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22. Festfreuden

Nun folgten fröhliche Tage im Dunkerschen Hause. Neben der Advents- und Weihnachtsstimmung, die alle beseelte, gab es noch eine Freude, die dem Hause, das eine Braut birgt, ein besonderes Gepräge gibt. Gretchens Antlitz strahlte vor Glück und sie, die sonst in ihrer Erscheinung nichts Auffälliges bot, war hübsch zu nennen, da der Ausdruck ein so lieblicher war. Für Hemsing hatte sie wenigstens große Anziehungskraft. Er erschien so oft er konnte und war immer, wie sich denken läßt, höchst willkommen.

Die Jugend hatte vollauf zu tun mit Weihnachtsarbeiten; was sie am Tage nicht schaffen konnten, wurde abends spät besorgt. Oft, wenn schon alles schlief, saßen Gretchen und Eva traulich in ihrem Stübchen beisammen und arbeiteten für die lieben Eltern. Dabei plauderten sie von diesem und jenem. Als Gretchen einmal äußerte, sie freue sich in diesem Jahr ganz besonders auf Weihnachten, hörte sie Eva leise seufzen.

»Eva, was hast du nur? Freust du dich nicht auf das schöne Fest, das allen Menschen so viel Freude und Segen bringt?«

»Auf das Fest freue ich mich sicher, auf die schönen Weihnachtslieder, auf die Gottesdienste und was sonst zur Verherrlichung Gottes und seines lieben Sohnes dient. Das soll ja unsere Hauptsache sein und sollte uns eigentlich auch genügen, aber –«

»Nun aber? Wir sind doch alle gut gegen dich, fühlst du dich in unserem Familienkreis nicht mehr wohl, lassen wir es an Liebe fehlen?«

»Durchaus nicht! Du weißt, wie glücklich ich mich unter euch fühle, wie dankbar ich euch bin für alle Liebe und Güte, die ihr mir fortdauernd erweist. Es tut mir leid, daß mir ein Seufzer entfuhr.«

»Es ist mir ein Zeichen, daß dich irgend etwas bedrückt –«

»Der Seufzer kam so unwillkürlich, bitte denke nicht mehr daran.«

Plötzlich sagte Gretchen unvermittelt: »Christian kommt ja nun auch.«

War es Zufall oder Absicht, es ließ sich wieder ein Seufzer hören.

»Nun weiß ich es«, rief Gretchen, »es ist wegen Christian, gesteh es nur.«

Da umschlang sie Eva und rief halb lachend, halb weinend: »Der Seufzer ist mir ganz gegen meinen Willen entschlüpft, bitte, denke dir gar nichts dabei, es ist so dumm von mir –«

»Eva, ich kenne dich, du fühlst dich beklommen, weil Christian kommt. Gesteh' es nur, es wäre dir lieber, wenn er nicht da wäre?«

»Das wäre doch außerordentlich selbstsüchtig. Bitte, liebes Gretchen, vergiß diese unfreiwilligen Seufzer, sage es nicht deinen lieben, prächtigen Eltern, ich müßte mich ja schämen vor ihnen. Ich habe gar nichts gegen deinen ältesten Bruder, es ist mir nur nicht – um ganz offen gegen dich zu sein, es ist mir nur nicht – so heimatlich, wenn er da ist. Ich schätze ihn sehr, habe großen Respekt vor seiner Gelehrsamkeit, aber ich habe immer noch mit dem Gedanken zu kämpfen, daß er mich als Eindringling ansieht. Kurz, es ist nicht so wie mit euch anderen Geschwistern. Aber das schadet ja nicht –«

»Es liegt an ihm. Er ist ein komischer Mensch, seine Zurückhaltung gegen Damen, die nicht zur Familie gehören, ist geradezu lächerlich. Übrigens, in diesen Tagen macht er seinen Doktor.«

Ein Pochen an der Tür ließ sich vernehmen. Die beiden Mädchen fuhren erschrocken zusammen, als die väterliche Stimme rief: »Ich wünsche, daß man sich schnell ins Bett verfügt, das lange Aufbleiben ist schädlich für Geist und Körper.«

Da flog Gretchen an die Tür und öffnete. »Vater, du bist auch noch auf?«

»Ich hatte heute wichtige Briefe zu erledigen unten in meinem Zimmer und hörte über mir das Plaudern. Das ist nichts, Kinder, ihr macht euch krank. Was habt ihr denn vor?«

»Das darfst du nicht wissen, Väterchen, wir gehen jetzt gleich schlafen, bitte, komm nicht herein, die Geheimnisse liegen alle ausgebreitet auf dem Tisch.«

Der Vater drohte mit dem Finger und ging mit seinem Licht in der Hand hinunter. Für die Mädchen war es nun geboten, Schluß zu machen, und das Gespräch von vorhin hatte ein Ende.

Am folgenden Tage gingen Gretchen und Eva, wie es verabredet war, zu Frau Röder, um ihr vorzulesen. Auch veranlaßte Frau Maria die beiden, Noten mitzunehmen und die alte Dame zu fragen, ob sie es möchte, wenn sie ihr einige Weihnachtslieder vorsängen.

Gern stimmte sie dem zu. Als die hübschen jugendlichen Stimmen mit Klavierbegleitung erklangen, da faltete die Alte andächtig die Hände, und Tränen rannen leise über ihre Wangen. Auch Betty steckte den Kopf zur Tür herein und nickte beifällig. »Seit die jungen Damen bei uns verkehren, wird es doch ein bißchen anders«, murmelte sie vor sich hin.

Frau Röder bat immer noch um mehr, so daß aus dem Lesen heute wenig wurde. »Freude, Freude über Freude, Christus wehret allem Leide. Wonne, Wonne über Wonne, er ist unsere Gnadensonne«, ertönte es von den sangeskundigen Lippen.

»Ich danke Ihnen, meine jungen Freundinnen, ich danke Ihnen, es war mir ein großer Genuß. Meine verstorbene Tochter sang auch so schön, so wunderbar schön; seitdem habe ich nicht wieder singen hören.«

»Aber noch viel schöner klingt es, wenn wir alle miteinander singen; das sollten Sie einmal hören, Frau Röder! Sie müssen wirklich am Heiligen Abend zu uns kommen, da wird viel gesungen, alle die kräftigen Männerstimmen darunter, der Vater singt Baß, die Brüder Tenor, das klingt herrlich. Wollen Sie nicht, liebe Frau Röder?« bat Gretchen.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, es würde mich zu sehr aufregen. Ich bin auch zu sehr daran gewöhnt, den Heiligen Abend in tiefster Einsamkeit zu verbringen und würde nur Störung in Ihren schönen Familienkreis bringen, als eine, die nicht dazugehört.«

Zu Hause bestürmten die beiden die Mutter, sie müsse dafür sorgen, daß Frau Röder den Heiligen Abend bei ihnen verlebe. Frau Maria versprach es, fürchtete aber eine Fehlbitte zu tun.

Die beiden Dienstmädchen hatte sich inzwischen angefreundet. Betty war eines Sonntags feierlich von Rieke zum Kaffee geladen und diese hatte schon ein paar mal bei Betty eingesehen.

»Es ist ein sehr nettes Mädchen, die Betty«, hatte Rieke zu ihrer Herrin gesagt. »Sie ist froh, daß sie jemand gefunden hat, der im Alter zu ihr paßt.«

»Es freut mich auch, Rieke«, hatte Frau Dunker gesagt, »daß du ein älteres Mädchen in der Nachbarschaft gefunden hast. Sie ist auch schon lange bei ihrer Herrin.«

»Ja, sie hat schon viel mit ihr erlebt. Frau Röder hat nur eine Tochter gehabt und die ist jung gestorben.« »Hat Betty dir von der Tochter etwas erzählt?«

»Nein, nichts weiter. Sie sagte nur, als Fräulein Eva den Kuchen für uns brachte: ›Was für ein hübsches Mädchen, sie erinnert mich etwas an die Tochter von Frau Röder.‹ Sonst spricht sie nicht weiter über ihre Herrschaft.«

Ähnlichkeit hatte ja auch Frau Maria gefunden zwischen dem Bild der Tochter und Eva. Deshalb tauchte immer wieder der Gedanke bei ihr auf, ob irgendein Zusammenhang zwischen diesen beiden Menschen sein könnte. Aber sie wagte mit niemandem darüber zu sprechen, seit ihr Mann sie, ihrer Einbildung wegen, ausgelacht hatte. Wenn sie sich doch von Herrn Rechtsanwalt Belzer die ganze Begebenheit hätte etwas ausführlicher erzählen lassen! Aber damals ahnte ja niemand, daß er so bald sterben würde, und daß Eva ganz als ihr Kind bei ihnen bleiben würde. Nur das war Frau Dunker im Gedächtnis geblieben, daß eine alte Großmutter das Kind energisch zurückgewiesen habe. Und Frau Röder hatte zu ihr von einer Handlungsweise gesprochen, die sie tief bereute.

»Sage doch, Eva« fragte Frau Maria ihre Pflegetochter, als sie einmal allein im Zimmer waren, »du sprachst doch oft von einem Mädchen, das bei deinen Pflegeeltern lange gedient hatte –«

»Die gute Minna«, fiel Eva ihr in die Rede. »Sie sagte immer, sie habe mich großgezogen, darum habe sie mich so lieb.«

»Lebt sie noch?«

»Freilich, aber sie ist längst verheiratet, in einem Dorf in der Nähe meiner alten Heimat. Sie war auch bei Väterchens Beerdigung und weinte so sehr, weil ich wieder fort mußte.«

»Möchtest du sie einmal wiedersehen?«

»Wie gerne, liebe Mutter. Aber die Reise ist weit und kostspielig, das wird nicht gehen.«

»Wie wär's, wenn wir ihr das Reisegeld schickten, und ließen sie einmal herkommen?«

»O, das wäre wunderschön. Da könntest du die gute Minna kennenlernen, und ich hätte die Freude, sie wiederzusehen. Ich danke dir, liebste Mutter.«

Frau Maria wehrte den Dank fürs erste ab. »Jetzt ist's Winterzeit, da geht eine Frau vom Lande nicht gern auf Reisen, aber später, gegen Pfingsten, lassen wir sie einmal kommen. Da kann sie sehen, was aus ihrer Eva geworden ist.«

Diese Aussicht beglückte Eva sehr. Sie hing mit großer Liebe an der treuen Minna, der Hüterin ihrer Jugend. Frau Dunker aber wollte die Idee, die sie einmal gefaßt hatte, nicht fahren lassen; sie hoffte, durch die Frau allerlei Aufschlüsse über das Schicksal der Kleinen zu erfahren, jedenfalls wünschte sie, sich in nähere Verbindung mit ihr zu setzen. Sie dachte es sich zu schön, wenn sie dazu beitragen könnte, der alten Dame Gelegenheit zu geben, eine unselige Tat, die sie zu bereuen schien, wieder gutzumachen.

Nun rückte das Fest immer näher. In einigen Tagen war Heiliger Abend. Die festlichen Vorbereitungen waren nahezu beendigt, das Dunkersche Haus von oben bis unten gescheuert, weiße duftige Vorhänge überall, die Bäckereien waren gut geraten und eine selbstgezogene stattliche Tanne war aus dem Garten geholt und erfüllte die Luft mit ihrem würzigen Duft. Die Kinder des Hauses liefen mit Geheimnissen herum, alle hatten frohe Gesichter, am glücklichsten aber war Gretchen, die ihren Verlobten auf etliche Tage erwartete.

Aber auch ein anderer Gast wurde heute erwartet. Das war der junge Doktor Christian, der schon die Kunde von seinem wohlbestandenen Doktorexamen vorausgesandt hatte in einem Brief, in dem er seine Freude aufs Elternhaus aussprach. Besonders aber, so schrieb er, freue er sich, in Hemsing, seinem Freund, einen Schwager begrüßen zu dürfen.

Gretchen erklärte, den Bruder abends abholen zu wollen. Hemsing, der schon als Gast eingetroffen war, begleitete sie natürlich, Georg und Heinz schlössen sich ihnen an.

»Jetzt gehst du immer mit Grete, gar nicht einmal mehr mit uns, das ist eigentlich langweilig«, murrten die Buben.

Da wandte das Bräutchen sich um und sagte: »Hört, auf dem Rückweg will ich ihn euch überlassen, da nehme ich Christian, und ihr geht mit Gerhard.«

Der letztere sah seine Braut verwundert an. Diese flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf er erwiderte: »Das ist recht, tue das, mein Gretchen.«

Sie mußten noch etwas warten, die Züge waren so voll besetzt, daß sie alle ein wenig Verspätung hatten. Endlich lief der Zug in die Halle, der den Bruder bringen sollte.

»Da ist er! Da ist der Herr Doktor«, riefen die Brüder und winkten einem jungen Mann zu, der sich weit aus dem Zug lehnte und auch mit der Hand winkte.

Nun war er da. Herzliche Begrüßung folgte, dann übergab Christian seinen Gepäckschein einem Träger, und nun ging es im Sturmschritt der väterlichen Wohnung zu.

Gretchen hatte ihren Bruder wirklich unter dem Arm, und Hemsing ging mit den beiden jungen Schwägern hinterdrein.

Nachdem Gretchen allerlei mit dem Bruder besprochen hatte, begann sie: »Christian, ich möchte dich um eins bitten, sei recht freundlich und verwandtschaftlich mit der Eva, Sieh, sie fühlt es sonst, daß sie nicht zur Familie gehört. Ich möchte so gern, daß ihr das Weihnachtsfest nicht verleidet würde durch dein zurückhaltendes Wesen.«

»Hat sie denn derartiges geäußert?«

»Gesagt hat sie nichts, aber geseufzt hat sie, als von deinem Kommen zum Fest die Rede war!«

»Das tut mir leid, wirklich sehr leid. Geseufzt hat sie über mich! Nun, ich will mein Möglichstes tun. Nur verlange nicht, daß ich sie, wie Trude, umarme und küsse.«

»Nein, das hast du nicht nötig. Aber man muß freundlich und herzlich sein gegen Mitglieder des Hauses, besonders gegen eine, die von den Eltern als Tochter angenommen ist.«

»Sieh, wie du Moral predigst. Gutes Gretel, ich will gern alles tun, nur seufzen darf deine Eva nicht über mich. Das tut mir leid. Ja, ich will mein Möglichstes tun.«

»Ich kann wohl meine Gretel jetzt wieder bekommen?« Hemsing stand vor den beiden.

»Gewiß«, sagte Christian erschrocken, »ich wußte nicht, daß du jetzt größere Ansprüche hast als ich.«

»Bedeutend größere«, versetzte Hemsing ruhig und ging mit Gretchen davon.

»Christian, wir wollen dich auch haben«, riefen die Brüder. Sie nahmen ihn in die Mitte, und es währte nicht lange, so schritten sie über die Schwelle des väterlichen Hauses.

Die Eltern begrüßten ihren Ältesten mit herzlicher Freude. Er war noch etwas gewachsen und sah stattlich und gut aus. Auch ein Schnurrbart war entstanden, der ihm hübsch stand und ihm etwas Männliches verlieh.

»Wo ist denn Trude?«

»Sie ist mit Eva in der Küche, wird gleich erscheinen. Sie muß Gretchen öfter vertreten, weil der Herr Verlobte sie nicht immer hergibt«, sagte die Mutter. »Da kommt sie.«

Gertrud kam mit einer großen Schüssel Butterbrote herein, die sie beinah hätte fallenlassen, als sie des Bruders ansichtig wurde. Eva kam hinter ihr mit der Teekanne.

Er begrüßte sein Schwesterchen herzlich und sah sich dann nach Eva um, die eben die Teekanne auf den Tisch setzte.

Sie war noch in Trauer, aber das feine, liebliche Gesicht mit den schönen seelenvollen Augen war fast noch hübscher geworden. Ein ernster Ausdruck lagerte auf der Stirn, eine feine Röte bedeckte Wangen und Hals.

Er ging auf sie zu und reichte ihr die Hand.

»Es hat mir so leid getan, daß Sie Ihren lieben Vater verloren haben, aber es freut mich, daß Sie nun ganz bei meinen Eltern bleiben, Eva, da wollen wir uns von nun an – als Geschwister ansehen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor«, erwiderte sie tief errötend.

»Dann dürfen Sie nicht mehr Herr Doktor sagen, sondern wie die anderen Christian.«

So, nun hatte er es doch wohl recht gemacht, er sah Gretchen an, sie nickte ihm freundlich zu, sie war offenbar zufrieden mit ihm.

Eva unterließ es fortan, ihn bei seinem Titel zu nennen, aber »Christian« brachte sie nicht heraus. Wenn sie künftig mit ihm sprach, umging sie es, ihn anzureden.

Frau Maria hatte es wirklich durch Zureden fertig gebracht, Frau Röder zu bewegen, den Heiligen Abend in der Dunkerschen Familie zuzubringen. Georg und Eva hatten es übernommen, sie abzuholen. Als es anfing zu dunkeln, gingen sie hinüber, nahmen die alte Dame in ihre Mitte und führten sie behutsam und vorsichtig in die elterliche Wohnung. Betty ging freudestrahlend hinterher, denn auch sie war eingeladen. Wie glücklich war sie, daß ihre Frau einmal aus dem ewigen Einerlei herauskam, einmal etwas anderes sah und hörte, als nur sie und die Wände ihres Hauses.

Und als sie dann, geführt von Gretchen und Eva, den hellerleuchteten Saal betrat und alle das alte und immer neue Lied anstimmten: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit«, da wurde sie so ergriffen, daß Tränen ihren Wangen entströmten. Sie wurde in einen bequemen Lehnstuhl gebracht, von wo aus sie die ganze Weihnachtsstube überblicken konnte. Ernst und feierlich tönten ihr die Worte des Hausherrn entgegen, der nach dem Gesang das Weihnachtsevangelium verlas. Dann wurden alle an ihre Plätze geführt. Nun gab es ein Staunen und Wundern über die enthüllten Geheimnisse, ein fröhliches Durcheinanderschwirren, wenn eins dem andern zeigte, was ihm beschert worden. Gretchen strahlte, sie hatte von Hemsing eine schöne Uhr bekommen, er wurde von der Braut mit einem Teppich vor dem Schreibtisch beglückt. Eva bekam von den Pflegeeltern ebenfalls eine Uhr, als Anerkennung ihres Fleißes und ihrer Pünktlichkeit; sie war natürlich hocherfreut darüber. Die Knaben und Gertrud fanden auf ihren Plätzen die Erfüllung verschiedener Wünsche. Auf allen Gesichtern glänzte Freude und Zufriedenheit, nicht wenig auf des Vaters, der eine Schlafdecke bekommen hatte und nicht genug den Fleiß seiner drei Töchter lobend anerkennen konnte.

Die alte Dame aber wunderte sich, wieviel Leben und Freude und Frohsinn in diesem Hause wohnte, wie alles durch die Liebe der einzelnen Glieder des Hauses untereinander verklärt wurde, und sie hatte jahrelang Haß, Bitterkeit und Groll in sich genährt, bis Gott der Herr das harte Herz mürbe gemacht hatte, bis alles, alles in ihr anders geworden war, nur nicht die Einsamkeit, die sie sich selbst erwählt hatte.

»Sehen Sie, liebe Frau Röder«, rief Eva und beugte sich zu ihr, »sehen Sie nur, was die guten Eltern mir beschert haben.« Sie zeigte ihr die Uhr, brachte ihr das schöne Kleid, die Bücher, alles mußte die alte Dame sehen und bewundern. Als sie sich einmal wieder zu ihr beugte, um ihr etwas zu zeigen, zog sie sie noch näher zu sich heran und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Mein gutes Kind«, flüsterte sie, »ich habe Sie sehr lieb; ganz besonders lieb.«

Das hörte Frau Maria, die in der Nähe stand. Sie sagte: »Ja, die Eva ist nun auch unser liebes Kind, das uns viel Freude macht.«

Frau Röder sah gedankenvoll vor sich hin. Ihr fiel plötzlich schwer auf die Seele, was wohl aus ihrer eigenen kleinen Enkelin geworden sein mochte. Ob sie noch lebte? Sie mußte jetzt auch in dem Alter dieser jungen Mädchen sein.

Doch zum Grübeln war heute nicht der Ort. Jetzt kam das Brautpaar auf Frau Röder zu. Gretchen hatte ihren Verlobten noch nicht vorgestellt, und nun mußten sie sich zu der alten Dame setzen, die auf einmal für alles, was sie umgab und für alle lieben Menschen, die in diesem Hause lebten, reges Interesse gewann.

Der Abend, den sie heute im Dunkerschen Hause verlebte, war nicht verloren, sie spürte die Regung noch lange nachher.


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