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4. Die neuen Nachbarn

»So, nun sind wir nur fünf, sechs weniger als sonst«, sagte der zehnjährige Georg, als sie hinter den Eltern herschritten auf dem Nachhauseweg zum Bahnhof. »Jetzt wird das Spielen lange nicht mehr so gut gehen.«

»Bitte, mich überhaupt vom Mitspielen auszuschließen, ich habe euch zu Gefallen beim Soldatenspiel mitunter den Hauptmann gemacht, jetzt habe ich stramm zu arbeiten, dergleichen Sachen passen nicht mehr für mich.« Bei diesen Worten richtete sich der Sekundaner Christian hoch auf und schritt würdig voran, während Heinrich, gewöhnlich Heinz genannt, seinem Bruder Georg zuflüsterte: »Er wird schon noch manchmal mittun, es gefällt ihm doch gar zu sehr, uns zu befehlen.«

»Aber wir beide wollen auch keine Soldaten mehr sein«, erklärte die zwölfjährige Margarete. »Nicht wahr, Trude, wir machen uns lieber mit unseren Puppen zu tun?«

»Aber sechs weniger, Gretchen! Die Vettern und Cousinen sind nun fort, dann bleiben ja nur Heinz und Georg mit sich allein!« ließ sich Trudchen vernehmen.

»O, es werden schon wieder Nachbarskinder kommen, vielleicht sind es lauter Jungen, da wird es schon wieder lebendig werden!«

So plauderten die Kinder, sich mit neuen Hoffnungen tröstend, während die Eltern still und bewegt nebeneinander hergingen. »So, liebe Maria«, sagte Herr Dunker nach längerem Schweigen, »nun geht alles wieder seinen gewohnten Gang, wir müssen uns jetzt ohne die Geschwister zurechtfinden, die Arbeit wird uns am besten darüber weghelfen. Ich gehe jetzt in die Stadt in mein Kontor, habe viele Briefe zu erledigen. Sieh, daß du die Kinder etwas bändigst jetzt in der langen Ferienzeit, den ganzen Tag dürfen sie nicht ohne Beschäftigung sein.«

Er ging und sie eilte, umringt von ihrer Schar, dem Hause zu.

»Was hast du vor, Christian?« redete sie ihren Ältesten an, als sie das Haus erreicht hatten.

»Ich gehe ein bißchen in meine Kammer und experimentiere, Muttchen.« Mit diesem Worte enteilte er nach oben, wo ihm eine besondere Kammer zu seinen Liebhabereien eingeräumt war. Hier gab es Fläschchen und Flaschen aller Art mit verschiedenen Flüssigkeiten, Gefäße und Tiegel zum Kochen und Versuchen. Es war den Eltern längst klar, daß Christian ein geborener Chemiker war, deshalb sollte er, wenn er sein Abiturium gemacht haben würde, sich frei entscheiden für das Studium, das ihn am meisten fesselte, wozu er die besten Anlagen zeigte.

»Ihr Mädchen«, fuhr die Mutter fort, »sollt mir Himbeeren und Johannisbeeren pflücken, lege deine Puppe jetzt weg, Gertrud, heute nachmittag kannst du wieder spielen. Und ihr beiden Wilden, Georg und Heinz, was macht ihr jetzt?«

»Wir helfen den Schwestern«, riefen sie wie aus einem Munde, »gebt nur Teller und Schüssel her, wir pflücken gerne mit.«

So war mit einem Schlage Ruhe im Hause. Die Mutter half Rieke beim Ordnen der Gastzimmer, das Haus war in den letzten Tagen etwas in Unordnung geraten, und Frau Maria war eine tüchtige Hausfrau, die am liebsten hatte, wenn alles um sie her funkelte und blitzte. –

Es mochten etwa 14 Tage vergangen sein nach dem eben Erzählten, da brachte Herr Dunker eines Tages die Nachricht aus der Stadt mit, Herr Rein, der Häusermakler, habe ihr liebes Nachbarhaus wirklich verkauft, und zwar an einen Fremden, der mit Weib und Kind herziehen werde. Er sei kürzlich selbst hier gewesen, um sich das Haus anzusehen, und habe den Kauf gleich beschlossen.

Nun gab es ein Staunen und Wundern, wer es wohl sein möge, was der Herr wäre, ob er viele Kinder habe usw.

»Mir soll alles recht sein, wenn's nur eine gute Nachbarschaft gibt, bin ich zufrieden«, erklärte Frau Maria.

Später, als Dunker wieder in die Stadt gegangen war, saß sie sinnend am Fenster. Sie überdachte alle die Jahre, die sie in Herzensgemeinschaft mit der Schwägerin verbracht hatte. Alles hatten sie miteinander beraten, über Kindererziehung, über geistige Interessen, über ihr Glaubensleben hatten sie sich ausgesprochen, Rezepte für die Küche einander mitgeteilt, geborgt hatte eine von der andern, wenn dies oder jenes im Haushalt fehlte. Wie schnell konnten sie durch die Gartenpforte zueinander schlüpfen! Ein so inniges Zusammenleben würde, ja könnte sich gar nicht mit einer Unbekannten anspinnen, sie wollte dankbar sein, wenn ihr Verhältnis zueinander sich aufrichtig und freundlich gestaltete. Man war sehr gespannt, wann die Fremdlinge in Sicht sein würden. Vorderhand kamen Handwerker ins Haus, die verschiedene Ausbesserungen vornahmen. Etliche Zimmer wurden tapeziert, ein neuer Herd gesetzt usw.

Eines Tages aber, es war die letzte Ferienwoche, stürzten Georg und Heinz zur Mutter, die in der Küche beschäftigt war, und riefen: »Mutter, sie kommen! Wir haben zwei große Möbelwagen gesehen, sie kommen die Bergstraße herauf.«

»Ruhig, Kinder, gemach! Nicht so stürmisch! Und wenn sie es wirklich sind, so haltet euch bescheiden im Hintergrund. Man darf sich bei fremden Leuten nicht aufdrängen, darf nicht neugierig sein.«

»Nein, Mutter, wir bleiben auf unserem Revier!«

Damit stürmten sie wieder fort. Frau Maria hörte das dumpfe, schwere Heranfahren der bereits angekündigten Möbelwagen. Jetzt hielten sie. Unwillkürlich legte sie ihre Hände zusammen und betete leise die Worte aus der vierten Bitte: »Herr Gott, gib uns getreue Nachbarn.«

Sie war eine fromme Seele, die das Wort: »Haltet an am Gebet« zu allen Zeiten festhielt. Bei allen Arbeiten, bei den verschiedensten Vorkommnissen im Leben, bei Freude und Leid, immer gedachte sie ihres Gottes, aus dessen Fülle sie täglich Gnade um Gnade nahm. Es wußte niemand von dieser ihrer inneren Gemeinschaft mit Gott; nur wer Sinn dafür hatte, konnte es spüren an dem immer zufriedenen, glücklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht, an ihrem ganzen Sein und Wesen.

»Na, nun sind ja unsere Nachbarn da!« rief der Hausherr, als er zu Tische kam. »Da scheint eine ganze Menge Jungengesellschaft beisammen zu sein, es tobte schon arg um die Wagen herum.«

»Ich glaube«, sagte Georg mit überlegener Miene, »sie werden nicht ganz zu uns passen.«

»Das ist die Strafe für eure Neugierde«, lachte Christian, »es ist euch schon recht.«

»Daß ihr ihnen nicht etwa mit gleichen Dingen dient«, warnte der Vater. »Ihr werdet euch, das hoffe ich, stets als gebildete, gut erzogene Knaben erweisen.«

»Sie warfen sich auch schon mit Steinen«, wagte Heinz zu berichten, in selbstgerechter Erkenntnis, welch ein tugendhafter Knabe er sei.

»Nun, nur still, mein Junge, wir sind auch nicht immer, wie wir sein sollten.«

Beschämt senkte Heinz die Augen. Er wußte wohl, daß er oft genug vom Pfade der Tugend abirrte und schon manches auf dem Kerbholz hatte.

Frau Maria sah ernst drein und schwieg. Sie hatte zufällig aus dem Fenster schon einige Beobachtungen gemacht.

»Ob wir den Leuten uns wohl nähern müßten in diesen Tagen?« begann sie nach einer Weile. »Sie sind nicht eingerichtet, sind hier fremd.«

»Es ist in der Stadt wohl nicht Sitte«, äußerte Dunker, »Doch tu', was du willst. Freundliche Begegnung macht immer einen guten Eindruck.«

Daraufhin wurde Rieke nach Tisch heruntergeschickt mit der Anfrage: ob Frau Dunker den Herrschaften mit irgend etwas behilflich sein könne?

Das Mädchen blieb lange. Endlich erschien sie wieder mit verlegen lächelnder Miene.

»O, Frau Dunker, wie sah es drüben aus! Alles stand über- und durcheinander. Die Frau konnte ich gar nicht sprechen, sie war in einen langen Streit verwickelt mit dem Möbelfuhrmann. Der hatte sie überteuert; sie wollte nicht bezahlen und er wollte sein Geld haben. Sie schrieen sich an, bis er sagte, er wolle sie verklagen. Dazwischen tobten die Jungen und warfen sich mit den Bettstücken. Ich stand und wartete, bis der Streit zu Ende war. Da fuhr mich die Frau an: ›Was stehen Sie denn und halten Maulaffen feil, was wollen Sie hier?‹

Ich brachte meine Bestellung an, da rief sie kurz: ›Wir brauchen nichts, wir sind mit allem versehen.‹ Da bin ich eiligst weggelaufen, aber erst bekam ich noch von den Jungen ein Kopfkissen an den Kopf.«

»Nun, es war doch kein Stein«, lächelte Frau Dunker. »Rieke, rede nicht gleich zu anderen Leuten davon.«

»Frau Dunker wissen, daß ich nicht aus dem Hause spreche.«

»Gute Rieke, das weiß ich. Aber wir wollen alles tun, um es den Leuten bald heimisch zu machen. Die Frau hat sicher großen Ärger mit dem Fuhrmann gehabt, daher kam die üble Laune. War denn der Herr nicht da?«

»Den habe ich nicht gesehen.«

»Was für einen Beruf soll er haben?«

»Er soll Bankbeamter sein.«

Auch Herr Dunker brachte abends die Nachricht mit, daß der neue Besitzer des Nachbarhauses eine Anstellung an der städtischen Bank habe und Kramer heiße.

»Glücklicherweise kommt der Name oft vor«, fügte er hinzu, »er erweckt noch heute unangenehme Erinnerungen von der Schulzeit her bei mir. Du weißt, wir hatten in früheren Jahren, als ich jung war, noch kein Gymnasium hier, ich war deshalb in der Hauptstadt in Pension und erlebte dort mit einem Schüler dieses Namens eine böse Geschichte. Doch das ist nun längst überwunden.«

»Ich erinnere mich, daß du früher einmal eine Andeutung machtest. Was war es denn?«

»Laß mich darüber schweigen, ich möchte das längst Vergangene nicht wieder ans Tageslicht ziehen. Halte es nicht für einen Mangel an Vertrauen.«

»Von deinem Vertrauen bin ich fest überzeugt, lieber Mann, wenn du mir auch nicht alles erzählst, was du erlebt hast.«

»Es ist jedenfalls besser, das Böse ganz aus seinem Gedächtnis schwinden zu lassen.«

Frau Maria hätte lieber gesehen, ihr Mann hätte die Äußerung überhaupt nicht getan, denn ohne daß sie es wollte, stürmten unliebsame Gedanken auf sie ein. Wenn es nun der Kramer wäre, mit dem ihr Mann etwas Unangenehmes gehabt – er hatte von etwas Bösem gesprochen, es mußte also ein Unrecht gewesen sein, das er ihm zugefügt hatte. Nun, vielleicht, dachte sie weiter, ist es ein ganz anderer Kramer, warum sollte es nun auch gerade der frühere Mitschüler ihres Mannes sein.

Sie schlug sich die Gedanken aus dem Sinn, kämpfte dagegen, aber von Zeit zu Zeit tauchten sie wieder auf.

Bis jetzt war der Herr Kramer noch nicht sichtbar gewesen, auch ihr Mann hatte ihn noch nicht gesehen. Vielleicht war er noch gar nicht da, weil die Frau alle äußeren Angelegenheiten zu besorgen schien.

Die Frau hörte man allerdings mit lauter Stimme in Haus, Hof und Garten herumwirtschaften. Das Mädchen, das man mitgebracht hatte, wurde gescholten, die Kinder bekamen Knüffe und Ohrfeigen und liefen heulend davon.

Frau Dunker hätte so gern helfend eingegriffen, aber sie konnte natürlich nicht ihre Hilfe zum zweitenmal anbieten. Sie hatte heute ihre Kinder in das Dorf geschickt, wo sie eine Bestellung zu machen hatten. Sie bezweckte damit, daß sie noch nicht mit den Nachbarskindern in Berührung kommen sollten, bis sich alles ein wenig geklärt hatte. Es war für ihre Kinder immer ein Vergnügen, in das nahgelegene Dorf zu gehen, um Einkäufe zu machen. Gretchen hatte einen Korb am Arm und kaufte frische Eier bei der freundlichen Bäuerin. Georg und Heinz aber trugen miteinander einen Korb mit frühreifen Birnen, deren die Bäuerin so schöne hatte. Trudchen war daheim geblieben, da der Weg für die Kleine zu weit war. Sie war's zufrieden, sie spielte mit ihrer so lang entbehrten Puppe und ließ nichts von sich hören.

Als aber die Mutter am späten Nachmittag an ihrem Nähtisch bei der Arbeit saß, war es ihr, als hörte sie Weinen. Sie glaubte erst, sie möchte sich getäuscht haben, aber nein, jetzt vernahm sie lautes Schluchzen. Schnell stand sie auf und ging hinaus. Da stand Trudchen, die Puppe nachlässig im Arm, und Rieke kauerte vor ihr, strich ihr die blonden Locken aus dem Gesicht und trocknete ihr die Tränen, die, als die Mutter kam, immer reichlicher flössen.

»Trudchen, mein Kind, was ist denn! Hast du dir weh getan, sage es mir doch.«

»Frau Kramer hat sie aus dem Garten gejagt«, flüsterte Rieke der Herrin zu.

»Aus dem Garten gejagt?« fragte diese ungläubig. »Aus unserem Garten?«

»Nein, die Tür hat wohl aufgestanden, da ist das Trudchen mit der Puppe in den Nachbarsgarten spaziert.«

»Ja, wir wollten gern einen weiten Spaziergang machen«, schluchzte das Kind, »und als ich durch die Tür kam und in Onkel Ernst's Garten auf und abging und meine Puppe an den schönen Blumen riechen ließ, da kam die böse Frau, kniff mich in den Arm und sagte:

›Was tust du hier in unsrem Garten, du pflückst hier wohl Blumen ab. Marsch hinaus.‹ Da hat sie mich ganz fest angepackt, mich zur Tür hinausgesetzt und die Tür fest zugemacht.« Im Andenken an diese beleidigende Tat fing sie aufs neue an zu schluchzen.

Frau Maria nahm das Kind mit in die Stube, bedeutete ihr, daß der Garten nicht mehr dem Onkel gehöre, sondern fremden Leuten. Sie dürfe also nicht mehr, wie sonst, durch die Tür schlüpfen, müsse fein im eigenen Garten bleiben.

Trudchen holte nach: »Es waren zwei Jungen, die riefen: Mutter, ein fremdes Mädel in unserem Garten. Da kam die böse Frau.«

»Ich glaubte, mein kleines Mädchen wüßte, daß fremde Leute eingezogen wären.«

»Ich habe gar nicht daran gedacht.«

»Aber nun wirst du immer daran denken, nicht wahr, mein Mäuschen?«

Sie schmiegte sich an das treue Mutterherz und versprach zu folgen. Trudchen war der Liebling aller, sie hörte kaum ein hartes Wort. Strenge war nicht nötig, da sie ein außerordentlich gutes und gehorsames Kind war, nur leicht zum Weinen geneigt und etwas empfindsam. Aber jetzt kamen die Geschwister fröhlich und guter Dinge. Die Brüder setzten den schweren Birnenkorb auf die Erde und die Mutter teilte aus. Das ließ Trudchens Tränen bald versiegen, und herzliches Lachen trat an die Stelle der Traurigkeit.

Wie leicht ist bei Kindern der Kummer gestillt; dagegen legte sich auf Frau Maria's Gemüt ein Druck, den sie nicht gleich wieder los wurde.

Die Sorge wuchs, als Herr Dunker eines Abends, nachdem die Kinder zu Bett waren, zu seiner Frau sagte:

»Maria, ich habe Herrn Kramer gesehen. Wenn ich nicht irre, ist es der frühere Mitschüler von mir. Er wurde mir von dem Bankdirektor, mit dem ich gerade sprach, vorgestellt. Wir sahen uns einen Augenblick an, dann schlug er die Blicke nieder. Ich glaubte, bekannte Züge wiederzufinden, und als der Direktor fortfuhr: ›Sie sind, wie ich höre, Nachbarn, ich wünsche gute Nachbarschaft‹ da sah er mich mit einem Blick an, der nicht vielversprechend war.« »Ach«, fuhr Dunker mit einem Seufzer fort, »ich wollte, mein Bruder wäre hiergeblieben und hätte sein Haus behalten.«

»Ich merkte dir schon heute mittag an, daß eine Sorge dich bedrückt, lieber Otto. Aber laß gut sein, wir wollen den Leuten freundlich begegnen, da können sie uns nichts anhaben. Wenn nur mit den Kindern alles gut geht, das ist meine größte Sorge. Wir Eltern wollen uns schon in acht nehmen, daß wir nicht anstoßen.«

»Nicht anstoßen«, wiederholte er langsam, »das ist es nicht, ich fürchte, es wird von seiner Seite Haß gegen mich sein.«

Jetzt war Frau Dunker wieder in Versuchung zu fragen: »Was habt ihr denn miteinander gehabt?« aber sie unterließ es, es mußte doch etwas sein, worüber ihr geliebter Mann nicht gern sprach. Sie fuhr fort. »Trudchen ist auch schon aus dem Garten verwiesen, sie kam weinend ins Haus.«

»Die Kinder haben dort jetzt nichts zu tun. Ich werde es ihnen einschärfen, daß sie die Tür nicht mehr zum Durchgang benutzen, die Zeiten sind andere geworden«, erwiderte er streng. »Maria«, fügte er dann weich hinzu, »du wirst dich daran gewöhnen müssen, statt Liebe Unfreundlichkeiten, ja sogar Haß entgegennehmen zu müssen. Wirst du das mit deinem weichen, liebebedürftigen Herzen ertragen können?«

»Mit Gottes Hilfe, lieber Mann. Aber ich glaube, du siehst zu schwarz.«

»Wollte Gott, es wäre nicht so«, seufzte er. Maria schien recht behalten zu sollen. Die Wellen legten sich allmählich. Es wurde drüben ruhiger, man hörte nicht mehr die scheltende Stimme der Frau. Vom Mann sah man überhaupt nichts. Die Ferien waren zu Ende. Die Kinder suchten ihre Bücher, repetierten und wanderten eines Tages wieder in die Schule, die Knaben aufs Gymnasium. Es fehlte ihnen freilich sehr, daß die Vettern und Basen nicht, wie sonst, aus der Haustür stürzten, um mit ihnen gemeinsam den Schulweg zu machen. Die Nachbarskinder – ja, mit denen war noch kein Bund geschlossen. Sie hatten aber viele andere Freunde in der Stadt, an die sie sich zunächst anschlossen, da der Vater gesagt hatte, sie sollten sich zurückhalten und abwarten, ob die im anderen Hause Lust zeigen würden, mit ihnen zu verkehren. Für diese war Schule und Stadt neu, die Schüler ihnen alle fremd, das Einleben war nicht leicht. Es gab andere Bücher, andere Lehrer, kurz alles war anders als in der alten Heimat. Da waren sie anfangs schüchtern und befangen, aber kaum waren acht Tage vergangen, so zeigten sie sich in ihrem eigentlichen Wesen, es waren freche, übermütige Burschen. Sie schlossen sich bald an solche an, die nicht zu den Besten gehörten, ignorierten vorderhand ihre Nachbarn oder machten ihnen schiefe Gesichter, wenn sie sich begegneten. Ihr Vater hatte ihnen gesagt, sie sollten sich nicht mit den Nachbarskindern abgeben, er kenne die Gesellschaft von früher und wünsche keinen Umgang.

Dem Verkäufer des Hauses machte er Vorwürfe, daß er ihm nicht gesagt habe, wer nebenan wohne. Er habe nur von einem Herrn Dunker gesprochen, dem das Haus gehört habe, aber der weggezogen sei.

Herr Rein hatte Herrn Kramer verwundert angesehen und gesagt: »Über Ihren Nachbarn werden Sie nie Grund haben, sich zu beklagen. Der Mann steht in der ganzen Stadt in großer Achtung, schon seine Vorfahren lebten hier in Ansehen. Seine Frau ist ein Engel an Tugend und Güte, die Kinder sind gehorsam und wohlerzogen. Mein bester Herr, über diese Nachbarn werden Sie nicht nötig haben, sich zu beschweren.«

»Ja, es sind alles Engel, ich merke es schon«, hatte Kramer erwidert und war gegangen.

Es war an einem wunderschönen Herbstmorgen. Frau Dunker war mit Rieke im Garten beschäftigt, die Kinder in der Schule. Da sah sie, wie auf dem Nachbarhofe großes Leben sich entfaltete. Man brachte Betten heraus, den ganzen Hof voll. Frau Kramer, eine starke, robuste Frau, war selbst mit tätig. Wie gern hätte Frau Maria ihr ein freundliches Wort zugerufen. Aber man hatte keinen Besuch drüben gemacht, man hatte in keiner Weise Annäherung gesucht, also mußte sie auch ihre Herzensgesinnung, die der Nachbarin freundlich gewogen war, unterdrücken. Gegen Mittag verdunkelte sich die Luft, es donnerte in der Ferne, ein Gewitter schien heraufzuziehen, die Betten lagen immer noch da. Niemand rührte sich. Da auf einmal kam ein Sturmwind, einzelne große Tropfen fielen schon, nun wurde Leben drüben.

»Komm schnell, Rieke, jetzt helfen wir«, rief Frau Dunker. Sie eilten hinaus durch den Garten in den Nachbarhof und mit den Worten: »Sie erlauben uns«, halfen sie mit gewandter Hand, die Betten ins Haus tragen. Das Mädchen war ausgeschickt, Frau Kramer allein zu Haus. Da war die Hilfe angebracht. Verlegen dankte sie der kleinen Frau. Diese reichte ihr freundlich die Hand und sagte einfach: »In der Not steht man einander so gern bei. Sehen Sie, Frau Kramer«, fügte sie freundlich hinzu, »es ist mitunter ganz gut, wenn Verbindung zwischen beiden Gärten ist, man kann in der Not schneller zueinander!«

»Ja, die Tür«, sagte Frau Kramer wieder verlegen, »mein Mann wollte sie schon immer zunageln lassen, er hat es wohl wieder vergessen.«

Das war nicht gerade vertrauenserweckend. Darum nahm Frau Maria gleich Gelegenheit, sich zu verabschieden. Sie stand zum ersten Male seit langer Zeit wieder im Nachbarhause und ging nun durch die Haustür in ihre Behausung, während Rieke längst den altgewohnten Weg durch den Garten genommen hatte. Der Gewitterregen währte übrigens nicht lange; doch war Frau Dunker froh, daß sie einmal Fühlung mit der Nachbarin gewonnen hatte.

Mit den Kindern war es inzwischen zu allerlei Häkeleien gekommen. Die Kramerschen Jungen fingen an, die Dunkers zu hänseln, sie nachzuäffen, ja sogar ab und an mit Steinen zu werfen. Das mochten Georg und Heinz sich nicht gefallen lassen. Sie hänselten wohl wieder, wenn die anderen es zu arg machten, aber im ganzen hielten sie sich tapfer, so daß die Mutter sich oft im stillen freute.

Einmal aber machte es der Kleine, sie nannten ihn Reinhold, doch zu arg. Nachdem er die kleine Gertrud, die zu gleicher Zeit mit ihm aus der Schule kam, fortwährend geneckt hatte, fing er an, sie mit kleinen Steinen zu bombardieren, da kam gerade Christian, ihr ältester Bruder, des Wegs.

»Warte, Junge, jetzt werde ich einmal den Vater spielen.« Reinhold erschrak, schleuderte den Stein, den er in der Hand hatte, von sich, so daß er Trudchens Stirn traf, die, während Christian den kleinen Bösewicht mit ein paar tüchtigen Hieben abstrafte, jämmerlich zu weinen begann. Auch Reinhold erhob ein Geheul und schrie: »Das sag' ich meinem Vater.« Christian nahm sein Schwesterchen bei der Hand und wischte das Blut, das aus der Stirn sickerte, mit seinem Taschentuch ab.

So ging es nicht länger. Herr Dunker schrieb höflich aber bestimmt an den Vater, daß er bäte, seinen Kindern das Steinewerfen zu untersagen, worauf die Antwort erfolgte, Herr Kramer verbitte sich entschieden, daß seine Söhne von dem großen Schüler geschlagen würden, das Strafamt wolle er, wenn es sein müsse, selber übernehmen. Überhaupt wünsche er aus gewissen Gründen, daß jeglicher Umgang zwischen ihren Familien unterbliebe. So waren die Grenzen gewiesen, in denen man sich künftig zu bewegen hatte.

»Mutter«, sagte die Kleine am Abend, sich schmiegend, »muß ich Reinhold auch lieben?« »Wir sollen alle Menschen liebhaben, das weiß mein Töchterchen. Du darfst ihm nichts zuleide tun, ihm auch nichts Böses wünschen.«

Einige Tage darauf saß die Kleine, das Köpfchen war noch verbunden, im Garten an der Hecke, die den anderen Garten von dem ihren trennte. Da hörte sie, wie jemand an der anderen Seite lernte. Es war Reinholds Stimme. Erst gab es Geographie, dann kam Religion, zunächst sagte er sich den Katechismus auf, dann kamen Sprüche daran, namentlich wiederholte er den einen immer wieder, der Trudchen sehr zu interessieren schien. Es war, als ob er ihn nicht behalten könne. Jetzt fing er noch einmal an: »Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.«

Da guckte Trudchen über die Hecke. »Du«, sagte sie, »du bist mein Feind, aber ich will dich doch lieb haben, hier hast du einen Apfel.« Mit diesen Worten warf sie ihm einen schönen, rotbackigen Apfel hinüber, dann stieg sie schnell von der Bank und lief fort. Reinhold wurde bis über die Ohren rot, als er die Kleine mit verbundener Stirn sah. Da sie diese Worte zu ihm sprach, wußte er sich vor Verlegenheit kaum zu lassen. Als er sah, daß sie verschwunden war, bückte er sich nach dem Apfel, steckte ihn in die Tasche und schlich still ins Haus.


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