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Frau Maria hatte sich am folgenden Tage in ihr kleines eigenes Zimmer, das überall im Hause als »Mutters Zimmer« bezeichnet wurde, zurückgezogen. Dort schrieb sie ihre Briefe, berechnete ihre Ausgaben, ruhte auch wohl ein Weilchen von angestrengter Arbeit, vor allen Dingen aber las und betrachtete sie Gottes Wort, an das sie von Herzen glaubte, nach dem sie handelte, nach dem sie ihr ganzes Haus regierte. Da öffnete sich leise die Tür, Evas Kopf wurde sichtbar und eine Stimme sagte: »Tante, darf ich einmal kommen?«
»Gern, mein liebes Kind. Hast du etwas auf dem Herzen?«
Eva kam näher, schlang den Arm um die geliebte Tante und fragte: »Darf ich dich etwas fragen?«
Maria nickte selbstverständlich, konnte sich aber nicht denken, was es sein könnte, das Eva so ernst und feierlich aussehen ließ. Erwartungsvoll sah sie sie an und diese begann:
»Tante, hat mein lieber Vater« – sie stockte, »hat mein Vater euch etwa gesagt, als er mich bei euch anmeldete, daß – daß ich ein angenommenes Kind sei, daß sie nur meine Pflegeeltern waren?« »Ja, meine liebe Eva, das hat er uns anvertraut, aber wir sprechen nicht darüber.« Wie gern hätte sie noch gefragt: »Wissen es eure Kinder auch?« Aber sie brachte die Frage nicht heraus. Was die Eltern wußten, war den Kindern jedenfalls auch nicht verborgen geblieben. Sie wußte nun, was sie wissen wollte, und schickte sich an, wieder zu gehen.
»Nun, Evchen, war das alles?«
Sie nickte stumm.
»Du mußt dir das nicht so schwer machen, im Gegenteil, du mußt dem lieben Gott täglich danken, daß er dir so prächtige Eltern geschenkt hat, die dich zu allem Guten erzogen haben. Und hat er dir nach seiner Weisheit die Mutter genommen, so hat er dir nun einen schönen Beruf, eine schöne Aufgabe gestellt. Du sollst deines Vaters Trost und Erquickung sein und seine Stütze, wenn du bei uns alles gelernt hast, was zu einem tüchtigen Haushalt gehört. Nicht wahr? Das willst du doch?«
Leidenschaftlich umschlang sie die Tante und versicherte mit Tränen in den Augen, daß das ihre schönste Aufgabe sein sollte.
»So, nun geh, sei wieder unsere muntere, lustige Eva und laß dich die Sorge, ob du deines Vaters wirkliches Kind oder nur sein Pflegekind bist, nicht anfechten. Du bist doch überzeugt, daß er dich ebenso lieb hat, als ob du sein eigenes wärst?«
»Ja, das weiß ich«, sagte Eva überzeugt, »aber ich wüßte doch gern, woher ich stamme.«
»Das hat der Vater uns auch nicht gesagt. Laß dir darum keine grauen Haare wachsen. Nun fange keine Grillen, geh in den Garten mit Gretchen und pflücke Himbeeren, du weißt, wir wollen heute Saft einkochen.«
Eva ging, rief Gretchen, die in der Küche war, den Wunsch der Mutter zu, worauf diese zurückrief, Eva solle immer in den Garten gehen, sie werde gleich folgen und Körbe mitbringen.
Eva setzte sich unten in die Laube und sah träumerisch vor sich hin. Sie mußte immer wieder an das denken, was sie seit gestern bewegte. Sie hatte sich bis jetzt so glücklich gefühlt in dieser liebenswürdigen Familie, so ganz dazugehörig. Nun kam der älteste Sohn und machte einen so gewaltigen Unterschied zwischen ihr und seinen Geschwistern, und dazu hörte sie, daß er energisch gegen ihr Kommen protestiert hatte. Und warum? Natürlich weil er wußte, daß sie ein Findling war, er mißachtete sie, hielt sie nicht der Beachtung wert. Nun, sie hatte auch ihren Stolz, sie wollte auch steif und zurückhaltend sein. Wenn sie es nur fertig brächte!
Doch da kam Gretchen. Nun ging es in die Himbeer- und Johannisbeerbüsche, und als des Pflückens genug war, setzte man sich in die Jasminlaube, und unter fröhlichem Geplauder ging das Abstreifen der Früchte vor sich. Es lag nicht in Evas Natur, lange um etwas zu sorgen, die Munterkeit brach bald durch, ihr silberhelles Lachen klang durch den Garten.
Da kam plötzlich von unten her über die Wiesen eine Gestalt, sie schwang sich kühn über den Zaun und schritt geradewegs auf die Mädchen zu.
»Ich dachte mir doch, daß die Jugend hier sein müsse«, rief Herr Hemsing freundlich und streckte den Mädchen die Hand entgegen. »Das fröhliche Lachen tönt weit hin über die Wiesen.« Eva errötete und sagte: »Gretchen erzählte eine so lustige Geschichte, da mußte man lachen. Kommen Sie schon aus Langendorf, Herr Hemsing? Und über die Wiesen? Ist Ihnen das nicht verleidet worden mit uns an jenem Abend?«
»Nein, ich wollte einmal diesen Weg bei Tage gehen und ihn gründlich untersuchen, damit, wenn die jungen Damen ihn wieder einmal bei Nacht und Nebel zum Nachhausegehen wählen, ich genau weiß, wo die Wasserlöcher sind.«
»O, Herr Hemsing, nun necken Sie uns wieder mit dem Wiesenweg. Sie konnten sich wieder den Fuß brechen, jetzt eben, beim Klettern über den Zaun«, warnte Gretchen.
»Dann müßte Herr Hemsing wieder hier bleiben, wie damals im Winter«, rief Eva.
»Haben Sie von der Geschichte auch schon gehört, Fräulein Eva?«
»Natürlich«, rief Eva fröhlich. »Gretchen erzählte mir alles.«
So ging die Unterhaltung noch ein Weilchen fort. Man merkte nicht, daß ein Zuhörer da war. Hinter der Laube, in dem Weg, der an den Gemüsebeeten entlang führte, stand Christian, der zum ersten Male Eva in ihrer Fröhlichkeit und Unbefangenheit reden hörte. Welch ein angenehmes Organ, welch ein anziehendes Lachen, man wurde selbst ganz fröhlich dabei. Und welch ein harmloser Verkehr mit seinem Freund, dem Pastorensohn aus Langendorf. Doch dieser kam ja nicht der Mädchen wegen; er hatte gewiß die Absicht, ihm, der vor wenigen Tagen bei ihm war, einen Gegenbesuch zu machen.
Er kam also zum Vorschein und betrat die Laube.
»Sieh, da bist du ja, alter Freund«, rief Hemsing, »ich wollte dich eben auf deiner Bude besuchen.«
»Die Herren können auch im Garten bleiben, es ist ja draußen viel schöner als drinnen.«
»Da hat Fräulein Gretchen recht«, rief Hemsing. »Wenn die Damen es erlauben, setzen wir uns ihnen gegenüber auf diese Bank. Nun, Christian, alter Junge, wie sieht's in der Residenz aus? In diesen Monaten muß ich wieder zurück zum zweiten Examen.« Christian erzählte, daß er das bereits hinter sich haben nun aber noch seinen Doktor zu machen beabsichtige. Bald waren die Herren in ein gelehrtes Gespräch vertieft, die Mädchen hörten still zu und streiften dabei Johannisbeeren ab.
Als sie damit fertig waren, standen sie auf und wollten fortgehen, es gab in der Küche viel zu tun. Gleich sprang Herr Hemsing auf und nahm Gretchen die Schüssel ab. Da trat auch Christian herzu, machte eine kleine Verbeugung vor Eva und streckte die Hand nach ihrer Schüssel aus.
Da sagte sie mit einem stolzen Neigen des Kopfes: »Danke sehr, ich kann meine Beeren allein tragen.«
Er sah sie verwundert an, das war ja ein ganz anderer Ton, ein ganz anderes Verhalten, als sie es eben seinem Freund Hemsing gegenüber gezeigt. Es wollte sich ein klein wenig Eifersucht in seinem Herzen regen. Während Gretchen und Hemsing plaudernd vorangingen, schritten diese beiden stumm nebeneinander her, so daß Hemsing sich ganz verwundert umsah und rief:
»Ich dachte schon, wir hätten Sie beide verloren, man hört ja keinen Ton. Fräulein Eva, Sie, die allezeit Redelustige, sind ja ganz verstummt?«
»Ich muß aufmerken, daß ich meine Johannisbeeren nicht verliere«, war die Antwort.
»Nun, ihr Mädchen«, rief Frau Maria, als sie sich dem Hause näherten, »es währt ja heute sehr lange mit eurer Arbeit. Schnell, schnell in die Küche, es ist höchste Zeit.«
Gretchen, die sich schnell die von Herrn Hemsing getragenen Beeren geben ließ, ging mit Eva eilfertig ins Haus, die Mutter folgte ihnen, nachdem sie einige freundliche Worte mit Herrn Hemsing gewechselt hatte, und die Herren gingen miteinander in Christians Zimmer.
»Du scheinst hier im Hause schon sehr bekannt geworden zu sein«, redete Christian den Freund an.
»Nun, wenn man 14 Tage mit einem gebrochenen Fuß in dem gastfreien Dunker'schen Hause liegt und täglich liebevolle Aufwartung und Pflege genießt, da wird man doch eine Art Hausfreund. Deine Brüder, Christian, sind famose Jungen, wie haben sie für mich gesorgt. Deine Eltern sind prächtige Vorbilder eines echt christlichen Hauses und die Töchter« –
»Nun, die Töchter?« fragte Christian und sah ihn gespannt an.
Hemsing errötete leicht und fügte hinzu: »Die Töchter sind in jeder Beziehung wohlerzogene Mädchen. Aber jetzt habt ihr ja ein reizendes Käferchen im Hause. Diese Eva hat einen Liebreiz, hat etwas so Anziehendes in ihrem ganzen Wesen« –
»Nun, du schwärmst wohl schon für sie, wie mir scheint.«
»Wem das Mädchen nicht gefällt, der müßte ein wahrer Stockfisch sein. Nimm mir's nicht übel, Christian, du kommst mir wie ein Stockfisch ihr gegenüber vor. Das arme Kind verstummte ja sofort, als du anrücktest.«
»Danke für das Kompliment, Hemsing. Nun laß uns nur etwas Vernünftiges reden.«
Es blieb etwas von dem, was der Freund gesagt, in Christians Gemüt zurück. Er hatte wohl nicht so ganz Unrecht. Mußte er wohl ein wenig einlenken? Er wollte sich Mühe geben, Mutter hatte ihn auch schon ermahnt.
Bisher hatte er zu sehr den Wissenschaften gelebt, über Erfindungen auf dem Gebiet der Chemie nachgegrübelt, aber weniger über sein Verhalten jungen Damen gegenüber. Aber, wie dem auch sei, verfahren war es nun einmal. Ein steifer, förmlicher Verkehr blieb, es ließ sich schwer ändern.
An demselben Abend lustwandelten die Mädchen miteinander im Garten. Sie waren den ganzen Nachmittag in der Küche gewesen, mit Einkochen der Früchte beschäftigt. Eva hatte sich alles wohl gemerkt und freute sich schon, wie sie im nächsten Jahr ihrem lieben Vater alles so schön machen wollte, wie Frau Maria es sie gelehrt.
Da stand Lieschen wieder am Zaun und rief die Mädchen.
»Wo steckt ihr nur heute, man sieht euch gar nicht.«
Sie erzählten von dem, was sie vorgehabt, worauf Lieschen berichtete, sie würde nun einen Kursus in einer Haushaltungsschule durchmachen, da lerne man alles besser als daheim. Man lerne Cremes bereiten, feine Torten und Törtchen backen, man lerne Speisen garnieren, Sülzen und Mayonnaisen machen, und was nicht alles. Ihre Mutter habe gesagt, Delikatessen könne sie deswegen zu Hause nicht auftischen, damit sie es lerne und die Jungen es wegäßen, aber es sei gut, wenn man alles wisse und könne. »Ein Kursus ist gar nicht so teuer, Gretchen, bitte doch deine Mutter, daß sie es erlaubt, dann könnten wir drei miteinander gehen.«
Gretchen, der der Mund ganz wässerig geworden war nach allen schönen Dingen, die Lieschen hergezählt hatte, bekam Lust, die Mutter zu fragen, auch Eva war nicht abgeneigt und malte es sich schön aus, wie sie ihr Väterchen bald mit dieser, bald mit jener Delikatesse überraschen wolle. Sie wußten nur beide nicht, was die Mutter dazu sagen würde.
Frau Maria wies die Sache zunächst ganz von sich; je mehr sie aber darüber nachdachte, meinte sie, schaden könne es nicht, wenn die Mädchen auch solche Sachen bereiten lernten, welche in einem gut bürgerlichen Haushalt wenig oder gar nicht vorkämen. Man könne nicht wissen, in welche Lebensverhältnisse sie einmal kommen könnten. Sie wollte jedenfalls die Sache mit ihrem Mann besprechen.
Der Vater war ganz dagegen. »Wenn die Mädchen nur das lernen, was du kannst, liebe Maria, und du kannst außer dem Gewöhnlichen auch vieles Außergewöhnliches, dann wollen wir zufrieden sein. Die Hauptsache ist doch, daß sie tüchtige, ordentliche Hausfrauen werden, was liegt daran, ob sie all' die Kinkerlitzchen verstehen, ob sie Torten und Cremes backen können, wenn sie die Fische versalzen.«
»Aber Vater, das ist doch einmal gewesen, im Anfang! Eva hat sich nachher viel Mühe gegeben und kocht schon ganz nett.«
»Ich nehme das letzte, was ich gesagt habe, zurück«, sagte der Vater reuig, denn im Grunde hatte er Eva sehr gern und ließ nichts auf sie kommen.
»Wir wollen die Sache überlegen«, meinte Frau Maria nachdenklich. »Ich habe die Haushaltungsschule sehr rühmen hören, ein vierwöchentlicher Kursus könnte den jungen Mädchen nicht schaden, eben weil ihnen mehr in die Hände kommt als in unserem einfachen Haushalt. Jedenfalls werde ich Herrn Belzer anfragen, wie er über die Sache denkt.«
»Hoffentlich gerade wie ich.«
Herr Belzer dachte aber wie Frau Maria und gab gern seine Einwilligung auch deshalb, weil theoretischer Unterricht damit verbunden war. Auch schrieb er, daß es gewiß sehr anregend für die jungen Mädchen sein würde, mit vielen gemeinsam das Kochen und das Kochstudium zu betreiben.
»Wenn nur die jungen Damen danach sind«, sagte Herr Dunker kopfschüttelnd. Aber er mußte sich darein ergeben und es gehen lassen.
Anfang August begann ein neuer Kursus. Bis dahin wurde fleißig Englisch getrieben, denn Tante Alice begnügte sich nicht nur damit, mit den jungen Mädchen zu lesen, sie gab ihnen auch schriftliche Arbeiten, um sie zu fördern. Es war ihr nicht recht, daß die Stunden einige Wochen ausfallen mußten. Die jungen Mädchen bedauerten dies einerseits auch, sie waren gern bei der englischen Tante und schwärmten ein wenig für sie. Als sie das letzte Mal bei ihr waren, hatte sie ein krankes Hühnchen bei sich in der Stube. Es lag in einem Korb, von dem der Henkel abgebrochen war. In dem Korb lagen kleine Betten und Deckchen, und das Huhn, das ein Beinchen gebrochen, schaute so behaglich aus seinem wolligen Lager und ließ sich die sorgsame Pflege mit guter Milch und Gerstenkörnern wohl gefallen.
»Ein Entlein hatte ich auch schon einmal in Pflege. Das kennt mich heut noch und watschelt auf mich zu, wenn es mich sieht«, sagte die Tante.
»Ja, dich haben Menschen und Tiere lieb«, äußerte Eva bedauernd.
»Aber die Tiere sind treuer in ihrer Freundschaft«, behauptete die Tante.
Der Rückweg von Langendorf wurde selbstverständlich nicht wieder am Fluß entlang genommen, man wählte stets die Landstraße und konnte immer darauf rechnen, in Rotenau die beiden ritterlichen Schüler Georg und Heinz zu finden, welche den Mädchen regelmäßig dorthin entgegen kamen und sie sicher heimgeleiteten.
Heute sah es sehr gewitterschwül aus, darum hatte Tante Alice die Mädchen etwas früher gehen lassen mit dem Bescheid, wenn der August mit dem Kochstudium glücklich vorüber sei, sich im September wieder regelmäßig zur englischen Stunde einzustellen.
»Wir besuchen dich einmal so und erzählen dir von allem, Tante Alice«, hieß es beim Abschied.
»Gretchen, wir haben heute wieder ein Abenteuer. Sieh nur den Himmel, in der Ferne grollt es schon«, äußerte Eva bedenklich.
Gretchen hatte schon Umschau gehalten und antwortete beklommen: »Wir wollen nur schnell eilen, um bis Rotenau zu kommen, ich hoffe bestimmt, die Brüder sind da mit den Schirmen.«
Sie schritten schnell aus, doch kurz vor dem Dorf kamen schon einige große Regentropfen, Blitze zuckten und der Donner rollte laut und gewaltig.
Da nahten die Brüder mit großen Schirmen und Regenmänteln bewaffnet. Christian schlang einen Mantel um Eva, während Georg seine Schwester bediente.
Eva, in der Meinung, es sei Georg, der ihr half, rief in ihrer frischen Weise: »Wir wußten es ja, daß ihr uns nicht im Stich lassen würdet, ihr guten Jungen.«
Christian, der seinen Hut tief ins Gesicht gedrückt hatte und einen weiten Regenrock seines Vaters um hatte, schmunzelte heimlich, zog fest Evas Arm unter den seinen und schritt mächtig mit ihr aus. Zum Sprechen war jetzt keine Zeit und keine Veranlassung. Es hieß: Vorwärts, so schnell wie möglich.
Nun hatten sie die Stadt erreicht, der Regen ließ nach, auch das Gewitter verzog sich allmählich. Da rief Georg, der mit Gretchen hinter den beiden ging: »Christian, du hast aber einen riesigen Schritt gefaßt, Eva kann ja kaum mitkommen.«
Bei Benennung von Christians Namen zuckte Eva zusammen. Schnell zog sie den Arm aus dem seinigen, und sah ihn an. Sein Gesicht konnte sie nicht wahrnehmen, das steckte tief unter dem Hut, aber nun merkte sie doch, daß der Herr, der sie führte, etwas länger war, als Georg, obwohl dieser in letzter Zeit auch sehr gewachsen war.
»Nun?« sagte Christian, »Sie sind wohl mit meiner Führung unzufrieden, weil Sie so schnell Ihren Arm aus dem meinen ziehen?«
»Entschuldigen Sie nur, Herr Dunker, ich ahnte nicht, daß Sie es waren, sonst hätte ich Ihre Begleitung überhaupt nicht angenommen.«
»Warum denn nicht?« fragte Christian verwundert.
»Weil – nun – weil ich Ihnen ein Dorn im Auge bin.«
»Ein Dorn im Auge? Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Gertrud hat mir alles gesagt. Sie hat mir erzählt, daß Sie es durchaus nicht gewollt haben, daß ich in Ihrer Eltern Haus käme, daß Sie sehr unzufrieden gewesen sind, weil es doch geschehen. Ich habe es den ersten Abend gleich gemerkt und kann mir den Grund denken. Nun, das Jahr geht schnell zu Ende, dann sind Sie mich wieder los.«
»Das dumme Mädchen«, rief Christian erregt, »was hat das Kind zu schwatzen von Sachen, die es nicht versteht. Sie sagten, Sie wüßten den Grund meines sonderbaren Benehmens, dürfte ich den vielleicht erfahren?«
»Sie haben natürlich von Ihren Eltern gehört, daß ich nicht Herrn Rechtsanwalt Belzers eigenes Kind bin, sondern ein angenommenes, ein armes, heimatloses Kind, das seine Eltern nie gekannt hat, das nur von der barmherzigen Liebe guter Menschen gelebt hat und noch lebt.«
Ganz erstaunt blieb er stehen und rief: »Davon weiß ich nichts, gar nichts. Sie müssen mich für sehr hartherzig halten, wenn Sie meinen, daß ich deshalb steif und zurückhaltend gewesen bin. Es liegt einzig und allein in meiner Natur, die von der Ihrigen sehr verschieden ist. Wenn ich Sie durch mein Verhalten gekränkt habe, bitte ich sehr um Entschuldigung.«
Sie antwortete nicht darauf, sondern schritt durch die offene Haustür, durch welche die beiden Geschwister vor ihnen eingetreten waren und sich eben der nassen Sachen entledigten.
»Puh, das war aber ein Wetter, gut, daß es so schnell vorüberging«, sagte Georg, sprang auf Eva zu und nahm ihr den triefenden Regenmantel ab. Den Schirm hatte Christian zum Trocknen aufgespannt und war, so schnell er konnte, nach oben entschwunden.
Gretchen umschlang Eva mit den Worten: »Es war recht von Christian, daß er dich führte. Er ist im Grunde nicht so schlimm, wie es mitunter den Anschein hat. Ich freue mich, daß er sich überwunden hat.«
»Es hat allerdings wohl große Überwindung gekostet. Jedenfalls hatte er sich in der Eile, als der Regen so gewaltsam losplatzte, versehen und hat mich statt dich erwischt. Und ich glaubte, es sei Georg!«
Damit ging auch sie nach oben in ihr Stübchen, um sich trockene Füße zu machen.
Am Abend fiel es Eva auf, daß Christian ziemlich unfreundlich gegen Gertrud war.
»Ich weiß gar nicht, was du hast, Christian, du bist so eklig gegen mich, und dabei ist heute der letzte Abend. Was habe ich dir getan?«
»Das laß dir nur von Fräulein Eva sagen!«
»Weißt du es, Eva?« Sie lief zu ihr und sah sie fragend an. Eva schwieg.
»Na komm her, Trude, es ist gut«, sagte Christian. »Morgen bin ich nicht mehr hier, da wollen wir heute noch gute Freunde sein.«
»Ja, morgen bist du nicht mehr hier, und dann währet es sehr lange, bis du wieder kommst. Da mußt du mich heute noch recht liebhaben.« Sie stand schon wieder bei ihm und streichelte ihm die Wangen. Er schlang den Arm um sie und liebkoste sie.
Also morgen verließ Christian das Elternhaus. Eva hatte noch nichts davon gehört. Dann würde es wieder wie vordem sein, freute sie sich darüber? Eigentlich sollte sie wohl.
Jetzt kamen die Eltern. Sie hatten mit Sorgen an die Mädchen gedacht und waren froh, daß sie wohlbehalten im Hause waren. Es wurde zu Abend gegessen und dabei viel von Christians Abreise gesprochen.
»So Gott will, sehen wir dich zu Weihnachten wieder«, sagte die Mutter.
»Und mit dem Doktorhut!« fügte Gretchen hinzu.
»Wer weiß, ob das was wird«, seufzte Christian.
»Ob ich zu Weihnachten überhaupt komme, ist ganz unsicher.«
Bei der Abendandacht wurde das bekannte Abschiedslied gesungen, der Vater betete für den Sohn, der wieder in die Fremde zog und befahl ihn dem Schutze Gottes.
Eva hatte schon Gute Nacht gesagt und war eben zur Tür hinausgegangen, weil sie das Gefühl hatte, die Eltern möchten mit dem Sohne gern noch allein sein. Da kam Christian ihr nach, streckte ihr die Hand entgegen und sagte:
»Wir wollen doch nicht als Feinde voneinander gehen. Ich sehe ein, daß mein Benehmen gegen Sie ein ungeschicktes war. Verzeihen Sie mir?«
»Liegt Ihnen wirklich etwas daran?«
Er sah ihr mit dem treuherzigen Blick, der ihm eigen war, in die Augen und sagte mit Wärme: »Ja, es liegt mir daran. Seien Sie mir nicht böse.«
Da schlug sie ein in die dargebotene Rechte und sagte: »Nein, ich bin Ihnen nicht böse. Leben Sie wohl und lassen Sie es sich gut gehen.«