Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts war in Montfermeil bei Paris eine Gastwirtschaft, die gegenwärtig nicht mehr existiert. Die Inhaber hießen Thénardier, Mann und Frau. Sie lag in der Ruelle du Boulanger. Ueber der Thür sah man ein an der Mauer festgenageltes Brett. Darauf war etwas gemalt, das aussah wie ein Mann, der einen andern auf dem Rücken trägt, und dieser Andre hat große goldne Generalsepauletten mit breiten, silbernen Sternen; rothe Kleckse stellten Blut vor; das Uebrige war Rauch, und das Ganze sollte wohl eine Schlacht sein. Darunter las man die Aufschrift: Zum Sergeanten von Waterloo.
Nichts ist gewöhnlicher als ein Rollwagen oder Karren vor der Thür einer Herberge. Indessen das Fuhrwerk oder besser gesagt, das Bruchstück von Fuhrwerk, das an einem Abend des Frühjahrs 1818 vor dem »Sergeanten von Waterloo« sich breit machte, hätte sicherlich wegen seines gewaltigen Volumens die Aufmerksamkeit eines Malers auf sich gezogen, wenn ein Solcher hier vorbeigekommen wäre.
Es war das Vordergestell eines Blockwagens, wie man sie in Waldgegenden zum Transport von Bohlen und Baumstämmen benutzt. Dieses Gestell bestand aus einer massiven, eisernen Achse, in die eine schwere Deichsel eingezapft war und von ungeheuren Rädern getragen wurde. Das Ganze war entsetzlich schwerfällig und ungestaltet. Es ähnelte der Laffette einer Riesenkanone. Der Lehm, der im Laufe der Zeit an den Rädern, Felgen, Naben, an der Achse und Deichsel kleben geblieben war, bildete eine häßliche gelbe Schicht, die dem Anstrich alter Kirchen ziemlich ähnlich sah. Das Holz war unter dem Koth und das Eisen unter dem Rost kaum noch zu erkennen. Unter der Achse hing eine schwere Kette, die eines Goliaths im Zuchthause würdig gewesen wäre. Beim Anblick dieser Kette dachte man nicht an den Transport von Balken, sondern an ein Gespann von Mastodonten und Mammuthen. Oder sie erinnerte an ein Cyklopenzuchthaus. Homer hätte sie für seinen Polyphem und Shakespeare für Caliban beansprucht.
Weshalb stand dieses Vordergestell an diesem Orte? Erstens um auf der Straße hinderlich zu sein, und zweitens um weiter zu rosten. Es war ein Hemmniß ohne irgend welchen Berechtigungsgrund, aber kein so unsinniges als die, welche fortwährend die alten staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen dem Fortschritt in den Weg stellen.
Die Mitte der Kette hing unter der Achse so tief herab, daß sie fast den Erdboden berührte, und auf der Krümmung saßen, wie auf einer Schaukel, an jenem Abend zwei allerliebste kleine Mädchen, von denen die älteste zwei und ein halbes Jahr, und die jüngste, die sie mit ihren Armen umschlungen hielt und anderthalb Jahre alt sein mochte. Ein kunstreich gebundnes Tuch verhinderte, daß sie herunterfallen konnten. Das Ungethüm von Kette war von einer Mutter dazu auserlesen worden, ihren Kindern als Spielzeug zu dienen.
Die recht niedlich und mit einer gewissen Eleganz geputzten kleinen Mädchen strahlten vor Freude; aus ihren Augen leuchtete übermüthiger Triumph und die frischen Bäckchen lachten. Die Eine hatte kastanienfarbiges Haar, die Andre war brünett. Ihre naiven Gesichtchen bekundeten entzückte Verwundrung; die jüngste zeigte ihr bloßes Bäuchlein mit der ganzen harmlosen Ungeniertheit der Kindheit. Unter und neben den beiden Köpfchen bildete die fast grausig anzuschauende Kette mit der Achse gleichsam den Eingang zu einer dunkeln Höhle. Wenige Schritte davon saß auf der Schwelle der Herberge die Mutter, eine Frau von keineswegs einnehmendem Aeußeren, die aber zur Zeit einen rührenden Eindruck machte. Sie schaukelte die beiden kleinen mittels eines langen Bindfadens und überwachte ängstlich ihre Bewegungen mit jenem halb thierischen, halb himmlischen Gesichtsausdruck, der allen Müttern eigen ist. Bei jeder Schwingung kreischten die Eisenringe abscheulich auf; die Kleinen jubilierten, die untergehende Sonne that auch das Ihrige um das Schauspiel zu verschönern, und man konnte sich nichts Reizenderes denken, als die Laune des Zufalls, die eine Titanenkette zu einer Schaukel für Cherubim benutzte.
Während sie ihre beiden Kleinen hin und herwiegte, sang die Mutter mit falscher Stimme eine damals beliebte Romanze:
»Es muß geschehen, sprach ein Krieger.«
Was unterdessen auf der Straße vorging, konnte sie bei ihrer Beschäftigung nicht sehen.
Ehe sie aber noch die erste Strophe beendet hatte, war jemand herangekommen, und plötzlich hörte sie dicht in ihrer Nähe eine Stimme, die zu ihr sagte:
»Sie haben da zwei hübsche Kinder, Madame.«
»Der schönen, zarten Imogine,« sang die Mutter weiter, wendete sich aber sogleich um.
Einige Schritte vor ihr stand eine Frau, die ein Kind auf den Armen trug.
Außerdem schleppte sie sich noch mit einem großen Reisesack, der ziemlich schwer zu sein schien.
Das Kind dieser Frau, ein zwei- bis dreijähriges Mädchen war eins der reizendsten Wesen, das man sich vorstellen konnte. Auch in Bezug auf den Putz konnte sie den Vergleich mit den andern Kleinen aushalten. Sie trug ein feines Linnenhäubchen mit Valenziemer Spitzchen, und hatte Bänder am Mieder. Da das Kleidchen in die Höhe gerutscht war, konnte man die weißen fleischigen und drallen Schenkel sehen. Ihre Gesichtsfarbe war rosig gesund und die Bäckchen zum Anbeißen. Die Augen, konnte man, da sie schlief, nicht sehen, aber es waren gewiß recht große Augen mit schönen Liedern.
Die Mutter hingegen sah ärmlich und kummervoll aus. Gekleidet war sie wie eine Arbeiterin, die im Begriff ist, wieder Bäuerin zu werden. Sie war jung, vielleicht auch schön, aber in diesem Fall beeinträchtigte die armselige Kleidung ihre körperlichen Vorzüge. Ihr Haar, von dem nur eine blonde Locke sichtbar war, schien sehr dicht und stark zu sein, allein der Gedanke mit diesem schönen Naturschmuck Staat machen zu wollen, mußte ihr wohl fernliegen, denn es verschwand fast ganz unter einer unkleidsamen, eng anliegenden, unter dem Kinn festgebundenen Nonnenhaube. Ob Jemand schöne Zähne hat, kann man entscheiden, wenn er lacht; aber die Fremde war nicht zur Heiterkeit aufgelegt. Im Gegentheil. Ihren Augen nach zu urtheilen mußte sie erst vor kurzem geweint haben. Auch war sie blaß, sah müde und krank aus. Sie hatte wohl ihr Kind selber gesäugt, denn darauf deutete die Art hin, wie sie das schlafende Kind anblickte. Ein großes blaues Taschentuch, ähnlich wie es bei Invaliden gebräuchlich ist, verhüllte in ungraziöser Weise ihre Taille. Ihre Hände waren von der Sonne braun gebrannt, mit Sommersprossen bedeckt. Der rechte Zeigefinger hart und zerstochen. Bekleidet war sie mit einem halblangen Mantel aus braunem flockigem Wollstoff, einem Leinwandkleid und groben Schuhen. Es war Fantine.
Sie war schwer wieder zu erkennen. Indessen wenn man sie genauer ansah, hatte ihre Schönheit sie noch nicht verlassen. Allerdings zog sich über ihre rechte Wange eine Falte, aus der Schwermuth und leise Ironie sprach. Ihre luftige Kleidung voller Lustigkeit und Munterkeit war dahin, verschwunden wie die Thautropfen, die an der Sonne wie Diamanten glänzen, wenn sie aber verdunstet sind, die dunkle Farbe der Aeste und Zweige zum Vorschein kommen lassen.
Seit dem »famosen Witz« waren zehn Monate verstrichen.
Was hatte sich seitdem zugetragen? Man kann es errathen.
Seit Tholomyès Flucht nichts als Sorgen und Noth. Favourite, Sephine und Dahlia hatte Fantine alsbald aus den Augen verloren, denn nach Lösung des Bandes, das die Männer mit den jungen Mädchen zusammenhielt, waren auch diese sofort auseinander gegangen, und hätte man ihnen vierzehn Tage später gesagt, sie seien Freundinnen, so würden sie sich sehr gewundert haben. Fantine war also allein und auf sich angewiesen. Das Schlimmste aber war, daß sie jetzt die Liebe zur Arbeit eingebüßt und sich Vergnügungssucht angewöhnt hatte; abgesehen davon, daß sie ihre ehemaligen Arbeitgeber vernachlässigt und Verbindungen aufgegeben, die sich jetzt nicht mehr anknüpfen ließen. Kein Ausweg! Fantine konnte kaum lesen, und schreiben auch nur gerade ihren Namen. Sie ließ also von einem öffentlichen Schreiber einen Brief an Tholomyès aufsetzen, dann einen zweiten und einen dritten. Denn selbstredend erhielt sie keine Antwort. Eines Tages hörte sie, wie ein paar Frauen im Hinblick auf ihr Töchterchen sagten: »Dergleichen Kinder zählen nicht mit. Ueber dergleichen Bälge zuckt man die Achseln.« Da war ihr Tholomyès eingefallen, der beim Gedanken an ihr Kind jetzt die Achseln zuckte, und ihr Herz erfüllte Bitterkeit gegen diesen Menschen. Aber woher Hilfe schaffen? Sie wußte nicht, an wen sie sich wenden sollte. Sie hatte sich ja eines Fehltritts schuldig gemacht, aber ihr innerstes Wesens war sittsam und tugendhaft. Sie sagte sich, sie gehe dem grausigsten Elend entgegen und werde sittlich verkommen, sie müßte sich also mit aller Gewalt aufraffen. Da dachte sie an ihre Vaterstadt Montreuil-sur-Mer. Dort würde vielleicht Jemand sie kennen und ihr Arbeit verschaffen. Schon gut. Aber dann mußte sie ihren Fehltritt verhehlen, und diese Notwendigkeit legte ihr den Gedanken an eine andre Trennung nahe, die noch schmerzlicher sein würde, als die von Tholomyès. Es schnitt ihr durchs Herz aber sie gewann den schweren Entschluß über sich. Besaß sie doch in hohem Grade jene hartnäckige Tapferkeit, die der Kampf um das Dasein erheischt. Schon hatte sie die Selbstüberwindung gehabt allem Schmuck zu entsagen, und während sie sich in Leinwand kleidete, alle ihre Seide, Bänder, Spitzen dazu verwendet ihr Töchterchen hübsch herauszuputzen, denn diese – edlere – Art von Eitelkeit behielt sie noch. Sie verkaufte dann alles, was sie hatte, und bezahlte von dem Erlös, zweihundert Franken, ihre Schulden, so daß ihr schließlich nur noch achtzig Franken blieben. Nun wanderte sie, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, an einem schönen Frühlingsmorgen, ihr Kind auf dem Rücken, aus Paris hinaus. Erbarmungswerter Anblick, den die Beiden darboten! Die Frau besaß auf der Welt nichts als ihr Kind, und das Kind nichts als seine Mutter. Fantine hatte ihr Kind selbst gestillt, und hatte damit ihre Brust angestrengt, so daß sie hüstelte.
Von Felix Tholomyès zu sprechen wird keine Veranlassung mehr vorliegen. Es genüge zu wissen, daß er zwanzig Jahre später, unter der Regierung Louis Philipps, ein angesehener und reicher Rechtsanwalt in einer Provinzstadt, ein verständiger Wähler und sehr strenger Geschworener, dabei aber immer noch Lebemann war.
Um die Mitte des Tages war Fantine, nachdem sie für ein paar Sous eine Strecke gefahren war, in der Ruelle du Boulanger in Montfermeil angelangt.
Als sie hier vor der Herberge der Thénardiers vorbeikam, zogen die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrem Ungethüm von Schaukel so schön amüsirten, die Augen der armen Wanderin auf sich und sie blieb stehen, ihre Augen an der Freude der Kleinen zu weiden.
Es giebt Dinge, die mit der Gewalt eines Zaubers auf den Menschen wirken. Einen solchen Eindruck machten jetzt die beiden Kinder auf Fantine, deren Mutterherz bei dem reizenden Schauspiel in Entzücken gerieth.
Sie betrachtete mit innigster Rührung die kleinen Engel, die doch wohl in einem Paradiese leben mußten und glaubte über der Thür der Herberge ein von der Vorsehung geschriebenes: »Hier ist es!« zu lesen. Die kleinen Wesen hatten es augenscheinlich recht gut! Dies waren die Gefühle, die ihr Herz bewegten, als sie die Mutter der Kleinen beim Singen unterbrach und ihr zurief:
»Sie haben da zwei allerliebste Kinderchen! Die gefühllosesten Kreaturen werden weicher gestimmt, wenn man ihre Sprößlinge lobt.« Die Angeredete blickte auf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während sie auf der Schwelle sitzen blieb.
»Ich heiße Frau Thénardier. Diese Gastwirthschaft gehört uns«, sagte sie und trällerte ihr Lied halblaut weiter.
Frau Thénardier war rothhaarig, übermäßig fleischig, von eckiger Gestalt, kurz, ein echtes Soldatenweib in des Wortes ungraziösester Bedeutung. Dabei aber hatte sie ein zieriges Wesen, das sie einer ausgedehnten Romanlektüre verdankte. Sie war noch jung, höchstens dreißig Jahre alt. Hätte sie aufrecht gestanden, so wäre vielleicht bei dem Anblick ihrer kolossalen Statur, die in einer Jahrmarktsbude als Kuriosität Ehre eingelegt hätte, die Fremde entsetzt zurückgewichen und das, was wir jetzt berichten wollen, wäre unmöglich geworden. Von dem Umstande, ob in einem gegebenen Augenblick Jemand eine sitzende oder stehende Haltung einnimmt, kann aber ein Menschenschicksal abhängen.
Die Fremde erzählte, indem sie sich einige Abweichungen von der Wirklichkeit gestattete, ihre Lebensgeschichte.
Sie sei eine Arbeiterin; ihr Mann wäre gestorben; in Paris finde sie keine Arbeit und suche gegenwärtig welche in ihrem Heimathsort; sie hätte heute früh Paris zu Fuß verlassen, aber da sie sich mit dem Kinde tragen mußte, sei sie müde geworden und in den Wagen, der nach Villemomble fuhr, gestiegen; den Weg von Villemomble bis nach Montfermeil sei sie zu Fuß gekommen; die Kleine wäre ein Bischen gegangen, aber sie habe sie natürlich bald wieder auf den Arm nehmen müssen und da wäre das Herzenskind eingeschlafen.
Dabei küßte sie ihr Töchterchen voller Inbrunst, so daß diese aufwachte. Die Kleine machte ihre großen blauen Augen weit auf und sah sich um mit jenem Ernst, welcher der lichtvollen Unschuld dieser kleinen Wesen den schon dunkel gewordenen Tugenden der Erwachsenen gegenüber so schön ansteht. Ist es doch, als wüßten sie, daß sie Engel und wir Menschen sind! Dann fing die Kleine an zu lachen, zappelte sich kräftig los aus den Armen der Mutter, die sie zurückhalten wollte, und glitt auf die Erde herab. Mit einem Mal wurde sie ihrer Altersgenossinnen auf der Schaukel ansichtig und ließ zum Zeichen ihrer Bewunderung die Zunge aus dem weit geöffneten Mündchen heraushängen.
Mutter Thénardier band ihre Kinder los, nahm sie von der Schaukel herunter und sagte:
»So, nun spielt alle drei zusammen!«
In dem Alter ist man zutraulich, und es dauerte nicht lange, so scharrten die beiden kleinen Thénardiers und ihre neue höchst vergnügte Kameradin mit gewaltigem Eifer Löcher in die Erde.
Unterdessen setzen die beiden Mütter das angefangene Gespräch fort.
»Wie heißt Ihre Kleine?«
»Cosette.«
Der wirkliche Name war Euphrasia, aber Mutter hatte ihre Euphrasia in Cosette umgetauft, vermöge jenes hübschen sprachlichen Instinktes der Mütter und des Volkes, der aus Josefa Pepita und aus Françoise Sillette macht, Ableitungen, die den Theorieen der Etymologen entschieden zuwiderlaufen.
»Wie alt ist sie?«
»Sie wird bald drei Jahre alt.«
»Wie meine Aelteste.«
Währenddem war den kleinen Mädchen etwas Wichtiges passirt. Es war nämlich ein dicker Regenwurm aus der Erde hervorkrochen, und sie betrachteten ihn voller Bangigkeit und Verwundrung.
Die drei Köpfchen dicht zusammengedrängt, bildeten sie eine allerliebste Gruppe.
»Wie rasch die Kinder Bekanntschaft mit einander machen!« rief Mutter Thénardier. »Sollte man nicht meinen, man hatte drei Schwestern vor sich?«
Diese Aeußrung war ein Funke, auf den die andre Mutter gewartet zu haben schien. Sie ergriff die Hand der Thénardier, sah ihr ins Auge und fragte:
»Wollen Sie mein Kind eine Zeit lang bei sich behalten?«
Die Thénardier machte eine Gebärde des Erstaunens, die weder Ja noch Nein bedeutete.
Cosettens Mutter fuhr fort:
»Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Ich würde keine Arbeit bekommen, denn in meiner Heimat sind sie lächerlich in dieser Hinsicht. Der liebe Gott hat mich zu Ihnen hergeführt. Als ich Ihre allerliebsten, so reinlich gehaltnen und vergnügten Kinderchen gesehen habe, da ist mir ganz eigen zu Muthe geworden. Ich habe gedacht, das muß eine gute Mutter sein. Sie haben Recht: Die drei passen zu einander, als wenn's Schwestern wären. Außerdem bleibe ich auch nicht lange weg. Wollen Sie mir also bis dahin meine Kleine hier behalten?«
»Man müßte sich die Sache überlegen,« meinte die Thénardier.
»Ich würde sechs Franken den Monat geben.«
Hier ließ sich aus dem Hause eine Männerstimme vernehmen.
»Nicht unter sieben Franken. Und sechs Monate pränumerando.«
Sechs mal sieben macht zweiundvierzig, berechnete die Thénardier.
»Gut«, sagte die Fremde.
»Und außerdem fünfzehn Franken für die ersten Auslagen.«
»Im Ganzen siebenundfünfzig Franken, fuhr die Thénardier fort und sang ihre liebliche Romanze weiter:
»Es muß sein, so sprach der Krieger.«
»Die sollen Sie haben,« sagte Fantine. »Ich habe achtzig Franken. Da bleibt mir noch Geld genug übrig, um nach meinem Ort zu reisen, – wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich dort ein wenig Geld verdient habe, komme ich wieder und hole mir mein Herzenskleinod ab.«
Aus dem Hause rief es wieder:
»Die Kleine hat doch eine Ausstattung?«
»Mein Mann!« erklärte die Thénardier.
»Nun natürlich hat sie eine Ausstattung. Ich habe mir gleich gedacht, daß es Ihr Mann war. Sogar eine sehr statiöse, großartige! Alles dutzendweise, und Seidenkleidchen, wie das feinste Fräulein sie nicht besser haben kann. Ich habe Alles bei mir, in dem Reisesack.«
»Das müssen Sie mitgeben!« rief der Mann wieder.
»Nun natürlich bekommt sie's mit. Das wäre ja noch schöner, wenn ich meine Tochter ohne Kleider ließe!«
Jetzt trat der Hausherr aus dem Hintergrunde hervor.
»Ich bin's zufrieden.«
Der Handel wurde also abgeschlossen. Fantine übernachtete in der Herberge, zahlte das Geld aus und machte sich ohne ihr Kind und mit dem stark zusammengeschrumpften Reisesack am nächsten Morgen wieder auf den Weg, indem sie darauf rechnete, bald wieder zurückkommen zu können. Eine solche Abreise läßt sich ruhigen Herzens beschließen, aber ist der Augenblick gekommen, so bringt sie Einen an den Rand der Verzweiflung.
Eine Nachbarin der Thénardier begegnete Fantinen, als sie ohne ihr Kind von dannen ging, und erzählte ihnen:
»Ich habe so eben auf der Straße eine Frau weinen sehen, daß es herzzerreißend war.«
Als Cosettens Mutter fort war, sagte Thénardier zu seiner Frau:
»Nun kann ich die hundert und zehn Franken bezahlen die morgen fällig werden. Es fehlten mir noch fünfzig Franken. Der Wechsel wäre mir faktisch protestirt worden, und wir hätten den Exekutor auf den Hals gekriegt. Die kleine Maus hast Du gut geködert mit deinen Jöhren.«
»Ohne mir was dabei zu denken,« entgegnete die Frau.
Es war ein armseliges Mäuschen, das sie da gefangen hatten! aber eine Katze freut sich auch über einen magern Fang.
Was waren die Thénardiers für Leute?
Entwerfen wir in kurzen Umrissen ein Bild von ihnen. Wir werden es in der Folge des Näheren ausführen.
Diese Wesen gehörten zu jener Zwitterart von Menschen, die aus ungebildeten Emporkömmlingen und heruntergekommenen gescheidten Leuten zusammengesetzt ist, zwischen dem sogenannten Mittelstande und den unteren Volksschichten steht und einige Fehler der letzteren mit fast allen Lastern des ersteren verbindet, ohne die gutherzigen Regungen des Arbeiters, noch die Ordnungsliebe der wohlhabenden Klassen zu bekunden.
Die Thénardiers waren sittlich unentwickelte Naturen, die unter dem Stachel irgend einer bösen Leidenschaft der ungeheuerlichsten Verbrechen fähig werden. Die Frau war mehr roh und dumm, der Mann mehr Lump und Gauner. Alle Beiden konnten es auf dem Wege, der zur Vollkommenheit im Schlechten führt, sehr weit bringen. Es giebt eben Krebsseelen, die beständig rückwärts gehen, nach der Finsterniß hin, die ihre Erfahrungen nur dazu benutzen, um ihre moralische Verkrüppelung noch zu vermehren und allmählig immer nichtswürdiger zu werden. Zu diesen Naturen gehörten auch die Thénardiers, Mann und Frau.
Er war eine ausnahmsweise unangenehme Erscheinung für den Physiognomiker. Manche Menschen braucht man blos anzusehen, um Mißtrauen gegen sie zu fassen, ein Mißtrauen, das sich nach zwei Seiten hin erstreckt, auf ihre Vergangenheit und auf ihre Zukunft. Ihre Blicke, ihre Gebärden zeugen davon, daß sie schlimme Handlungen hinter und vor sich haben.
Thénardier war, wenn man seinen Angaben Glauben schenken durfte, Soldat gewesen und hatte es bis zum Sergeanten gebracht. In dem Feldzuge des Jahres 1815 sollte er sich sogar besonders ausgezeichnet haben; aber wir werden später auseinander setzen, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt. Eine seiner Waffenthaten war auf seinem Aushängeschild dargestellt. Er selber hatte das Bild gemalt, denn er verstand von Allem ein wenig, aber Alles schlecht.
Es war damals die Zeit, wo die Romanlitteratur, die sich einst eines Meisterwerks wie »Clölia« rühmen konnte, sich zu nichts Besserem als zu einer »Lodoiska« emporgeschwungen hatte, in der das Scepter von Fräulein von Scuderi und Frau von Lafayette auf Frau Bournon-Malarme und Frau Barthélemy-Hadot übergegangen war und sich dem Niveau des Volkes angepaßt hatte. In dieser Gestalt entflammte der damalige Roman: »Die liebesbedürftigen Seelen der pariser Portierfrauen« und richtete sogar in den angrenzenden Ortschaften arge Verwüstungen in Frauenhirnen an. Auch Frau Thénardier war gerade gescheidt genug, dergleichen Bücher zu lesen. Sie lebte und webte in diesem Unsinn, tauchte ihr bischen Verstand ganz darin unter und erschien in Folge dessen, so lange sie jung war und noch einige Zeit darüber hinaus, als eine sinnige Natur im Vergleich mit ihrem Manne, einem zugleich rohen und pfiffigen Halunken mit einer gewissen Kombinationsgabe und der auch eine gewisse Bildung besaß, es aber in Bezug auf Sentimentalität nur bis zu Pigault-Lebrun's Anschauungen gebracht hatte und sich dem schönen Geschlecht gegenüber immer nur als ein vollendeter Knote betrug. Seine Frau war zwölf bis fünfzehn Jahre jünger, als er. Später aber, als ihre romantischen Schmachtlocken zu ergrauen anfingen, als sich aus einer Pamela eine Megäre entwickelte, war die Thénardier nur noch ein dickes, bösartiges Weibsbild, das sich an dummen Romanen erbaut hatte. Aber Albernheiten ließ man nicht ungestraft. Die Folge bei der Thénardier war, daß ihre älteste Tochter Eponine hieß. Die jüngste wäre beinahe von dem Unglück befallen worden, Gulnare getauft zu werden; glücklicher Weise bewirkte aber ein Roman von Ducray-Duminil eine Ablenkung zu Gunsten des armen Dinges, so daß es mit dem Namen Azelma davon kam.
Beiläufig gesagt war aber nicht Alles lächerlich und oberflächlich an dieser eigentümlichen Zeitepoche, die sich durch die Anarchie der Taufnamen charakterisirt. Neben dem so eben angedeuteten romantischen Element tritt ein andres auf, das symptomatisch ist für gewisse soziale Umwälzungen. Es ist heutzutage nicht selten, daß Ochsenjungen sich Arthur, Alfred, Alfons nennen, und Vicomtes – falls man solche Vicomtes noch sprechen kann, sich an dem simpeln Namen Thomas, Pierre, Jacques begnügen lassen. Diese Verbindungen der »feinen« und der plebejischen Taufnamen verdankt man dem neuen Gleichheitsdrange, dessen unwiderstehlicher Hauch jetzt alles durchweht. Auch diesem scheinbaren Mißklange liegt etwas Großes zu Grunde, die französische Revolution.
Es gehört noch etwas mehr dazu als bloße Niederträchtigkeit, wenn man auf einen grünen Zweig kommen will. Die Gastwirtschaft ging mehr und mehr zurück.
Dank den siebenundfünfzig Franken, die Fantine hergegeben hatte, war es Thénardier geglückt dem Protest zu entgehen und seinen Wechsel zu honoriren. Den nächsten Monat brauchten sie wieder Geld, und Frau Thénardier versetzte deshalb in Paris Cosettens Ausstattung für sechzig Franken. Sobald dies Geld ausgegeben war, gewöhnten sich die Thénardiers daran in dem kleinen Mädchen nur ein Kind zu sehen, das sie aus Gnade und Barmherzigkeit bei sich behielten, und behandelten sie demgemäß. Nun sie keine Ausstattung mehr hatte, kleidete man sie in die alten Kleider und Hemden der kleinen Thénardiers, d. h. in Lumpen. Genährt wurde sie mit dem, was die Andern übrig ließen, ein wenig besser als der Hund und ein wenig schlechter als die Katze. Die Katze und der Hund waren überhaupt des Kindes ständige Tischgenossen, denn Cosette aß wie sie unter dem Tisch aus einem hölzernen Napf, der den ihrigen ähnlich war.
Ihre Mutter, die sich in Montreuil-sur-Mer niedergelassen hatte, schrieb oder ließ vielmehr jeden Monat einen Brief an die Thénardiers schreiben, um sich nach ihrem Töchterchen zu erkundigen. Sie erhielt regelmäßig denselben Bescheid: »Cosetten geht es recht wohl.«
Nach dem Ablauf des ersten Halbjahres schickte die Mutter sieben Franken für den siebenten Monat und war überhaupt ziemlich pünktlich mit ihren Geldsendungen. Aber das Jahr war noch nicht zu Ende, als Thénardier eines Tages murrte: Das ist gerade was Rechtes, sieben Franken! Und er verlangte zwölf Franken. Die Mutter, der sie vorredeten, ihr Kind sei glücklich und gedeihe gut, fügte sich und zahlte das Verlangte.
Gewisse Naturen können nicht auf der einen Seite lieben ohne auf der andern zu hassen. Mutter Thénardier liebte ihre beiden Töchter leidenschaftlich, konnte aber in Folge dessen die fremde Kleine nicht ausstehen. Wie traurig, daß Mutterliebe sich auf eine häßliche Weise äußern kann! So wenig Platz Cosette auch in dem Hause einnahm, die Thénardier glaubte, dieser Platz fehle jetzt ihren Kindern, die Kleine atme Luft, die ihren Töchtern zukäme. Wie viele Frauen ihres Schlages verfügte sie nur über ein bestimmtes Quantum Liebkosungen und über ein gleichfalls begrenztes Quantum Schläge und Scheltworte pro Tag. Hätte sie nicht Cosette gehabt, so wären alle Mißhandlungen, so abgöttisch sie ihre Töchter auch liebte, auf diese niedergeprasselt; so aber hatten diese das Glück, daß die kleine Fremde alle Schläge auf sich ablenkte, während sie nur die Liebkosungen einheimsten. Cosette mochte thun, was sie wollte, immer erweckte sie unbarmherzige Züchtigungen. Was mußte sich wohl das sanfte, schwache Geschöpfchen von der Welt und von Gott für eine Vorstellung machen, wenn sie ohne Unterlaß gescholten wurde und damit das sonnige Glück verglich, dessen sich die beiden andern Kinder erfreuten!
Da die Mutter gegen Cosette niederträchtig war, so waren Eponine und Azelma es natürlich ebenfalls. Die Kinder sind in diesem Alter nur Abdrücke der Mutter, nur in kleinerem Format.
So verstrich ein Jahr und dann ein zweites.
Im Dorfe hieß es:
»Was die Thénadiers für gute Menschen sind. Haben selber nichts und erhalten ein armes Kind, das man ihnen auf dem Halse gelassen hat!«
Denn man nahm an, Cosette sei von ihrer Mutter vergessen worden.
Thénardier indessen, der auf irgend einem geheimen Umwege in Erfahrung gebracht hatte, daß die Kleine ein uneheliches Kind war, dessen Existenz von der Mutter verhehlt werden mußte, verlangte fünfzehn Franken Kostgeld. Die Kleine, behauptete er, wachse sehr und esse jetzt viel mehr. »Wenn sie mich will darunter leiden lassen, daß sie unsaubre Geschichten zu verheimlichen hat, so komm ich ihr, ehe sie's sich versieht, über den Hals und schmeiße ihr den Balg vor die Füße.«
Auch diese Steigerung ließ sich die Mutter gefallen.
Das Kind wuchs von Jahr zu Jahr, und sein Elend ebenfalls.
Anfangs bestand der Hauptzweck ihres Daseins darin, daß sie sich von Thénardiers Kindern beliebig mißhandeln lassen mußte; als sie aber fünf Jahre alt geworden, wurde sie auch noch die Dienstmagd des Hauses.
»Ein fünfjähriges Kind – Dienstmädchen? Nicht möglich!« wird man einwenden. Doch, doch! Leider! Das soziale Elend kehrt sich an kein Lebensalter. Haben wir doch kürzlich einen gewissen Dumolard vor Gericht gesehen, einen Banditen, der laut officiellen Urkunden, als verwaistes, fünfjähriges Kind, »von seiner Hände Arbeit und vom Diebstahl lebte.«
Cosette mußte alle Gänge machen, die Stuben, den Hof, die Straße fegen, das Geschirr abwaschen, ja Lasten tragen. Dies zu verlangen, hielten sich die Thénardiers um so mehr für berechtigt, als die Mutter, die noch immer in Montreuil-sur-Mer weilte, anfing weniger pünktlich zu zahlen. Mit einigen Monaten Kostgeld blieb sie sogar im Rückstände.
Wäre sie jetzt, nach Verlauf dreier Jahre, nach Montfermeil zurückgekehrt, so hätte sie ihr Kind nicht wiedererkannt. So niedlich und kräftig Cosette bei ihrer Ankunft im Thénardierschen Hause gewesen war, so mager und blaß sah sie jetzt aus. Dabei hatte sie etwas Aengstliches oder, wie die Thénardiers es nannten, Duckmäuserisches in ihrem Wesen.
Die Ungerechtigkeit brachte die Wirkung hervor, daß sie zänkisch wurde und, infolge des Elends, war sie häßlich geworden. Nur ihre schönen Augen waren ihr geblieben, aber in die konnte man nicht hineinsehen, ohne daß es einem weh ums Herz wurde. Schienen sie doch nur deshalb so groß zu sein, um recht viel Traurigkeit wiederspiegeln zu können.
Es war kläglich anzusehen, wenn dies, noch nicht sechsjährige Kind, zur Winterzeit, in alten Leinwandlumpen vor Kälte bebte und in den rothen, verfrorenen Händchen, mit Thränen in den großen Augen, einen mächtigen Besen hantierte.
In der Umgegend nannte man sie die Lerche. Diesen Namen hatte das Volk, das figürliche Redewendungen liebt, dem verschüchterten, scheuen Geschöpfchen beigelegt, das jeden Morgen zuerst im Hause und im Dorfe aufstand, das schon vor dem Tagesgrauen auf der Straße, oder auf dem Felde zu sehen war.
Schade nur, daß die Lerche nie sang.