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Erfurt sei keine Stadt sondern ein Land, sagte man im Mittelalter. Die selbständigen Städte im Reich glichen alle mehr einem schweizerischen Kanton als einer heutigen Stadt, insofern sie von einem mehr oder weniger ausgedehnten untertänigen Landbesitz umgeben waren; der von Erfurt war besonders groß. Es hatte, als es auf dem Höhepunkte seiner Macht war, auf 610 Quadratkilometer 95 Ortschaften und alles in allem 42-50 000 Einwohner, wovon etwa die Hälfte auf das Land fielen. Sein Reichtum ruhte in dem fruchtbaren Boden, der den Waid hervorbrachte. Diese Pflanze, die im Mittelalter dazu diente, das soviel gebrauchte Tuch blau und schwarz zu färben, wurde nur in Thüringen gebaut und in Erfurt weitaus am meisten. Man sagt, daß die Erfurter, wenn sie eine feindliche Burg gebrochen hätten, den wieder geglätteten Boden unter dem Rufe: »Heia, es wachse der Waid!« mit Waid besät und dadurch erst recht sich eigen gemacht hätten.
»Erfurt ist ein fruchtbar Bethlehem. Erfurt liegt am besten Ort. Da muß eine Stadt stehen, wenn sie gleich wegbrennete.« So urteilte Luther; aber er warf auch den Erfurtern vor, daß der Überfluß der Natur sie träge mache, und daß sie am Fett erstickten. Eine so außerordentlich begünstigte Stadt, reich durch die Produkte der Erde, leicht zu befestigen, am Kreuzungspunkt alter Handelsstraßen gelegen, seit Jahrhunderten besiedelt, hätte eine ruhmreichere und glücklichere Geschichte haben sollen; reich wurde sie auch, gewann aber nie die ausschlaggebende Stellung, die ihr, wie man meinen könnte, als Mittelpunkt Deutschlands gebührt hätte. Es ist kaum begreiflich, daß sie nicht die Reichsfreiheit erwarb, was manche andere mit geringeren Mitteln durchsetzte; es fehlte ihr auch nicht an Verbindungen mit den Kaisern, seit Erfurt am Ende des 14. Jahrhunderts das Schloß Kapellendorf erworben hatte, das vom Reiche zu Lehen ging, so daß Rat und Bürgerschaft deswegen dem Kaiser huldigen mußten und des Reichs Liebe Getreue betitelt wurden. So greifbar kam das Glück ihnen entgegen, daß Kaiser Siegmund, der ein romantisches Interesse an den Einrichtungen des Reichs nahm, sie zur Beschickung der Reichstage einlud. Der Rat lehnte ab mit der Erklärung: daz unsere stait Erfurt keyn rich stait nicht en ist unde wir an daz riche ouch nicht gehoren, sondern an unsern gnedigen hern von Mencz ende sinen stifft, alz daz kundlich und uffenbar gnug ist.«
Das rechtmäßige Verhältnis war damit allerdings richtig bezeichnet. Von den Königen war Erfurt an das Erzbistum Mainz gekommen, wahrscheinlich durch eine Schenkung Ottos III. an den Erzbischof Willegis. Dessen Wappen, das silberne Rad im roten Felde, übernahm die Stadt Erfurt; auch ihr älteres spielt auf Mainz an, denn es wies den heiligen Martin, den Mainzer Schutzpatron, in einem von Türmen flankierten Tor und hatte die Umschrift: Erfordia fidelis est filia Moguntiae fedis.
Es ist schwer zu begreifen, warum Erfurt so nachdrücklich, sich selbst auf alle Zukunft bindend, die Reichszugehörigkeit ablehnte. War es so hochmütig, daß es des Reiches Schutz nicht zu bedürfen glaubte? Scheute es die Reichssteuer? Alles in allem fehlte wohl den Erfurter Politikern der weite Blick und der hohe Schwung; sie liebten es, krämerhaft eine Macht gegen die andere auszuspielen, sich durchzuschlängeln, offenes Hervortreten zu vermeiden.
Von den Mächten, die mit Recht oder Unrecht Anspruch auf Erfurt erhoben, blieben, nachdem der Verlauf der Geschichte einige ausgeschaltet hatte, Mainz und Sachsen übrig. Von Mainz hatte sich die Stadt bis zu einem hohen Grade unabhängig gemacht, als in der Mitte des 15. Jahrhunderts Erzbischof Diether von Isenburg sich vornahm, die ursprüngliche Gewalt seiner Vorgänger wiederherzustellen. Glückte ihm das auch nicht ganz, so hatte er doch Erfolg mit einem feinen Schachzug, indem er sich mit Kursachsen verständigte, so daß es den Erfurtern nun nicht mehr möglich war, sie gegeneinander auszuspielen. Sie wurden so in die Enge getrieben, daß sie einen nachteiligen Frieden eingehen mußten, der ihnen eine übermäßige Schuldenlast aufbürdete. Von jetzt an kam es so, daß die Parteien innerhalb des Gemeinwesens die beiden Schutzmächte gegeneinander ausspielten, in der Weise, daß das niedere Volk sich auf Mainz, die Patrizier, die in Erfurt Gefrunden, Befreundete hießen, sich auf Sachsen stützten und dadurch jeden Streit verschärften. Die sächsische Regierung ließ immer Schutz hoffen, leistete ihn aber nie, sondern hoffte mehr durch heimliches Zusammenwirken mit Mainz zu erlangen. Diese schleichende Politik erwiderten die Erfurter durch zweideutige Wendungen wie die: Ihre Kurfürstliche Gnaden solle sich keiner widerwärtigen Hülfe von ihnen zu versehen haben.
Gegen die Juden verfuhren die Erfurter folgendermaßen. Sie waren den Juden so stark verschuldet, daß sie die Zeit der großen Verfolgung um 1349 benutzen wollten, um sich ihrer zu entledigen. Man bereitete die Tat dadurch vor, daß man Stimmung gegen sie machte, wie es noch jetzt geschieht, wenn der Krieg gegen ein Land eröffnet werden soll, und beschuldigte die Juden, nicht nur die Brunnen, sondern sogar die Gera vergiftet zu haben; zeitweise wurde deswegen nicht mit Wasser gekocht. Der Rat zögerte anfangs seine Einwilligung zu geben; denn der Unwille des Erzbischofs von Mainz, dem die Juden gehörten, war vorauszusehen; doch gab er endlich nach und erklärte sich bereit, untätig zu bleiben, bis der größte Teil der blutigen Arbeit getan wäre. Dies hinterhältige Verhalten setzte er fort, indem er hernach einige von den Tätern enthaupten ließ, andere verbannte.
Ein ähnliches Doppelspiel betrieb der Rat zur Zeit der Bauernkriege. Die nicht schlechtgestellten bäuerlichen Untertanen der Stadt erhoben sich, dem Zuge der Zeit folgend, und forderten Anteil am Regiment. Die kriegerische Stimmung einer Menge kräftiger Männer benutzte der Rat geschickt, um die mainzische Herrschaft abzuwerfen, wodurch zugleich die Kampfbegier der erregten Bauern abgelenkt wurde. Als aber nach kurzer Zeit die Bauern überall im Reich besiegt und die alten Verhältnisse wiederhergestellt waren, nahm der Rat seine Untertanen für das, was sie mit seinem Willen und unter seinen Augen getan hatten, in Strafe, in der Weise, daß vier Rädelsführer enthauptet wurden und jeder beteiligte Bauer zehn Gulden erlegen mußte.
Solche Züge, wenn sie nicht zufällig, sondern typisch sind, lassen ein Bild geschichtlicher Größe nicht aufkommen; trotzdem hat Erfurt in bezug auf seinen Handel und seine Ausbreitung eine kühne, folgerichtige Politik betrieben. Seine Befestigung war so vorzüglich, daß Luther von der Stadt sagt: »Sie ist nicht zu nehmen, es sei denn, daß sie von den Türken belagert werde.« Das Land war durch Burgen gesichert, das städtische Militärwesen war in bester Ordnung. Schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hielt der Rat stehende Truppen. Auch hat Erfurt äußerlich eine interessante und bedeutende Gestalt, und seine Geschichte ist reich an schönen Augenblicken.
Ein solcher war der Aufenthalt Kaiser Rudolfs von Habsburg im Jahre 1290, veranlaßt durch die Fehden und Räubereien, die nie endend Thüringen verheerten. Das Geschlecht der Thüringer Landgrafen, die für Erfurt gefährliche Nachbarn gewesen waren, starb mit Heinrich Raspe im Jahre 1247 aus, worauf nach längerem Erbfolgekriege Thüringen an Heinrich den Erlauchten, Markgrafen von Meißen, fiel. Dieser überließ es seinem Sohne Albrecht dem Entarteten, der mit seiner Familie beständig in Streit lag, aber mit Erfurt sich gut stand; dafür daß er in der Stadt wohnen durfte, verkaufte er ihr für ihr gutes Geld angrenzendes Thüringer Gebiet.
Am 14. Dezember 1289 zog Rudolf mit glänzendem Gefolge in Erfurt ein. Er wurde zuerst zur hochgelegenen Marienkirche geführt und dort feierlich begrüßt und stieg dann im Peterskloster ab, das den dahinter gelegenen, noch höheren Hügel seit alten Zeiten krönte. Vielleicht hat es Bonifazius selbst gegründet, der uralte heidnische Heiligtümer auf den Anhöhen verdrängen wollte. Das Recht einer königlichen Pfalz, die daneben erwuchs, ging nach dem Verfall derselben wahrscheinlich auf das Peterskloster über, das sich bis zu seinem Ende im Jahre 1803 Königliches Kloster nannte. Mit den reichen Mönchen, den ersten Besiedlern und Lehrern der Gegend, stand die Stadt in bestem Einvernehmen, ihre herrliche romanische Kirche war ein Gegenstand stolzer Bewunderung. Bei der Belagerung Erfurts durch die Verbündeten im Jahre 1813 wurde sie, da sie den Franzosen als Vorratsniederlage diente, ein Ziel der Geschütze und am 6. November gegen Abend von einer Granate getroffen und angezündet. Die Mauern, die noch erhalten sind, bezeugen, wie schön sie war. Damals waren ein besonderer Stolz der Mönche die Glocken und die Orgel ihrer Kirche. Die Orgel hatte 2333 vergoldete Pfeifen und ihr Klang war wunderbar. Von den vier Glocken hatte drei, Andreas, Paulus und Petrus, ein Meister von Aachen gegossen, die vierte war der Mönche eigenes Werk. Sie wurden übertroffen durch die Maria Gloriosa des Doms, die aus dem Jahre 1250 stammte und bedeutend schwerer war als die jetzige, die im Jahre 1497 durch Gerhard Wou in Kampen gegossen ist und 275 Zentner wiegt.
Kaiser Rudolf war zur Zeit seines Besuches in Erfurt schon alt; aber er ruhte nur sechs Tage aus, bevor er gegen die Raubritterburg Ilmenau zog und 29 Mann von der gefangenen Besatzung auf dem Erfurter Rabenstein hinrichten ließ. Im Frühling wurden noch 66 Burgen in Thüringen zerstört und ihr Wiederaufbau verboten. Am Weihnachtstage hielt Rudolf einen Reichstag ab, der viele Fürsten und Herren nach Erfurt führte, und auf dem viele das Thüringerland betreffende Anordnungen erlassen wurden. Es gelang dem König, Albrecht den Entarteten mit seinen beiden Söhnen, Friedrich mit der gebissenen Wange und Diether, zu versöhnen und ein Landfriedensgericht zu schaffen, das mit großer Vollmacht ausgestattet war, so daß es Burgen abbrechen und die Landesacht verhängen konnte.
Die Geschäfte wurden durch Familienfeste unterbrochen. Es besuchten den König seine beiden Töchter, die Königin von Böhmen und die Herzogin von Sachsen und sein Sohn Herzog Albrecht. Vater und Sohn bewirteten sich gegenseitig, wobei Albrecht durch mitgebrachtes Tafelzeug und Gerät Pracht entfaltete. Landgraf Albrecht der Entartete schlug gelegentlich 16 junge Männer zu Rittern, die der König selbst mit dem Schwert umgürtete. Auch die Vermählung einer Verwandten aus der Heimat, der Gräfin Margarete von Kyburg, mit dem Grafen Dietrich von Cleve fand statt, die der Erzbischof von Salzburg einsegnete. Die festlichen Mahlzeiten, die Rudolf gab, fanden im Garten des Klosters oder im Kreuzgang statt. Wie aber das Leben nie vergißt, etwas Dunkles in die Freude zu mischen, so erfuhr der König in Erfurt den Tod seines Sohnes Rudolf, den er zum Nachfolger vorgeschlagen hatte, und erlebte den Tod des Erzbischofs von Salzburg.
Von der humoristischen Laune des Königs erfuhren die Erfurter manches; den stärksten Eindruck machte es ihnen wohl, als er den Bierrufer spielte. In Erfurt haftete das Recht, Bier zu brauen, auf gewissen Häusern, deren Besitzer Biereigen genannt wurden; das dunkelbraune Erfurter Bier war sehr beliebt und hieß Schlunze. Hatte ein Biereigen frisch gebraut, so wurde das durch den Bierrufer verkündigt, damit jeder wisse, wo ein guter Trunk zu haben sei. Nun begab es sich, daß der Ratsmeister Siegfried von Bustede, als Rudolf mit seinem Gefolge an seinem Hause vorüberritt, den König einlud, ein Glas frisches Erfurter Bier bei ihm zu versuchen. Der König nahm an, und nachdem alle getrunken hatten und die Gläser wieder gefüllt waren, ritt Rudolf die Straße entlang und rief nach Art der Bierrufer: »Woll in! Woll in! Eyn edel trut guts Erforts bier hat Sifried von Butstede ufgetan!« Die Erfurter vergnügten sich besonders an dem ihnen fremden alemannischen Dialekt des Königs; übrigens konnte es nicht anders sein, als daß seine lange Gestalt, sein langes, ernstes Gesicht mit den freundlichen Augen und der stark hervortretenden, gebogenen Nase, die ganze eigenartige, schlichte und doch ehrfurchtgebietende Persönlichkeit auffiel und sich einprägte.
Die elf Monate, die Rudolf sich in Erfurt aufhielt, waren für ihn sowohl wie für die Stadt eine ruhmreiche und glanzvolle Zeit. Bei seinem Abschied nannte er Erfurt des römischen Reichs herrlichen Garten, wo es ihm wunderbar wohl gefallen habe. Er erwies sich als ordentlicher Haushalter, indem er die gemachten Schulden richtig beglich, er hatte von acht Bürgern und einem reichen Juden, Johannes von Acken, tausend Mark geborgt, wofür er die Zürcher Reichssteuer von zwei Jahren anwies.
Ein anderer großer, ja vielleicht Erfurts größter Augenblick hing mit der Universität zusammen. Schon am Ende des 12. Jahrhunderts besaß Erfurt eine Schule, wo klassische Sprachen und scholastische Wissenschaft gelehrt wurden, und die viele für eine Hochschule hielten. Zweihundert Jahre später, im Jahre 1392, gründete der Rat aus den Mitteln der Stadt eine wirkliche, in vier Fakultäten gegliederte und vom Papst bestätigte Universität. Es war innerhalb des Reichs die fünfte: Prag, Wien, Heidelberg und Köln gingen ihr vor. Die Professoren der Theologie hielten ihre Vorlesungen im auditorium coelicum über dem östlichen Kreuzgang des Doms; das Gebäude, welches gewöhnlich die Universität genannt wird, war das collegium majus. Es wurde im gotischen Stile, an dem man in Erfurt noch festhielt, in den Jahren 1511-15, um die Zeit, als Luther im Kloster war, erbaut. In seiner burghaften Festigkeit, seiner gemessenen, fast düsteren Pracht vertritt es weniger den verwegenen, sprühenden, protestierenden Geist des Humanismus, der in Erfurt blühte, als die von ihm überwundene mittelalterliche, scholastische Wissenschaft oder die geheimen Künste des Doktor Faust, der nach einigen Angaben daneben wohnte. Es leuchtet ein, daß das die Universität ist, in der er den Studenten den Homer erklärte und die Helden der Ilias und Odyssee, zuletzt den Riesen Polyphem, leibhaftig vor ihnen erscheinen ließ. Unentwirrbar sind in der merkwürdigen Gestalt des Faust Geschichte und Sage verwoben. Gewiß ist, daß er sich im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Erfurt aufhielt; denn Mutianus Rufus erzählt in seinem Briefe, daß er ihn dort in einer Herberge sah, und spricht mit der Geringschätzung des Gelehrten von seinen Aufschneidereien. Im Jahre 1522 war ein Heinrich Faust in Erfurt immatrikuliert. Seltsame Geschichten wissen die Erfurter Chronisten von ihm zu berichten. Eines Abends, als Faust in Prag war, klopfte es spät an die Tür des Hauses zum Anker in der Schlößergasse in Erfurt, wo Faust als Gast des Junker von Tennstedt abzusteigen pflegte. Die herbeieilenden Diener sahen zu ihrem Erstaunen Faust, den sie in weiter Ferne wähnten, zu Pferde vor dem Tor halten; er sei, sagte er, von Prag hergeritten. Man führte das Pferd in den Stall, Faust zum Hausherrn, der seinen Gästen ein herrliches Mahl herrichten ließ. Faust erbot sich, den Wein zu liefern, bohrte ein paar Löcher in den Tisch, fragte jeden nach seinem Lieblingswein und zapfte dann allen, was ihnen beliebte. Unterdessen fraß Faustens Pferd im Stalle einen Sack Hafer nach dem andern; wieviel die Diener auch herbei schleppten, das Tier war nicht zu sättigen. Um Mitternacht tat es einen Schrei, so laut, daß die lärmenden Gäste im Saale es vernahmen. Als es zum dritten Male schrie, sagte Faust, es sei nun Zeit heimzureisen und verabschiedete sich. Man hörte ihn ein Stückchen durch die Schlößergasse galoppieren, dann schwang sich das Pferd in die Luft und führte ihn im sausenden Fluge nach Prag. In einem Dach in der Schlößergasse soll sich noch die Öffnung befinden, durch welche Faust auf seinem Zaubermantel fortzufliegen pflegte, und die man niemals habe zumauern können. Ein anderes Mal, als Faust nach Erfurt kam, war er in der Michaelisstraße zu Gast und unterhielt die Gesellschaft damit, daß er drei Dämonen kommen ließ und sie fragte, wie geschwind sie wären. Der dritte stellte Faust zufrieden, indem er sagte, er sei so schnell wie der Menschen Gedanken. Die Dämonen mußten Essen und Getränke bringen und begleiteten das Mahl mit wunderbarer Musik, wie sie noch niemand vernommen hatte. Die Chronisten erzählen ferner, daß dem Rat von Erfurt das Zauberwesen bedenklich geworden sei, weil er damit die Jugend betöre, und daß deshalb der Dr. Klinge beauftragt worden sei, ihn zu bekehren. Faust jedoch blieb ungerührt, ja, er sagte grade heraus, wenn der Teufel einem das Wort halte, müsse man es ihm auch halten. Dr. Conrad Klinge war ein Barfüßermönch, der, als alles zur neuen Lehre überging, der alten Kirche treu blieb und die neuerer erfolgreich bekämpfte; er starb im Jahre 1556 und erhielt ein Grabdenkmal im Dom. Fausts Name ist in Erfurt in dem von der Schlößergasse abzweigenden Faustgäßchen erhalten, das einst Sperlingsgäßchen hieß. Durch diese führte Faust einst ein Fuder Heu auf einem mir zwei Pferden bespannten Wagen, der viel zu breit war, als daß er natürlicherweise durch das schmale Gäßchen hätte hindurchkommen können. Da trat dem verdächtigen Gefährt ein Mönch mir einem Bannspruch entgegen, und siehe da! die befreiten Augen der Zuschauer sahen nur noch zwei rote Hähne, die einen Strohhalm hinter sich herzogen. Wunderbar läßt so die Sage die beiden großen Zauberer, die dem deutschen Volke teuer sind, einander gegenüberstehen; denn unter dem Mönch wird man Luther verstehen dürfen, der so oft die Gaukeleien des Teufels zunichte machte. Luther überwand, das Chaos und die Dämonen, aber sie waren ihm nicht unbekannt, und aus unerforschten Abgründen aufwallend hat Mystik seinen Glauben durchdrungen. Wenn er ein Werk der Ordnung aufbaute und aus unverständlich gewordenen Symbolen Gehalt für das menschliche Bewußtsein gewann, so war er doch kein Führer der Aufklärung, vielmehr werfen ihm die Aufgeklärten mittelalterlichen Aberglauben vor. Auf der anderen Seite war Faust, wie wir ihn aus der Überlieferung kennen, kein gemeiner Hexenmeister. Wenn er die Leute mit seinem Spuk foppt, die Studenten mit dem groben Polyphem erschreckt, wenn er den Bekehrer abweist und vor den Augen der Stadtbüttel, die ihn greifen sollen, auf feurigem Pferd über die Mauer sprengt, so glaubt man ihn über die Spießbürger lachen zu hören und spürt einen freien Geist, der mit seiner Macht spielt und jener Erlösung würdig ist, die die Dichtung ihm gebracht hat.
Es ist sehr oft der Fall, daß besondere Ruhmestitel einer Stadt oder eines Staates ihm nicht durch Einheimische, sondern durch Fremde geworden sind, weder Faust noch Luther waren Erfurter, und auch der Kreis, der damals durch Witz, Jugendmut und Zukunftsfreudigkeit soviel Aufsehen erregte, bestand größtenteils aus Fremden. Mutianus Rufus war in Fritzlar geboren, Justus Jonas in Nordhausen, Johan Hesse in Bockendorf in Hessen, Crotus Rubeanus in Dornheim, Trutfetter in Eisenach. Erfurter jedoch war Johannes Lang, der treue Freund Luthers aus dem Augustinerkloster, der trotz seines zurückhaltenden und bescheidenen Wesens der tapferste und ausdauerndste Vertreter der neuen Lehre in Erfurt wurde. Die prickelnde Atmosphäre, die diese Männer um sich verbreiteten, zog begabte Jugend und bedeutende Geister an; Hutten hat sich zwar nur vorübergehend in Erfurt aufgehalten, rechnete sich aber stets zu den Erfurter Humanisten. Bei Luthers erstem kühnen Auftreten neigten sich fast alle Humanisten ihm zu; die Universität jedoch hütete sich vor offener Parteinahme und verfuhr nach dem bewährten Erfurter Mittel. Als der Streit um Reuchlin entbrannt war, urteilte die Universität zur Entrüstung der Humanisten, der Inhalt des Augenspiegels sei zwar zu verwerfen, damit solle aber der Ehre Reuchlins nicht zunahe getreten werden. Nach der Leipziger Disputation aufgefordert, ein schiedsrichterliches Urteil zwischen Eck und Luther zu fällen, lehnte die theologische Fakultät von Erfurt ab. Die Veröffentlichung der Bannbulle wurde zunächst von der Universität hinausgezögert; als dann die Studenten, unbedenklich, das den Buchdruckern zur Vervielfältigung übergebene Exemplar ihnen entrissen und mit dem Witzwort: bulla est, natet! in die Gera warfen, gelang es ihr, einen Formfehler aufzufinden, und sie entschuldigte sich mit der Erklärung, die Bulle sei nicht gehörig insinuiert. Als der Fehler beseitigt war, lehnte sie die Veröffentlichung deshalb ab, weil dadurch noch größere Unruhen entstehen würden. Nun aber erwies sich das Feuer der Jugend und die Einsicht und Begeisterung der Humanisten stärker als das Schwanken der älteren Richtung: Johannes Lang wagte es, auf der Kanzel für Luther einzutreten. Da er Professor an der Universität war, Griechisch lehrte, über Demosthenes las und von allen humanistischen Gelehrten hochgeschätzt wurde, fand er großen Anhang, besonders seine Schüler Eoban Hesse und Justus Jonas schlossen sich ihm an. Im Rat wendeten sich die Freunde Sachsens Luther und seiner Lehre zu, allen voran der Ratsmeister Adolarius Huttemer, ein wütender Gegner von Mainz, also auch aus politischen Gründen Protestant, ferner der zweite Ratsmeister Jakob von der Sachsen, Bonaventura Gunderam und Georg Friderun. Während in den meisten Städten der aristokratische Rat von der niederen Bürgerschaft zur Annahme des Luthertums gezwungen oder allmählich dafür gewonnen wurde, drängten die politischen Verhältnisse in Erfurt den in der Hauptsache antimainzischen Rat auf die sächsisch-lutherische Seite. So kam es, daß zur Zeit des Reichstages von Worms die vorher zerklüftete Stadt in einmütiger Begeisterung aufflammte. Unter dem Rektorat des Crotus Rubeanus beschloß die Universität, Luther, der auf seiner Reise von Wittenberg nach Worms durch Erfurt kam, feierlich einzuholen; die Stadt bot ihm Asyl an. Luther traf am 6. April von Weimar aus ein in einem von der Stadt Wittenberg ihm gestellten Wagen, begleitet von seinem Ordensbruder und Freund Amsdorf und einem jungen pommerschen Edelmann; der kaiserliche Herold Kaspar Sturm ritt ihm voran. Bis zum Dorfe Vlekra, das Erfurt gehörte, ritten ihm vierzig Mann zu Pferde entgegen, an ihrer Spitze der Rektor der Universität, Crotus Rubeanus. Er begrüßte Luther als Gottgesandten, als Rächer der Lüge der Zeit, die den Menschen den Glauben geraubt habe. Luther antwortete, daß er eine solche Ehrung weder verdient noch gehofft habe, sie aber als Zeichen der Liebe dankbar annehme. Dann ging er durch die von neugierigen und begeisterten Menschen erfüllten Straßen zum Augustinerkloster, wo der Prior Johannes Lang den alten Freund empfing und beherbergte. Am folgenden Tage, es war der weiße Sonntag, predigte Luther, dem allgemeinen Verlangen nachgebend, in der Augustinerkirche. Sie war so überfüllt, daß Krachen im Holz Gefahr des Einsturzes der Empore zu verkünden schien und Schrecken sich unter der Zuhörerschaft verbreitete. Luther sagte ruhig: »Fürchtet nichts: das ist der Teufel, der mich abhalten will, das Evangelium zu predigen; aber es soll ihm nicht gelingen,« und stellte damit die Ruhe her. Die Universität gab ihm am Tage darauf ein Festmahl; aber nicht weniger Ehre erwiesen ihm die Stadt und das Volk.
Sowohl für Luther wie für Erfurt bedeuteten diese Tage einen Höhepunkt voll fleckenlosen Glanzes. Luther hatte den großen Wurf gewagt, er ging, sein Leben für seine Überzeugung einzusetzen, unter dem Beifall des Volkes und der Gebildeten. Da, wo er eine frohe Studienzeit durchlebt, wo er seine bittersten Kämpfe gekämpft, wo er die entscheidende Erleuchtung gehabt hatte, begegneten ihm alte Kameraden und Freunde mit Verehrung fast wie einem Heiligen oder Heiland. Noch gab es keinen Konflikt als den mit den alten Mächten, die er angegriffen hatte, noch keinen Zwist mit seinen Anhängern, noch keine von den unlösbaren Verwickelungen, die anzeigen, daß auch die reinste Idee, wenn sie die Erde berührt, sich mit Irrtum, innerem Widerspruch und fremdartigen Stoffen vermischt. Erfurt mußte bald einen Umschwung zugunsten der Katholiken erleben. Die Angehörigen der alten Stifter widersetzten sich den Neuerungen, die Erzbischöfe gaben sich erfolgreich Mühe, die reiche Stadt zurückzugewinnen. Sie verfolgten dabei den Grundsatz, lieber auf dem Gebiete der Religion Zugeständnisse zu machen, als von den Hoheitsrechten etwas preiszugeben; der Erzbischof Albrecht soll sogar bezüglich des katholischen Gottesdienstes gesagt haben: »Wer nit neingehen will, der bleib draußen.« Erzbischof Daniel Brendel von Homburg wußte die Jesuiten unter Verkleidung in Erfurt einzuführen, allmählich drangen auch in den Rat wieder katholische Elemente ein, und schließlich mußte Johannes Lang, sosehr es schmerzte, den Katholiken den Dom zurückgeben. Die Erfurter Halbheit stellte sich diesmal als Errungenschaft dar; denn es war das erstemal, daß ein katholischer Landesherr auf sein Recht, seine Konfession zur herrschenden zu machen, verzichtete und Katholiken und Evangelische nebeneinander bestehen ließ.
Noch einmal sollte sich auf kurze Zeit das Glück den Protestanten zuwenden und in den erhabenen Wölbungen des Doms das Wort des Evangeliums verkündigt werden; das war im Dreißigjährigen Kriege unter der schützenden Herrschaft Gustav Adolfs. Vergeblich hatte der Rat gebeten, daß der Stadt die schwedische Besatzung erlassen werde; sie war ihrer militärischen Bedeutung wegen dem Könige zu wichtig, als daß er auf sie hätte verzichten können, um sie etwa dem Feinde zu überlassen. War er in diesem Punkte unerbittlich, so ließ er über die Überwundenen die Sonne seiner Menschlichkeit um so strahlender aufgehen. Am 22. September, um 4 Uhr nachmittags, ritt er durch das Andreastor ein, begrüßt vom Geläut der Maria Gloriosa und dem Chor aller Glocken der vieltürmigen Stadt und vom Jubel des damals noch überwiegend protestantischen Volkes, zwiefach leuchtend im Glanze des eben errungenen Sieges bei Breitenfeld und seiner Persönlichkeit. Für die Zurufe aus der Menge dankte er freundlich in deutscher Sprache, den Deutschen als Sohn einer deutschen Mutter begegnend. An den Rat, der ihn vor dem Hause zur Hohen Lilie, wo er absteigen sollte, empfing, richtete er gewinnende Worte. Dies erste Giebelhaus Erfurts hatte die Renaissance gebracht; es gehörte dem Ratsherrn und Goldschmied Hiob Ludolf. Der Platz vor den Stufen, an dem es liegt, war damals mehr bebaut und also enger als jetzt, und auch die Treppe, die so leicht und sicher zu den beiden stolzen Kirchen auffliegt, hatte noch nicht ihre jetzige Breite; dennoch wird Gustav Adolf, der den Sinn der Könige für große Architektur in hohem Maße besaß, einen starken Eindruck von der grandiosen Anlage empfangen haben. Nach kurzem Aufenthalt in seinen Gemächern begab er sich zum Peterskloster, wo der besorgte katholische Klerus ihn kniend erwartete. Der König benahm sich mir der Mischung von Majestät, Herzlichkeit und diplomatischer Klugheit, die augenscheinlich nicht überlegt, sondern ihm natürlich war und deshalb unwiderstehlich wirkte. Er hörte die Ansprache des Abts mit entblößtem Haupte an und erwiderte freundlich beruhigend, daß niemandem ein Haar gekrümmt werden solle, wenn nur der Klerus während der Dauer des Krieges nichts gegen ihn unternähme; er sei nicht ins Reich gekommen, um die katholische Kirche zu vernichten. Auch den Vertreter des Erfurter Jesuitenkollegiums begrüßte er freundlich und versprach ihnen eine Schutzwache. Er machte dann, wie er in allen befestigten Plätzen sofort zu tun pflegte, einen Umritt um die Befestigungen und bedachte die notwendigen Neuerungen und Verstärkungen. Vielleicht hörte er auch einmal eine Predigt in der Andreaskirche von dem dort angestellten Pfarrer Michael Altenberg, dem Verfasser und Komponisten von Gustav Adolfs Lieblingsliede: »Verzage nicht, du Häuflein klein,« unter dessen Klängen er bald in die Lützener Schlacht und in den Tod gehen sollte.
Die Huldigung konnte der Stadt nicht erspart werden, doch verlangte sie der König nur für die Dauer des Krieges und versprach beim Friedensschluß dafür zu sorgen, daß die Selbständigkeit Erfurts anerkannt werde. Die Beseitigung der Rechte von Mainz konnte er allerdings leicht verschenken; aber es war ihm zweifellos ernst damit, daß er die Stadt heben und namentlich die herabgekommene Universität wieder zur Blüte bringen wollte. Wenn er seinen etwaigen militärischen oder diplomatischen Vorteil stets sofort erkannte, so erfaßte er ebenso schnell die Angelegenheiten, die ihn nicht unmittelbar berührten; wo er auch war, war er immer der König, der für das allgemeine Beste zu sorgen hat. Daß von allem, was er plante, wenig zur Ausführung kam, war nicht seine Schuld.
Am Ende desselben Jahres kam die Königin Eleonore nach Erfurt und besuchte am Neujahrstage den Gottesdienst im Dom. Die Bibel, die ihr als Geschenk des Rats überreicht wurde, nahm sie freudig dankend an, das Geldgeschenk lehnte sie ab, um es nicht Notleidenden zu entziehen. Ihre natürliche Freundlichkeit gewann ihr die Zuneigung des Volkes. Am 28. Oktober 1634 kamen König und Königin zusammen nach Erfurt und stiegen in der Hohen Lilie ab. Gustav Adolf führte noch am selben Tage sein Heer weiter, in die Schlacht, die zwischen ihm und Wallenstein entscheiden sollte. Marie Eleonore, die an ihrem Mann mit der angstvollen Liebe hing, die man für den fühlt, für dessen Verlust man ewig zittern muß, siedelte, nachdem der letzte Abschied genommen war, in das Haus zum Schwarzen Löwen am Anger über, das neben dem Haus zum Weißen Löwen lag, in dem der schwedische Statthalter, Herzog Wilhelm von Weimar, residierte; die Häuser haben jetzt die Nummern zehn und elf. Dort erfuhr sie nach einer Woche des Königs Tod. Eine feuerrote Katze, die nachts durch die Zimmer sprang und dabei eine irgendwo angebrachte, von zwei schwedischen Löwen getragene Krone herunterriß, wurde als Botin der Hölle angesehen, die das große Unglück verkündete.
Durch die schwedische Episode, die soviel wie Selbständigkeit bedeutete, war die Abneigung gegen die mainzische Herrschaft in Erfurt verstärkt; aber auch die sächsische wurde nicht mehr gewünscht: man hoffte nun auf dem Friedenskongreß die einst verschmähte Reichsfreiheit zu erlangen, und die Schweden bemühten sich wirklich, das Versprechen des verstorbenen Königs einzulösen; aber die Stimmen von Sachsen und Mainz, besonders die des Erzbischofs Joh. Phil. von Schönborn wogen mehr beim Kaiser, wie denn überhaupt der Krieg den Sieg der fürstlichen Territorialgewalten vollendet hatte.
Joh. Phil. von Schönborn, der mit 27 Jahren Bischof von Würzburg und mit 32 Jahren Erzbischof von Mainz geworden war, vollzog die Vernichtung der mittelalterlichen Verhältnisse, indem er Erfurt zur untertänigen Stadt machte und seinem Staat einverleibte. Gewandt begann er mit der bescheidenen Forderung, daß das früher üblich gewesene Kirchengebet für den Kurfürsten und das Stift, das unter Gustav Adolf abgeschafft war, wieder eingeführt werde. Es entstand darüber eine Entzweiung zwischen Rat und Volk, wobei das Volk wie früher zu Mainz hielt. Während der Rat auf den stets trügerischen sächsischen Schutz hoffte, brachte Johann Philipp durch Vermittlung eines Domkapitulars, des Freiherrn von Reiffenburg, den Kurfürsten Johann Georg auf seine Seite, indem er ihm Aussicht auf ein Bündnis mit dem zahlungsfähigen König von Frankreich eröffnete. Herr von Reiffenburg wurde von drei beteiligten Mächten, Mainz, Sachsen und Frankreich, mit Geld, Ämtern und Titeln reich belohnt. Außer diesen Helfern gewann Johann Philipp nach den tatkräftigen Bischof von Münster, Bernhard von Galen, und den Herzog von Lothringen zur Unterwerfung der gefürchteten Stadt, die keinen Freund hatte. Zwar sah der Kaiser die Einmischung Frankreichs nicht gern und auch der Regensburger Reichstag war nicht einverstanden, Hessen, Weimar und Gotha verweigerten anfangs den fremden Hilfstruppen den Durchzug; aber es war kein ernstlicher Wille dahinter. Den einzigen, der mit der Tat für Erfurt eintreten wollte, den Kurfürsten von Brandenburg, wies es ab, vielleicht weil es seiner Selbstlosigkeit mißtraute. Gegen so viele Feinde verteidigte sich die Stadt rühmlich und erfolgreich, namentlich die Studenten, die eine eigene Kompanie bildeten, zeichneten sich aus; aber das konnte die endgültige Niederlage nur hinausschieben. Als Johann Philipp in die unterworfene Stadt einrückte, eröffnete eine kursächsische Garde den Zug. Seiner Freiheit wurde Erfurt ganz und gar beraubt, aber das religiöse Bekenntnis betreffend, blieb es bei dem System gegenseitiger Duldung; der Erzbischof erteilte sogar den evangelischen Geistlichen einen besonderen Schutzbrief.
Damals war die einst so reiche Stadt schon verarmt und verödet. Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges betrug die Zahl ihrer Einwohner 20 000, am Ende desselben die Hälfte. Von den angesehenen Familien hatten verschiedene nach der revolutionären Bewegung des Jahres 1510 die Stadt verlassen, andere nach dem Pfaffensturm, einem Tumult, den im Jahre 1521 das Vorgehen der Vorsteher der Marien- und Severikirche gegen Justus Jonas erregte. Verhängnisvoll wurde es, daß diejenige Gabe der Natur, die Erfurts Wohlstand begründet hatte, der Waid, durch das Bekanntwerden des Indigo seiner Geltung beraubt wurde. Sein Siegeslauf wurde nicht dadurch aufgehalten, daß eine Reichspolizeiordnung Einkauf und Verkauf des Indigo als einer Teufelsfarbe verbot, und der Anbau von Hopfen, Anis und Gemüse, wozu Erfurt sich entschloß, ersetzte den Verlust einstweilen nicht. Schädigend wirkte auch das Aufkommen Leipzigs, das vom Kurfürsten von Sachsen begünstigt wurde, und mancher Erfurter mochte, das bedenkend, beklagen, daß man nicht zur rechten Zeit sächsisch geworden war. Der Reichsdeputationshauptschluß teilte die Stadt sehr gegen ihren Willen Preußen zu; dann wurde sie, die nicht reichsfrei, nicht mainzisch, nicht sächsisch, nicht preußisch hatte sein wollen, ohne Bedauern französisch.
Der Kongreß, den Napoleon in Erfurt veranstaltete, um sich dem Abendlande als Nachfolger Karls des Großen vorzustellen und die Fürsten, die er als Vertreter des einstigen römischen Reichs deutscher Nation ansah, zu demütigen und bloßzustellen, zeigte in einem tragikomischen Schauspiel, wie furchtbar das tausendjährige Reich wirtschaftlich, politisch und seelisch herabgekommen war. Die anfangs von den einziehenden Franzosen mißhandelte Stadt betrachtete Napoleon, der sie in seinen Schutz nahm, als ihren Erretter und jubelte ihm zu. Die Kaufmannschaft ritt ihm bis Gossenstädt entgegen, um ihm als Leibgarde zu dienen, und gab eine Probe belobter Gewandtheit, indem sie die Husaren, die vor dem kaiserlichen Wagen herritten, überholten, eine Glanzleistung, zu der die Zeit bürgerlicher Selbständigkeit sie erzogen haben mochte. Bürgerschaft, Magistrat und Geistlichkeit versammelten sich zu feierlichem Empfang und taten auch weiterhin, was die Notwendigkeit gebot und noch mehr. Der letzte Grund dieses begeisterten Entgegenkommens war vermutlich der Wunsch, durch Napoleons Vermittlung sächsisch zu werden; der König von Sachsen wurde von der Bevölkerung, wo er sich zeigte, mit besonderem Nachdruck begrüßt, und Napoleon zeichnete ihn vor den übrigen deutschen Fürsten aus.
Der Kaiser wohnte im Regierungsgebäude, dessen einer Flügel durch den ehemaligen schönen Renaissancebau »Zum stolzen Knecht« gebildet war. Für die übrigen Gäste des Kongresses waren Häuser am angrenzenden Anger, dem einstigen Waidmarkt, unter dem Titel maisons de l'empereur beschlagnahmt; auch Kaiser Alexander und sein Bruder Konstantin wohnten dort. In der Hohen Lilie war Jerome, König von Westfalen, abgestiegen. Für die Theateraufführungen war ein herrschaftliches Haus in der Futterstraße, dem altberühmten Rebstock gegenüber, hergerichtet. Dort betrachteten die Zuschauer weniger die Bühne als das Schauspiel, das der wunderbare fremde Eroberer und die deutschen Fürsten gaben, die sich diensteifrig verachten ließen in der Hoffnung, unter dem Schutze des Kaisers sich gegenseitig ein Stück Land abzujagen.
Durch allen Wechsel der Zeit ist Erfurt die fruchtbare Erde geblieben, Trägerin des Waid einst und nun der Blumen, die zugleich das Land schmücken und das Volk nähren. Auch die Pracht des Stadtbildes ist durch den Ungeschmack des 19. Jahrhunderts wohl empfindlich geschädigt, aber doch nicht gestört. In magisch mittelalterliche Lust gehüllt durchkreuzen alte Straßen, alte Brücken und Plätze labyrinthisch die Regelmäßigkeit der Anlage. Eine ungewöhnlich große Menge gotischer Häuser ist erhalten, von denen zwar meistens nur das Erdgeschoß unverändert geblieben ist, die sich aber durch Tore und Wappen ausweisen. Merkwürdigerweise sind keine Giebelhäuser darunter, die in Erfurt erst die Renaissance einführten. Das älteste der erhaltenen gotischen Häuser ist das Lilienfaß in der Johannesstraße, das der Familie Huttemer gehörte. Adolar Huttemer, der kühne Ratsmeister, der als Gegner von Mainz die Reformation unterstützte, wohnte daneben im Hause »Zur bunten alten Eule«. In der Johannesstraße wohnten die reichen Waidherrn, die Ziegler, Utzberg, von Sachsen, Pardis, v. d. Marthen; ihre Häuser hatten geräumige Böden unter den hohen, mit vielen Luken versehenen Dächern, wo der Waid in umständlichem Verfahren zubereitet wurde. Das berühmteste Haus in der gleichfalls von Waidherren bewohnten Futterstraße war der Rebenstock, der von Otto Ziegler erbaut, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der Familie Ziegler gehörte. von dem Rebenstock, den der Erbauer aus dem Heiligen Lande mitbrachte, und der Kalebs Trauben getragen haben soll, liegt nach der Überlieferung ein Stück im Fundament eingegraben. In der Engelsburg wohnte der Freund Luthers und Schwiegervater Eoban Hesses, Dr. med. Valentin Sturz. Erbaut hatten sie im Jahre 1432 der Mainzer Vitztum Joh. von Allenblumen und seine Gattin Wunne von Weißensee, deren Gedächtnis ein Grabstein im Dom mit ihrem Wappen, Einhorn und Forellen, erhält. In den Jahren 1530-1618, wo die Bautätigkeit außerordentlich lebhaft war, entstanden die bedeutenden Renaissancehäuser. Es waren darunter drei Giebelhäuser, das Haus »Zur hohen Lilie«, »Zum güldenen Rad« und »Sonnenborn«; im allgemeinen wurde das steile gotische Dach etwas abgeschwächt beibehalten. Das stattlichste Haus, das den Platz vom ersten bis zum achten Hause in der Schlößergasse einnahm, erbaute 1612 der reichste Waidjunker Hiob von Stotternheim; ein Brand hat es im Jahre 1660 zerstört.
Von den 89 Gotteshäusern, die Erfurt besaß, sind die beiden Stiftskirchen auf dem Unterberge, Marien und Severi, die schönsten. Dies Heiligtum bildet nicht den Mittelpunkt der Stadt, sondern gleichsam den Griff eines Fächers, von dem aus Hauptstraßen nach den jetzt nicht mehr vorhandenen Toren in der Mauer liefen. Dieser durch den Lauf der wilden Gera und die Lage des Unterbergs bestimmte Plan ist sehr eigenartig, ebenso die Anordnung der beiden Kirchen, deren Türme, anstatt nach Westen, nach Osten, der Stadt zu gerichtet sind, wie das auch bei der Peterskirche der Fall ist. Ganz besonders originell und charakteristisch ist aber die durch zufällige Umstände nötig gewordene Befestigung des Unterberges. Als der Chor des Domes, das ist die Marienkirche, für den Klerus zu klein geworden war, entschloß man sich einen größeren zu bauen, wozu der vorhandene Boden des Berges nicht ausreichte. Deshalb wurden zwei übereinanderliegende Reihen starker steinerner Bogen errichtet, die sogenannten Kavaten, die die hochthronende Gebäudegruppe tragen.
Der Dom mit seinem überhohen Chor, den die Türme nur wenig überragen, mit dem dreieckigen Anbau, dem Triangel, der mit seinen beiden Portalen den Haupteingang für die über die Stufen Aufsteigenden bilden mußte, zieht durch Pracht und den überraschenden Glanz der architektonischen Einfälle den Blick gewaltsam an; wendet man dann aber sich der Severikirche zu, möchte man ihr den Preis geben. Die zu einer einzigen Mauer zusammengezogenen Türme, das ungeheure Walmdach, das von Norden gesehen der Kirche die pompöse Behaglichkeit eines repräsentativen Hauses gibt, der Gegensatz dieses Dachgebirges zur Eleganz der spitzen Turmhelme, die schöne Farbigkeit der mattroten Ziegel, der hellgrünen Turmspitzen und des gelben Sandsteins, das alles zusammen läßt sie dem Dome an Originalität nicht nachstehen, noch weniger an geschlossener Wucht.
Der innere Domchor ist ein Werk, das menschliche Kunst und Arbeit vergessen läßt: er steht da, als wäre er auf den Wink eines Zauberstabes fertig aus der Erde gewachsen. Durch zwölf sehr hohe, sehr schlanke Glasfenster fällt das Licht ein, blumenbuntes, fabelhaftes Licht, dem unsrigen so unähnlich, wie der Himmel der Erde. Das Langhaus gleicht an manchen Punkten einem versteinerten Palmenhain, in dem schöne Grabplatten das Andenken vergangener Geschlechter hüten.
Zwei Meisterwerke besitzt auch die Severikirche: den spätgotischen Taufstein mit einem Überbau, der auf vielen phantastisch sich rankenden Stengeln als göttliche Blumenkrone Maria mit dem Kinde trägt, und das alabasterne Relief des heiligen Michael. Er ist nicht als Kämpfer, sondern als Sieger dargestellt, triumphierend getragen von seinen Flügeln und seinem Mantel, die die Tafel reich ausfüllen. Sein Kindergesicht voll Ernst und Unschuld blickt unter der königlichen Stirnbinde gelassen auf das groteske Scheusal zu seinen Füßen, das sich mit komisch ohnmächtigem Ingrimm in den Speer des Überwinders verbeißt. Seine Fledermausflügel allein kennzeichnen im Gegensatz zu den feierlichen Schwingen des Erzengels die Ausgeburt der Hölle.
Daß die Neuzeit wagte, auf den Westgiebel des Domes ein Mosaikbild der Maria zu setzen, das einem riesigen Lackbilde gleicht, gehört zu den Veränderungen oder zu dem gänzlichen Verschwinden des Geschmacks, der zuweilen vorkommt und wohl ebenso wie ein Erlöschen der Kraft auf einem bestimmten Gebiete eine falsche Tendenz im allgemeinen bezeichnet.
Die Verbreiterung der Treppe und die Freilegung des Platzes, Neuerungen des 19. Jahrhunderts, sind zwar dem gotischen Stile der Stadt nicht angemessen; aber durch sie hat der alte Platz vor den Stufen den Charakter freier Größe erhalten, der dem Mittelpunkt Thüringens und Deutschlands wohl ansteht.
Die zentrale Lage bringt es vielleicht mit sich, daß man in einer Hinsicht die Geschicke Deutschlands mir denen Erfurts vergleichen kann. Im deutschen Reich mischten sich germanisches, romanisches und slawisches Volkstum und Wesen, germanischer und romanischer Glaube, germanische und romanische Kunst, und bildete sich nicht dasselbe politische Nationalgefühl aus wie in England und Frankreich, sondern die Liebe zur Heimat, zu so viel Land, als sich überblicken und mit wirksamer eigener Tätigkeit erfüllen läßt, und anderseits der Sinn für andere Völker und die Fähigkeit ihre Leistungen anzuerkennen, sogar übertrieben zu bewundern. Diese Eigenschaft bedeutet eine Stärke und eine Schwäche, und so hat denn auch die unsichere Politik Erfurts Bedeutendes gezeitigt, nämlich das Nebeneinanderbestehen der beiden Konfessionen. Auf dem Unterberge stehen nebeneinander Marien und Severi, das katholische und das protestantische Gotteshaus, ein Bild widerstreitender Tendenzen, die es in einem Volke geben kann wie in einem Individuum, ohne es zu zerreißen, vielmehr es bereichernd.
Gedruckt bei Poeschel & Trepte in Leipzig