Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am anderen Morgen gab es einen großen Rummel im Dunkerschen Hause. Rieke, Gretchen und Eva waren in den oberen Räumen so geschäftig, daß sie das Klingeln an der Haustür überhörten. Ein junger Herr mit einem sehr frohen Gesicht kam in die Tür, hörte wohl das Rummeln da oben, wunderte sich aber über die Stille unten im Hause. Er mußte sehr bekannt sein, er guckte in alle Stuben, und da er niemand fand, wagte er sich bis in die Küche. Da stand Frau Maria am Herd, eifrig mit Kochen beschäftigt.
»Hier wird zu Mittag Besuch erwartet«, dachte der junge Mann, »da darfst du nicht lange stören.« »Frau Dunker, ich merke, ich komme zu ungelegener Zeit.«
»Sie sind's, Herr Hemsing! Ja, heute müssen Sie uns alle entschuldigen, wir sind in großer Arbeit.«
»Wollte nur melden, daß ich mein Examen glücklich bestanden habe.«
Da konnte Frau Maria doch nicht anders, sie mußte sich vom Herd losmachen und ihm mit herzlichen Worten gratulieren. »Leider kann ich nicht bitten, näher zu kommen, wir haben Mittagsgäste.«
»Ich will nicht stören, hatte sonst vor, etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.«
»Vielleicht ein anderes Mal. Sie wissen, ich bin gern bereit, guten Rat zu erteilen oder mit sonst etwas behilflich zu sein. Heute jedoch sind meine Gedanken ganz erfüllt von dem traurigen Schicksal unserer Nachbarn.«
»Wieso?« fragte er teilnehmend, »hat sich dort etwas Trauriges ereignet?«
»Haben Sie noch nicht gehört, wovon die ganze Stadt spricht?« Mit wenigen Worten teilte sie ihm mit, was geschehen war und wie sie sich entschlossen hätten, die arme Frau mit den Kindern für die erste Zeit bei sich aufzunehmen, bis sich ein Ausweg gefunden.
»Immer bereit, den Hilflosen beizustehen! Gottes Segen wird über Ihr Haus kommen, nein, es ist schon eine gesegnete Heimstätte für alle.«
»Wir sind dankbar, daß wir es können. Wenn wir kein eigenes Haus hätten, wäre es ja unmöglich.«
»Kann uns nicht jemand helfen? Sind die Brüder da?« rief eine Stimme von oben.
Mit einem Satze war Hemsing oben. »Die Brüder sind noch nicht da, aber einer, der gerne hilft, wenn er helfen darf.«
»Sie dürfen schon«, erwiderte Gretchen errötend. »Ich glaubte, es seien die Brüder. Wir bringen den kleinen Schrank nicht allein von der Kammer in die Stube.«
»Das wollt' ich meinen, dazu gehören männliche Kräfte. Kommen Sie, Rieke, Sie sind stark, wir beide wollen einmal unser Heil versuchen.«
Und siehe da, jetzt ging es vortrefflich.
»Ja, was ein Mann ist, das merkt man gleich«, schmunzelte Rieke.
»Das denk' ich auch, Rieke. Gibt's noch etwas?«
»Ja, wenn Herr Hemsing mir noch bei der Kommode helfen will, die bringen die Fräuleins auch nicht fort.«
»So, nun dank ich schön.« Gretchen dankte auch und Hemsing sagte: »Nun will ich eilen fortzukommen, ich habe schon gemerkt, daß ich hier überall im Wege bin.«
»Im Gegenteil«, rief Eva, »Sie haben uns ja geholfen.«
»Wie kommen Sie überhaupt nach Langendorf?« fragte Gretchen. »Bleiben Sie längere Zeit dort?«
»Ja, fürs erste.« Indem er die Treppe hinabeilte, rief er: »Ich habe nämlich mein Examen glücklich bestanden.«
»O, dann gratulieren wir!« riefen beide Mädchen die Treppe hinunter. Doch die Haustür klingelte schon, er hatte es wohl gar nicht mehr gehört.
Nun wurde die Stube für Frau Kramer und Lieschen instandgesetzt. Als alles fertig war, sagte Eva: »Wie traulich und gemütlich ist es hier oben, es wird Frau Kramer gewiß gefallen. Wie traurig muß es sein alles zu verlieren, nichts mehr sein eigen nennen zu können.«
»Welche Freude wohl heute in Langendorf herrschen wird, da der Sohn sein Examen gemacht hat!« antwortete Gretchen. Sie war nicht ganz bei der Sache.
»Nun müssen wir Rieke helfen in den Kammern für die Jungen.«
»Die werden nur ganz einfach hergerichtet«, meinte Gretchen. »Einige Betten bringen sie mit. Eva, wie glücklich und stolz wohl Tante Alice ist auf ihren Neffen.«
»Du scheinst plötzlich mehr in Langendorf zu sein als hier, Gretel.«
Rieke wurde nach unten gerufen, und die beiden Mädchen vollendeten die ihnen übertragene Arbeit. Dann gingen sie hinunter, den Tisch zu decken, zu Mittag wurde die ganze Familie erwartet. Als sie unten im Hause waren, hörten sie draußen ein lautes Klopfen. Es kam vom Garten her. Eva, die sehen wollte, was es sei, kam verwundert herein und sagte: »Die Jungen hantieren mit der Gartenpforte herum, ich hörte, wie einer zum anderen sagte: ›Die Mutter mag nicht über die Straße gehen, sie will durch die Gartenpforte schlüpfen.‹«
Frau Maria war bewegt, als sie dies vernahm. »Die Feindschaft hat ein Ende, der Durchgang ist wieder frei«, sagte sie leise. Eigene Gedanken bewegten sie. Wie traurig hatte es sie berührt, als vor Jahren die Tür mit einem großen Brett verrammelt wurde, aber wie wenig ahnte sie damals, daß eine arme, unglückliche Frau sie wieder öffnen lassen würde, um ungesehen ins Nachbarhaus schlüpfen zu können. Sie wollte der Schande vor den Leuten entgehen. Da kam sie schon, die arme Frau, gedrückt und traurig durch die Gartenpforte, die früher immer Freundschaftspforte genannt worden war. Frau Maria empfing sie mit der ihr eigenen Freundlichkeit, die der wahren Liebe entspringt, und führte sie nach oben in das für sie hergerichtete Zimmer. Eine wohltuende Wärme empfing sie. Sie ließ sich auf einen am Fenster stehenden Lehnstuhl nieder und rief schluchzend: »Ich danke Ihnen, Frau Dunker, Sie sammeln feurige Kohlen auf mein Haupt.«
»Sagen Sie das nicht, liebe Frau Kramer. Einer trage des anderen Last; kann ich Ihnen die schwere Bürde etwas leichter machen, so bin ich froh und dankbar.«
Lieschen ging still und bedrückt einher und versuchte den Mädchen zu helfen. Ihr Plappermäulchen, das fast nie still stand, war jetzt fast ganz verstummt, und die Jungen drückten sich verlegen herum. Es war ein harter Schlag über die ganze Familie gekommen, besonders Frau Kramer hatte manches schwere Verhör zu bestehen, ehe man sich gerichtlich überzeugt glaubte, daß sie nichts von der Flucht ihres Mannes geahnt hatte. Das Haus, mit allem, was darin war, wurde gerichtlich versiegelt, ihr gehörte nichts mehr davon. Was nun beginnen? Das war die Frage, die der Frau zunächst oblag, denn das stand fest bei ihr, daß sie die Gastfreundschaft der hochherzigen Familie nicht lange in Anspruch nehmen dürfe.
Herr und Frau Dunker überlegten mit ihr hin und her. An einen Bruder ihres Mannes, der in guten Verhältnissen lebte und keine Kinder hatte, hatte sie geschrieben und ihm ihr Elend geschildert. Dorther kam ein Brief, der wesentlich zur Erleichterung beitrug. Er erbot sich, zwei Knaben in sein Haus zu nehmen und für ihre Erziehung zu sorgen. So blieben denn nur die beiden jüngsten, Reinhold und Friedrich. Sie selbst war früher vor ihrer Verheiratung Buchhalterin gewesen in einem größeren Geschäft, als solche dachte sie, wenn sie alles wieder auffrischte, mit ihren beiden jüngsten Söhnen sich durchzuschlagen in einer Stadt, wo die Buchhalterinnen gut gestellt waren. Als sie diesen Plan der Frau Dunker unterbreitete, fand diese ihn sehr annehmbar, erbot sich, mit ihr nach L. zu fahren, wo sie eine Cousine hatte, die sie für Frau Kramer interessieren wollte.
So reisten die beiden Frauen eines Tages ab und kamen am folgenden Tage erleichtert wieder. Frau Marias Cousine, eine alleinstehende, wohlhabende Dame, die auch das Herz auf dem rechten Fleck hatte, war von Mitleid ergriffen gewesen, als sie von dem Unglück der Frau Kramer gehört hatte. Sie hatte ein Weilchen überlegt und dann gesagt: »Ich habe eine größere Wohnung als ich brauche und habe schon oft die Einsamkeit schmerzlich empfunden. Ich will Frau Kramer umsonst bei mir aufnehmen, und wenn ihre Tochter, wie ich höre, gut kochen kann, so mag sie bei mir als Stütze eintreten, ich gebe ihr außer freier Station etwas Gehalt. Aber die beiden Knaben kann ich nicht übernehmen.«
Dies Anerbieten war so köstlich, daß es nicht von der Hand gewiesen werden konnte. Man mußte versuchen, auch diese bei guten Menschen unterzubringen.
Herr Dunker reiste darum auch in dieser Angelegenheit nach L., wo er mehrere Freunde hatte, die ihm von einer billigen Pension sagen konnten. Frau Kramer hoffte nämlich, wenn sich für sie eine gute Stelle gefunden, ein Pensionsgeld für die beiden Jüngsten erschwingen zu können. Eine Lehrerfamilie fand sich bereit, die beiden aufzunehmen, während Herr Dunker sich verpflichtete, für das erste Jahr durch Sammlungen bei guten Freunden für das Pensionsgeld aufzukommen, bis Frau Kramers Verhältnisse sich etwas geklärt haben würden.
Es war Anfang Dezember, eine gute Zeit, um in Geschäften Anstellung zu finden. So war es Frau Kramer gelungen, durch frühere, sehr gute Zeugnisse in einem Hauptgeschäft, in einem großen Warenhaus als Buchhalterin erster Klasse engagiert zu werden. Die beiden größeren Söhne waren bereits abgereist zu dem Onkel, sie, Lieschen und die jüngsten hatte ihre Koffer gepackt und wollten den andern Morgen mit dem ersten Zug nach L. abdampfen.
Der letzte Abend war gekommen. Wieder ein Abschied von den Leuten des Nachbarhauses. Aber wie ganz anders, als vor Jahren, wo die Trennungsstunde schlug von den inniggeliebten Geschwistern. Diese gingen einer fröhlichen Zukunft entgegen, während hier eine Familie, durch die Sünde ihres Oberhauptes zerrissen und getrennt, wandern mußte, und eine unglückliche Frau, die von der Barmherzigkeit guter Menschen abhing, einer ungewissen Zukunft entgegenging.
Frau Kramer erging sich, als sie den letzten Abend mit Frau Maria allein saß, in Selbstanklagen. Sie beweinte ihren Hochmut, ihre Verschwendung, ihre Putzsucht und rief ein über das andere Mal aus:
»Wenn ich doch jetzt das unnütz verausgabte Geld hätte, wie glücklich wollte ich sein.« Auch wegen der schlechten Kindererziehung klagte sie sich an, daß sie zu den Unarten der Knaben nicht scheel gesehen, daß sie sie sich selbst überlassen habe, wenn sie abends im Theater oder in Gesellschaften gewesen, daß sie die einzige Tochter nicht zur Einfachheit erzogen, sondern die Eitelkeit und Gefallsucht in ihr genährt habe.
»Sagen Sie mir das eine, Frau Dunker, wie haben Sie es angefangen, aus Ihren Kindern das zu machen, was sie sind. Ich wollte, ich wüßte das Geheimnis.«
»Es ist kein Geheimnis, liebe Frau Kramer. Mein Mann und ich, wir haben unser Haus auf christlichem Grund erbaut. Das ist ein fester und sicherer Grund. Wir suchen unser Leben nach Gottes Wort, nach den Lehren unseres Heilandes einzurichten. Der Glaube an Ihn macht's, daß wir unser Tagewerk fröhlich treiben, und die tägliche Bitte um Seine Hilfe läßt alles wohlgelingen. Darum sei es ferne, uns zu rühmen, wir dürfen den Erfolg bei unserer Arbeit uns nicht selber zuschreiben, sondern müssen dem die Ehre geben, dem sie gebührt.«
»Davon verstehe ich so wenig, ich wollte, ich wäre wie Sie.«
»In mir ist viel Schwachheit und Unvollkommenheit. Halten Sie sich täglich an Gottes Wort. Einen besseren Rat kann ich Ihnen nicht geben. Sie sollen sehen, das gibt Ihnen Kraft und Stärke, macht Sie tüchtig zu allem, was Sie unternehmen. Vor allen Dingen gibt es Ihrer Seele inneren Frieden in aller Not dieses Lebens.«
So sprach Frau Maria zu der schwer geprüften Frau, redete ihr Trost und Mut zu, so daß sie mit guten Vorsätzen in die unbekannte Zukunft hineinging. Die drei Mädchen, die im Nebenzimmer saßen, waren auch ernst gestimmt, versprachen einander zu schreiben und von nun an gute Freunde zu bleiben.
Dann kam Herr Dunker mit den Knaben, die er bei sich in seinem Zimmer gehabt, wo er sie treu und ernst ermahnt hatte, sich gut zu halten in der Pension, gehorsam und fleißig zu sein und ihrer Mutter, die es so schwer habe, Freude zu machen. Sie hatten alles Gute versprochen, das traurige Ereignis schien Eindruck auf sie gemacht zu haben.
Am nächsten Morgen hielten Dunkers mit den Abreisenden eine gemeinsame Morgenandacht. Dann sangen sie miteinander:
Gib uns, Herr, in allen Dingen,
Daß wir unser Amt und Werk
Wohl anfangen und vollbringen,
Gib uns Weisheit, Kraft und Stärk'.
Ohne Deine Hilf und Gunst
Ist all' unser Tun umsonst.
Hilf uns, Herr, in allen Dingen
Und laß alles wohlgelingen.
Dann folgte ein tränenreicher Abschied. Der Zug nahm die Nachbarn auf und führte sie einer ungewissen Zukunft entgegen.
Alle früheren Bekannten von Kramers, die in gesellschaftlichen Beziehungen zu ihnen gestanden, hatten sich von ihnen gewendet, als es keine Ehre mehr war, mit ihnen zu verkehren. Nur die Nachbarn, die oft von ihnen über die Achsel angesehen worden waren, denen gegenüber sie sich feindlich erwiesen, hatten sich ihrer Not erbarmt und das Wort zur Wahrheit gemacht: »Liebet eure Feinde.«