlichen Gesang.

Den Pfad entlang kam ein etwa zehnjähriger Knabe, ein Savoyarde mit dem üblichen Leierkasten und Murmelthier, einer von jenen gutmüthigen und vergnügten Jungen, die in zerlumptem Aufzuge von Land zu Land wandern.

Während er sang, unterbrach der Kleine von Zeit zu Zeit seinen Marsch und spielte Knöchelchen mit einigen Geldstücken, die wahrscheinlich sein ganzes Vermögen ausmachten. Darunter befand sich auch ein Zweifrankenstück.

Der Kleine blieb, ohne Jean Valjean zu bemerken, neben dem Strauch stehen und warf die Geldstücke, die er bisher immer sehr geschickt mit dem Rücken der Hand gefangen hatte, wieder in die Höhe.

Aber dies Mal entwischte ihm das Zweifrankenstück und rollte bis zu der Stelle hin, wo Jean Valjean saß. Dieser setzte den Fuß darauf.

Indessen war der Kleine dem Geldstück mit dem Blicke gefolgt und hatte ihn bemerkt.

Er that nicht verwundert und ging gerade auf ihn zu.

Es war eine vollständig menschenleere Gegend. So weit die Blicke reichten, weder in der Ebene noch auf dem Pfade war Jemand zu sehen. Man hörte nur das schwache Geschrei einer Schaar Zugvögel, die hoch oben am Himmel vorüberzogen. Der Kleine stand da, den Rücken der Sonne zugewendet, die sein Haar goldig durchflutete und Jean Valjeans grimmiges Gesicht blutroth bestrahlte.

Mit der aus Unkenntnis der Menschen und Unschuld zusammengesetzten Vertrauensseligkeit der Kindheit bat der Savoyarde: »Bitte um mein Zweifrankenstück.«

»Wie heißt Du?« fragte Jean Valjean.

»Der kleine Gervais.«

»Mach, daß Du fortkommst!«

»Geben Sie mir mein Zweifrankenstück wieder.«

Jean Valjean senkte den Kopf und antwortete nicht.

Der Kleine fing wieder an:

»Mein Zweifrankenstück!«

Jean Valjeans Augen blieben zur Erde gesenkt.

»Mein Zweifrankenstück! Mein Geld! Mein Geld!« schrie der Junge wieder.

Es war, als hörte Jean Valjean nicht. Der Kleine packte ihn am Kragen, schüttelte ihn und quälte sich, den groben, eisenbeschlagnen Schuh, der auf sein Geldstück drückte, wegzuschieben.

»Ich will mein Geld wiederhaben!«

Der Kleine weinte. Da hob Jean Valjean den Kopf wieder empor, blieb aber sitzen. Seine Augen waren trübe. Er betrachtete den Knaben mit einer Art Verwundrung, griff nach seinem Stock und schrie mit fürchterlicher Stimme: »Wer ist da?«

»Ich!« antwortete der Kleine. »Ich, der kleine Gervais. Ich! Ich! Bitte, geben Sie mir mein Zweifrankenstück wieder! Bitte, nehmen Sie Ihren Fuß weg!«

Jetzt gerieth der kleine Kerl in Wuth und drohte beinahe:

»Werden Sie bald Ihren Fuß wegnehmen? Vorwärts! Den Fuß weg!«

»Was!« schrie jetzt Jean Valjean und stand plötzlich auf. »Bist Du immer noch da? Willst Du wohl machen, daß Du fortkommst?«

Erschrocken sah der Knabe ihn an, fing an am ganzen Leibe zu zittern und rannte dann, nachdem er einige Sekunden wie angedonnert da gestanden, aus Leibeskräften davon, ohne sich umzuwenden oder einen Schrei auszustoßen.

Als er aber eine Strecke gelaufen war, zwang ihn die Ermüdung langsamer zu gehen, und Jean Valjean, obschon wieder in Grübeleien versunken, hörte ihn schluchzen.

Nach einigen Minuten war der Kleine verschwunden.

Unterdessen war die Sonne untergegangen, und es dunkelte. Jean Valjean hatte den ganzen Tag nichts gegessen; wahrscheinlich hatte er das Fieber.

Er hatte sich, seitdem der Knabe davon gerannt war, nicht vom Flecke gerührt. Sein Athem ging langsam und ungleich. Seine Augen waren tiefsinnig auf eine blaue Scherbe gerichtet, die zehn bis zwölf Schritte von ihm im Grase lag. Plötzlich schauerte er zusammen; die Abendkälte hatte sich ihm bemerklich gemacht.

Er drückte die Mütze wieder auf seine Stirn, machte eine mechanische Bewegung, um seinen Kittel zuzuknöpfen, trat einen Schritt vor und bückte sich, um seinen Stock von der Erde aufzuheben.

In diesem Augenblick gewahrte er das Zweifrankenstück, das sein Fuß halb in die Erde hineingetreten, und das unter den Kieseln hervorglänzte.

Der Anblick wirkte auf ihn wie ein elektrischer Schlag. – »Was ist denn das?« stieß er zwischen den Zähnen hervor, fuhr drei Schritte zurück, blieb dann stehen und konnte seinen Blick nicht losmachen von jenem Punkte, auf dem sein Fuß so eben geruht hatte, als wenn das Ding, das da in der Dunkelheit glänzte, ein auf ihn geheftetes Auge gewesen wäre.

Nach einigen Minuten stürzte er sich konvulsivisch auf das Geldstück, raffte es auf, richtete sich rasch empor und schaute sich nach allen Seiten in der Ebene um, mit wilden Blicken, wie ein geängstigtes Reh, das einen Zufluchtsort sucht.

Aber er sah nichts. Die Nacht rückte näher, und auf der kalten, wüsten Ebene stiegen im fahlen Dämmerlicht violette Dünste empor.

»Ach!« rief er, eilte auf und davon, in der Richtung, wo der kleine Savoyarde seinen Blicken entschwunden war. Nach dreißig Schritten hielt er inne, ließ seine Blicke wieder nach allen Seiten umherschweifen und sah wieder nichts.

»Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!« schrie er nun mit der ganzen Kraft seiner Lunge.

Keine Antwort.

Seine Stimme verhallte ohne Wirkung in dem weiten, leeren Raum.

Ein eisiger Wind begann zu wehen und lieh den Dingen um ihn eine Art Leben, das etwas Grausiges hatte. Die Zweige der Bäume glichen mageren Armen, die wüthende Geberden machten.

Er marschierte weiter, setzte sich dann wieder in Trab, blieb ab und zu still stehen und schrie mit furchtbarer, angstvoller Stimme in die Oede hinein: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!«

Hätte der Knabe ihn auch gehört, so würde er sich gefürchtet und sich nicht gezeigt haben. Aber er war gewiß schon weit fort.

Endlich begegnete er einem Priester, der des Weges geritten kam. Jean Valjean ging auf ihn zu und fragte ihn:

»Herr Pfarrer, haben Sie einen Jungen vorbeikommen sehen?«

»Nein,« sagte der Priester.

»Einen gewissen Gervais?«

»Ich habe Niemand gesehen.«

Er langte zwei Fünffrankenstücke aus seiner Geldtasche und gab sie dem Priester.

»Herr Pfarrer, nehmen Sie dies für Ihre Armen. – Herr Pfarrer, ein kleiner Junge, ungefähr zehn Jahre alt, mit einem Murmelthier glaube ich, und einem Leierkasten. Ein Savoyarde, wissen Sie?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Der kleine Gervais? Ist er nicht aus dieser Gegend? Können Sie's mir nicht sagen?«

»Wenn es so ist, wie Sie sagen, so ist er ein Fremder; die ziehen blos so durch, und Niemand kennt sie.

Jean Valjean griff heftig nach zwei andern Fünffrankenstücken und gab sie dem Priester.

»Für Ihre Armen!«

Dann schrie er wie ein Irrsinniger:

»Herr Abt, lassen Sie mich arretieren. Ich bin ein Dieb.«

Der Priester gab seinem Pferde die Sporen und ritt sehr erschrocken davon.

Jean Valjean eilte in der Richtung weiter, die er zuerst eingeschlagen hatte.

Auf diese Weise legte er eine große Strecke zurück, indem er sich fortwährend umsah, rief und schrie, aber er begegnete Niemandem. Zwei oder drei Mal rannte er auf etwas zu, das wie ein liegender oder hingekauerter Mensch aussah; aber es war nur Gestrüpp oder große Steine. Endlich blieb er an einem Kreuzweg stehen. Er ließ im Mondenlicht seine Blicke weithin schweifen und rief zum letzten Mal: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!« Sein Ruf verhallte im Nebel, ohne auch nur ein Echo zu wecken. Dann rief er wieder, aber mit schwacher, kaum artikulierter Stimme: »Kleiner Gervais!« Es war die letzte Kraftanstrengung, der er fähig war; seine Kniegelenke knickten plötzlich unter ihm zusammen, als ob eine unsichtbare Macht ihn urplötzlich mit der Last seines bösen Gewissens niederdrücke; er sank erschöpft auf einen großen Stein nieder, die Fäuste in den Haaren und das Gesicht auf den Knieen, und rief: »Ich bin ein Elender!«

Dann lief sein übervolles Herz über und er fing an zu weinen. Es war das erste Mal seit neunzehn Jahren. –

Als Jean Valjean von dem Bischof entlassen worden war, fand er sich, wie schon erzählt, in eine neue Gedankenwelt versetzt. Er konnte sich nicht klar darüber werden, was in seiner Seele vorging. Er steifte sich hartnäckig gegen die christliche Milde des Bischofs. »Sie haben mir versprochen ein ehrlicher Mensch zu werden. Ich kaufe Ihnen Ihre Seele ab. Ich entziehe sie dem Geist des Bösen und weihe sie dem lieben Gott.« Diese Worte klangen ihm unablässig in den Ohren. Er setzte dieser himmlischen Nachsicht den Stolz entgegen, der gleichsam ein Bollwerk des Bösen in unserm Herzen ist. Er hatte eine gewisse Ahnung, daß die Verzeihung dieses Priesters der gefährlichste Angriff sei, den seine bösen Grundsätze bis jetzt auszuhalten gehabt hatten; daß seine Herzenshärte für immer die Oberhand behalten würde, wenn er dieser Milde Widerstand leistete; daß, wenn er nachgebe, er dem langjährigen Haß entsagen müsse, von dem sein Herz erfüllt war, und in dem er sich gefiel; daß er dieses Mal siegen oder besiegt werden müsse, und daß der Kampf zwischen seiner Bosheit und der Güte jenes Mannes ein gewaltiger und entscheidender sein werde.

Von diesem neuen Gedanken erleuchtet, ging er wie ein Betrunkner, mit verstörten Augen, einher. Hatte er wohl einen deutlichen Begriff von dem Endresultat, das sein Erlebniß in Digne für ihn haben könnte? Flüsterte ihm eine Stimme zu, daß die Entscheidungsstunde seines Schicksals geschlagen habe, daß es für ihn keinen Mittelweg mehr gab, daß, wenn er fortan nicht der beste Mensch sein wolle, er der allerschlechteste sein werde, daß er sich zu noch höherer Vollkommenheit emporschwingen müsse, als der Bischof, oder noch tiefer sinken, als ein Zuchthäusler.

Wieder drängen sich hier Fragen auf, die uns schon früher beschäftigt haben: Zog eine auch nur schattenhafte Ahnung von diesem Entweder – Oder durch seine Seele? Allerdings erzieht das Unglück den Verstand; indessen ist es zweifelhaft, ob Jean Valjean im Stande war, sich zu lichtvoller Klarheit über die erwähnten Punkte hindurchzuringen. Falls er diese Gedanken überhaupt hatte, so boten sie sich ihm in undeutlichen Umrissen dar und beunruhigten, quälten ihn nur. Als er der Finsterniß des Zuchthauses entronnen war, hatte der Bischof seiner Seele weh gethan, wie ein zu helles Licht den Augen wehethut. Das höhere Leben, das er fortan leben sollte, machte ihn zittern und zagen. Er wußte wirklich nicht mehr, woran er war. Wie eine Nachteule, die plötzlich die Sonne aufgehen sieht, so war der ehemalige Sträfling durch die Tugend geblendet.

So viel ist sicher, – obschon er selbst es nicht inne wurde, – daß er schon nicht mehr derselbe Mensch, daß alles in ihm verändert war, daß er den empfangenen Eindruck nicht mehr aus seinem Geiste verwischen konnte.

In dieser Gemüthsverfassung war er dem kleinen Gervais begegnet und hatte ihm seine zwei Franken geraubt. Das Warum hätte er sicherlich selber nicht angeben können. War es die letzte Nachwirkung, die letzte Gegenwehr der schlechten Grundsätze, die er aus dem Zuchthaus mitgebracht, was man in der Statik die erworbene Kraft nennt? Dies war es in der That oder etwas noch Schlimmeres. Einfach ausgedrückt, nicht er hatte das Geldstück geraubt, nicht der Mensch, sondern die Bestie in ihm hatte aus Gewohnheit und Instinkt den Fuß darauf gesetzt, während sein klügeres Ich mit den neuen Ideen qualvoll rang. Als sein besseres Ich erwachte und sah, was die Bestie gethan hatte, fuhr Jean Valjean schaudernd zurück und schrie auf vor Entsetzen.

Denn sonderbarer Weise und nur weil er sich gerade in dieser Seelenstimmung befand, hatte er, indem er dem Knaben das Geldstück vorenthielt, etwas gethan, dessen er schon nicht mehr fähig war.

Wie dem auch sei, – diese letzte, schlechte Handlung übte auf ihn eine entscheidende Wirkung aus. Sie fuhr plötzlich durch das Chaos, das in seinem Geiste herrschte, hindurch und fegte es weg, sonderte das Dunkel und das Licht, wie die chemischen Reagentien, die eine trübe Mischung klären, indem sie ein Element niederschlagen und von dem andern trennen.

Im ersten Augenblick, noch ehe er sich prüfte und überlegte, bemühte er sich in sinnloser Angst, wie Einer, der sich aus einer Gefahr retten will, den Knaben wieder einzuholen, um ihm das Geld wiederzugeben; dann, als er erkannte, daß dies vergeblich und unmöglich war, erfüllte ihn die qualvollste Verzweiflung. Jetzt wurde er inne, was für ein Mensch er gewesen, jetzt hatte er sich schon von seinem frühern Ich geschieden, das ihm so zu sagen, wie eine Spukgestalt gegenüberstand. Es war ihm, als sehe er jetzt den ehemaligen Jean Valjean leibhaftig vor sich, mit dem Stock in der Hand, dem Kittel, dem Tornister mit den entwendeten Sachen, dem entschlossenen, finstern Gesicht und dem Zukunftsplan im Kopfe.

Das Uebermaß des Unglücks hatte ihn, wie schon bemerkt, gewissermaßen hellseherisch gemacht, und sein Hirn befand sich in jenem Zustand gewaltsamer Aufregung, wo die Phantasie die Wirklichkeit verdrängt. Man sieht dann nicht mehr die Gegenstände, die man vor sich hat, sondern es projicieren sich umgekehrt die von der eignen Einbildungskraft erzeugten Gestalten nach außen.

Er betrachtete sich also, so zu sagen, von Angesicht zu Angesicht; zu gleicher Zeit erschaute er aber, durch die Erscheinung hindurch, in einer unergründlichen Tiefe ein Licht, das ihm anfangs von einer Fackel auszustrahlen schien. Als er dieses Licht aufmerksamer ansah, nahm es Menschengestalt an und er erkannte den Bischof.

Diese beiden, so nebeneinander gestellten Menschen, den Bischof und Jean Valjean verglich nun sein Gewissen, und allmählich, vermöge einer Eigenthümlichkeit derartiger Extasen, wuchs die Gestalt des Bischofs und erstrahlte in herrlicherem Glanze, während der ehemalige Jean Valjean abnahm, verblich und endlich ganz verschwand.

Da brach Jean Valjean in Thränen aus. Er weinte heiße Thränen und schluchzte, wie ein schwaches Weib, wie ein erschrocknes Kind.

Während er weinte, wurde es heller und heller in seinem Gehirn. Sein vergangenes Leben, sein erstes Vergehen, seine lange Haft, seine Verthierung und Verstockung, seine Rachepläne, seine Begegnung mit dem Bischof, was er zuletzt verbrochen, die feige und schändliche Entwendung des Zweifrankenstücks, nachdem ihm der Bischof Böses mit Gutem vergolten, alles dieses trat ihm vor die Seele, mit einer Klarheit, wie er sie bisher noch nie gekannt hatte. Er überschaute sein Leben und empfand Entsetzen; seinen moralischen Menschen und er erschrak. Gleichwohl milderte ein sanftes Licht diese Schrecknisse: Ihn dünkte, er sehe Satan überstrahlt von dem Glanz des Paradieses.

Wie viele Stunden er so weinte, was er nachher that, wo er hinging, hat man nie in Erfahrung bringen können. Nur eine sicher konstatierte Thatsache können wir melden: In derselben Nacht sah ein Fuhrmann, der von Grenoble um drei Uhr Morgens nach Digne kam, vor dem bischöflichen Hause im Schatten einen Mann knieen und beten.


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