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Im winzigen Städtchen Mölln gibt es ein kleines Museum voll allerlei Tandelkram, der dem beschaulichen Reisenden von einem alten treuherzigen Manne erklärt wird. Dieser uralte Löwe, sagte er, indem er ein Gießgefäß aus Messing in Form eines Löwen vorwies, wie sie früher in den Kirchen gebraucht wurden, trage nach der Überlieferung die Züge Heinrichs des Löwen, und er könne sich wohl vorstellen, setzte er hinzu, daß der mächtige Herzog so ausgesehen habe. Es war ein grandioses, etwas menschlich geratenes Löwengesicht. Ja, so sah er aus, es ist kein Zweifel, nicht so edelschön wie auf seinem Grabmal im Dome zu Braunschweig. Leidenschaftlich, herrschsüchtig, großmütig, wie ein Gewitter befruchtend und verderbend, so ist der Sachsenfürst über die niederdeutschen Lande hingezogen. Die tätigen und wohlwollenden Grafen von Schauenburg, von Herzog Lothar von Sachsen mit der Grafschaft Holstein belehnt, gründeten das alte und nach dessen Zerstörung das neue Lübeck in einer durch die umschließenden Flüsse Trave und Wakenitz gesicherten Lage. Die durch Adolf II. von Schauenburg gerufenen Ansiedler aus Flandern, Holland, Westfalen, Friesland brachten die neue Gründung trotz der gefährlichen Nähe feindlicher Wenden bald zur Blüte; gerade das aber erregte die zornige Eifersucht des damaligen Herzogs von Sachsen, Heinrichs des Löwen. Er fand durch diese schauenburgische Stadt seine ältere Stadt Bardewik, damals ein bedeutender Handelsplatz, beeinträchtigt, und da Graf Adolf sich weigerte, ihm die Hälfte der aus Lübeck erzielten Einkünfte abzugeben, entzog er ihr das Marktrecht. Zu diesem Schlage kam im Jahre 1157 eine vernichtende Feuersbrunst, was die hilflosen Lübecker bewog, an Herzog Heinrich mit der Bitte heranzutreten, er möge ihnen eine Stätte anweisen, wo Marktverkehr stattfinden dürfe. Er fand dies Ersuchen berechtigt und gründete weiter oben für die Bürger eine neue Stadt, die er Löwenstadt nannte, die aber, weil nur durch kleine Schiffe erreichbar, nicht gedieh. Da gab als der Klügere, wenn auch nicht Größere, Graf Adolf von Schauenburg nach und trat dem gewalttätigen Herzoge die Stätte des zerstörten Lübeck, Burg und Wohnplätze zwischen Trave und Wakenitz, ab. Eigentümer des Ortes geworden, betätigte Heinrich sich sofort als Förderer und Beschützer. Er erneuerte sein Leben, indem er ihm das Marktrecht gab, erteilte eine Verfassung, legte Münze und Zoll an, versetzte den Bischofssitz von Oldenburg nach Lübeck und gründete in Gemeinschaft mit dem von ihm ernannten Bischof Heinrich, der vorher Abt des Aegidienklosters in des Herzogs Stadt Braunschweig gewesen war, den Lübecker Dom. Ferner sorgte er dafür, daß Lübeck als Hafenstadt anerkannt wurde und in den bereits bestehenden Seeverkehr deutscher Kaufleute mit den nordischen Ländern eintrat, dessen Mittelpunkt damals die Stadt Wisby auf der Insel Gotland war. Den Goten von Wisby verlieh er das Recht der heimischen Kaufleute, verpflichtete sie aber zum Besuch seiner Stadt Lübeck.
Die Stadt Lübeck, der es nicht bestimmt war, Löwenstadt zu heißen, trägt keinen Zug des Herzogs, den sie von nun an als ihren Herrn und Gründer verehrte. Sie hat in ihrem Charakter nichts von seiner chaotischen Unberechenbarkeit, seiner Unbezähmbarkeit; es ist, als ob sie, so oft durch Feuer und Not geprüft, sich zur Bewußtheit und besonnenen Mäßigung entwickelt hätte. Es ist nicht zu verwundern, wenn Handeltreibende klug und umsichtig sind und die Grundlage ihres Wohlstandes, eben den Handel, zum Maßstab ihres Verhaltens nehmen; aber sie können durch Leidenschaft und Leichtsinn abgelenkt werden, was den Lübeckern schwerlich begegnete. Andererseits waren sie nicht nur Rechner und der Vorteil nicht ihr einziger Gesichtspunkt, sondern sie hielten stolz auf Recht und Ehre, und eben diese zwiefache Richtung ist für sie charakteristisch. Sie liebten es, ohne Tadel dazustehen und neigten dabei in ihrer Bewußtheit fast zum Korrekten; aber ihre Zurückhaltung und Selbstbeherrschung entsprang auch angeborener vornehmer Gesinnung. Dem Bürgermeister Heinrich Kastorp, der im Jahre 1488 starb, wird der gelegentliche Ausspruch zugeschrieben: »Lasset uns tagen! Die Kriegsfahne ist leicht ausgesteckt, aber schwer wieder einzuziehen!« Wenn sie aber den Krieg zu vermeiden suchten, und etwa auch zu diesem Zweck auf einen Vorteil verzichteten, sogar einen augenblicklichen Nachteil auf sich nahmen, so führten sie doch den Krieg, wenn sie ihn als notwendig erkannt hatten, entschlossen, kühn, großartig und siegreich. Als es sich um den Sundzoll handelte, den Dänemark verlangte und die Lübecker nicht anerkannten, erklärte der Bürgermeister Bruskow: »Leven Herren, vii hebben upsoken laten alle unse breve, vii konen kein bewiisz finden, dat wii tollfrii siin im Sunde, sunder alleine, dat wii den nii hebben gegeven.«
Das Verhalten der Stadt gegen den durch Barbarossa geächteten Herzog Heinrich zeigt mehr als Korrektheit und auch mehr als Bewußtsein von Ehre und Pflicht aufrichtige Anhänglichkeit, daneben wohl auch den Wunsch, sich nach allen Seiten sicherzustellen. Sie verweigerte dem mächtigen Kaiser den Eintritt und bat, als er beharrte und drohte, um Erlaubnis, den Herzog, als ihren Herrn, der in Stade war, um seine Einwilligung fragen zu dürfen. Der Kaiser dachte groß genug, sie zu geben. Heinrich der Löwe, zur Strecke gebracht und sich verloren gebend, erkannte die Treue seiner Stadt an und gab sie frei, worauf Friedrich I. der nun königlichen Stadt das erste, hochgehaltene Privileg verlieh. Vergleicht man das Benehmen der Bewohner Lübecks mit dem derer von Bardewik, die den gefallenen Beschützer nicht nur nicht einließen, sondern verhöhnten, sieht man, wieviel Kultur, Geschmack, diplomatischer Verstand und Rechtssinn den Lübeckern eigen war. Charakteristisch ist es auch, daß sie die Gebietserweiterung, die das Privileg von 1188, ihre Grenze umschreibend, ihnen zugestand, nicht in Anspruch nahmen, vermutlich abwägend, ob gut nachbarliche Beziehungen oder Vermehrung des Besitzes größeren Vorteil gewähre. Noch verfolgte Lübeck eine schmiegsame, auf kühnes Handeln verzichtende Politik; zu wagen auf ungewissen Erfolg hin lag ihnen nicht. Sie ließen Heinrich den Löwen ein, der zurückkehrte, als der Kaiser ins Heilige Land gezogen war, fügten sich, als Heinrich den Grafen von Schauenburg, den der König zum Teilhaber bestimmt hatte, ausschloß, fügten sich aber auch, als der vom nahenden Tode endlich überwältigte alte Löwe nachgab und sich nach Braunschweig zurückzog, um zu sterben. Sie unterwarfen sich sogar der dänischen Herrschaft, die ein kriegerischer Fürst, Waldemar II., über das ans Meer grenzende nördliche Deutschland ausbreitete. Kaiser Friedrich II. trat förmlich das von Waldemar eroberte Gebiet ab unter Bestätigung des Papstes; Lübeck fand um so weniger Ursache, sich um des Deutschtums willen aufzuopfern, als der dänische König seine Lebensquelle, den Handel, begünstigte. Die Befreiung kam ganz unvorhergesehen von anderer Seite; Graf Heinrich von Schwerin nämlich, der, vom Heiligen Lande zurückkehrend, den größten Teil seines Landes in den Händen der Dänen fand, überfiel Waldemar auf einer Insel, wo er mit seinem Sohne jagte, und führte beide in Gefangenschaft. Darüber kam es zum Kriege und zu einem Treffen, in dem der Graf von Schwerin siegte; nun erhoben sich auch die Lübecker und leisteten sogleich bei der Belagerung von Ratzeburg Hilfe, vergaßen aber trotz freudiger Begeisterung nicht, sich urkundlich bestätigen zu lassen, daß die Hilfeleistung nicht etwa auf einer rechtlichen Verpflichtung beruhe, sondern freiwillig sei. Auch in der Entscheidungsschlacht bei Bornhövede kämpften die Lübecker mit, der Überlieferung nach unter ihrem Bürgermeister Alexander von Soltwedel, den die Sage sich auserwählte, um den Ruhm einer bedeutungsvollen, aber dunklen Zeit an seinen Namen wie an einen Stern zu knüpfen. Vor der Schlacht aber, im Jahre 1226, hatte die kaum befreite Stadt Gesandte zu Kaiser Friedrich II. nach Italien geschickt, um sich die wiedergewonnene Freiheit durch ihn bestätigen und befestigen zu lassen. »Se sochten wisen rat,« heißt es in der Chronik, »wo se weder quemen an den Kaiser, eren rechten heren.« Die Boten kamen zurück mit zwei Urkunden, von denen jede doppelt ausgefertigt war, und zwar so, daß jede einmal mit einem Wachssiegel, einmal mir einer goldenen Siegelkapsel, einer bulla aurea, versehen war; die erste Urkunde bestätigt das von Friedrich I. verliehene Privileg, die zweite erteilte das unschätzbar hohe Gut der Reichsfreiheit.
Die maßgebende Stelle lautet: Concedimus firmiter statuentes at predicta civitas Lubicensis libera semper sit, videlicet specialis civitas et locus Imperii et ad dominium Imperiale specialiter pertinens, nullo unquam tempore ab ipso speciali dominio separanda.
Der Freiheitsbrief des Hohenstaufenhauses wurde als Grundlage der städtischen Selbständigkeit im Tresor der Marienkirche verwahrt. Wie mächtig oder wie schwach das Reich gerade sein mochte, die Reichsfreiheit erwies sich immer als schirmender Wall. Fortan nannte sich Lübeck die kaiserlich freie und des römischen Reichs Stadt oder die freie und Hansestadt Lübeck und trug diesen Titel weniger wie einen Orden als wie einen Zauberring, der die guten Geister in den Dienst des Trägers zwingt. Kaiserbilder und Kaiseradler prägten die Münzen. Ergreifend offenbart sich den Menschen unserer Zeit die mittelalterliche Idee des Kaisertums in jener ehernen Kaiserfigur, welche an der einen Wange des Beischlags vor dem Rathause dargestellt ist. Schwermütig, gütig, das große Haupt erfüllt von undurchdringlichen, die Welt umkreisenden Gedanken, sitzt der Alte da, man weiß nicht, ob Kaiser oder Gottvater, wie ja auch nach der Meinung des Mittelalters, die göttliche Gerechtigkeit und Gnade durch den Kaiser der Christenheit sich mitteilen sollte. Der wilde Mann auf der gegenüberliegenden Wange verdeutlicht die rohe Kraft des Elements gegenüber der göttlich geordneten Welt.
Wenn die Stadt sich gern mit ihrer Würde schmückte und das ihr damit verliehene Recht wahrte, nahm sie es ebenso ernst mit den Leistungen, zu denen sie sie verpflichtete. Solange das Reich bestand, stellte Lübeck als Reichsstand entweder die jeweils vorgeschriebene Zahl von Kämpfern oder die entsprechende Geldlieferung; es bezahlte die jährliche Reichssteuer durch alle Jahrhunderte entweder in die kaiserliche Kasse oder an diejenigen Fürsten, denen geldbedürftige Kaiser sie verpfändet hatten, bis zum Jahre 1806, wo das Reich unterging. Die Tatsache, daß es dem Reich angehörte, nutzte Lübeck nicht nur aus, sondern es diente ihr auch durch repräsentatives, zuweilen Opfer erforderndes Handeln.
Seit den Tagen Barbarossas gingen zweihundert Jahre vorüber, bis wieder ein Kaiser in Lübeck einzog: es war Karl IV., der sich in Brandenburg eine Hausmacht gründen wollte und deshalb für die nordischen Länder Interessen hatte, zu denen er auch durch seine Gemahlin Elisabeth von Pommern in Beziehung stand. So wie der Kaiser das Haupt der Hanse auszuzeichnen dachte, beschloß auch die Stadt, ihren Herrn mit allem Gepränge zu empfangen, das sie, wenn es darauf ankam, zu entfalten wußte. Zwei wichtige Privilegien, die Karl in Berlin ausstellte, bereiteten ihm den Weg: sie verliehen dem Rat die volle Gerichtsbarkeit des Landfriedens, so daß er als Stellvertreter der Reichsgewalt etwaige Friedensbrecher zu Land und zur See auch auf fürstliches Gebiet verfolgen konnte. Am 20. Oktober des Jahres 1375 fand der Einzug statt. Nachdem Kaiser und Kaiserin in der Gertrudkapelle vor dem Burgtor ihre kaiserlichen Gewänder angelegt hatten, bewegte sich die Prozession durch die Stadt zum Dom. Dem Herzog von Braunschweig-Lüneburg, der das Reichsschwert vorantrug, folgte unter einem Baldachin der Kaiser auf einem Pferd, das von zwei Bürgermeistern geführt wurde. Das Pferd der Kaiserin, die neben dem Erzbischof von Köln ebenfalls unter einem Baldachin ritt, führten zwei Ratsherren. Der Rat unterstützte zwar die Politik des Kaisers nicht, weil sie ihm nicht paßte, ließ aber von dem denkwürdigen Einzuge ein Gemälde herstellen und auf das Rathaus bringen, das im 17. Jahrhundert noch vorhanden war. In dem Hause des Gerhard Darsow, wo der Kaiser abstieg, befand sich in neuerer Zeit ein Gasthaus Zum deutschen Kaiser.
Die Reichsunmittelbarkeit, die Lübeck über die anderen Seestädte erhob, trug dazu bei, ihm eine führende Stellung in der Hanse zu ermöglichen; mehr noch begründete diese der Charakter, der es auszeichnete. Es ist erstaunlich, wie eine bestimmte Art von Diplomatie und Politik sich in Lübeck ausbildete und bei allem Unterschied der Personen bis ins 16. Jahrhundert dieselbe blieb. Was die handeltreibenden Städte der nordwestlichen und nordöstlichen Küste bewog, die Leitung ihrer auswärtigen Angelegenheiten Lübeck zu übertragen, vielmehr sie anzunehmen, war vor allem die Einsicht, daß keine andere so dazu befähigt war. Den Willen zu herrschen hätten wohl auch andere gehabt, nicht aber die Fähigkeit, anzuführen, die Geschäfte besonnen zu erledigen, die Verantwortung für eine große Interessengruppe auf sich zu nehmen. Die Menschen beugen sich in der Regel einer überlegenen Arbeitskraft und Verantwortungskraft, die entlastet, um so lieber, wenn sie nicht mit gebieterischer Gebärde auftritt. Die Lübecker hatten zuviel kluge Selbstbeherrschung und legten zuviel Wert auf das Wesen der Dinge, um den Schein der Herrschaft zu beanspruchen. Einmal in ihren Anfängen fand ein merkwürdiges, alleinstehendes Ereignis statt, als Lübeck Stralsund überfiel und verheerte, angeblich weil es die Dänen unterstützte, wahrscheinlich aus Eifersucht auf die aufblühende Nebenbuhlerin. Ein derartig ungeregelter Ausbruch kam nicht wieder vor; die Lübecker begriffen den Vorteil der Vereinigung gleichartiger Kräfte und Interessen zu gemeinsamem Handeln. Sie verschmähten es, vom Auslande nur sie begünstigende Privilegien zu erhalten, setzten vielmehr durch, daß alle berücksichtigt wurden. Weil sich alle gut bei Lübecks tatkräftiger und kluger Leitung standen, darum ließen sie sie zu, stillschweigende Huldigung überlegener Tauglichkeit. Wenn die Hanse auch nur durch die Mitwirkung vieler sich bilden und erhalten konnte, so hat doch Lübeck, das anerkannte Haupt, ihr das Antlitz gegeben. Wenn wir an die Hanse denken, sehen wir wesentlich Lübecks Gesicht. Das hatte auch seinen greifbaren Grund darin, daß viele Hansestädte lübisches Recht hatten, das Recht also, das sich in Lübeck entwickelt hatte und dort aufgezeichnet worden war. Lübeck selbst übernahm das Recht der westfälischen Stadt Soest. Von jeher stand Lübeck im Rufe, streng zu sein und das Recht für hoch und nieder gleichzumessen.
In allen gemeinsam von der Hanse geführten Kriegen waren lübische Bürgermeister oder Ratsherren Anführer, wie auch Lübeck die meisten Schiffe stellte; eine ungeheure Verantwortung. Im Jahre 1362 erlitt die hansische Flotte im Kriege mit Dänemark nach anfänglichen Erfolgen eine Niederlage, die der Bürgermeister von Lübeck, Johann Wittenberg, verschuldet haben sollte. Der Sage nach bot König Waldemar IV. der feindlichen Flotte, die, nachdem sie Bornholm erobert hatte, vor Kopenhagen lag, einen Waffenstillstand an und lud die Hauptleute zu einer Festlichkeit aufs Schloß. Johann Wittenberg, als Admiral besonders ausgezeichnet, habe die Königin zum Tanz aufgefordert, sie aber erwidert, es zieme sich nicht für sie, mit dem Anführer ihrer Feinde zu tanzen, außer wenn er ihr ein besonderes Zeichen seiner Freundschaft gebe. Auf eine Frage, was für ein Zeichen das sein solle, habe sie gesagt: »Bornholm.« Von ihrem Reiz hingerissen, habe er ihr das Gewünschte zugesagt und die ganze Nacht mit ihr getanzt. Die hansischen Herren hätten, das Paar beobachtend, untereinander geflüstert: »Dar danßt Bornholm hen.« Wittenberg wurde in Stralsund verhört und schuldig befunden; doch waren die Herren von der Hanse behutsam genug, die Entscheidung Lübeck anheimzustellen. Lübeck erwiderte die feine Geste mit der Enthauptung seines Bürgermeisters »wegen des zu Stralsund gefaßten Beschlusses«, wie es hieß, »und wegen anderer Sachen, die noch besonders gegen ihn vorliegen«. Aus den eingezogenen Gütern des Hingerichteten, so erzählt wieder die Sage, habe der Rat einen großen silbernen Becher anfertigen und darauf die Worte eingraben lassen: Dar danßt Bornholm hen; bei den jährlich zweimal stattfindenden Ratsfesten habe der Bürgermeister daraus seinen Hippokras trinken müssen. Diese derbe Mischung von Spaß und Grausamkeit ist indessen nicht eigentlich lübische Art. Hundert Jahre später kam es in einem Seekriege gegen Dänemark noch einmal vor, daß ein Lübecker Bürgermeister, es war Tidemann Steen, eine folgenschwere Niederlage verschuldete; er wurde mit Gefängnis bestraft, das nach mehreren Jahren in lebenslänglichen Hausarrest gemildert wurde.
Die Justiz des Mittelalters war rasch und hart und war es in den Städten besonders gegen alles, was geeignet war, die herrschende Stellung des Rats zu untergraben oder gar zu stürzen. Das war berechtigt, solange die Regierung so umsichtig, so unbedenklich Kraft und Leben einsetzend, das Gemeinwesen durch die von allen Seiten drohenden Gefahren steuerte und sich dabei mit der Bürgerschaft im Einvernehmen wußte, wie das jahrhundertelang der Fall war. Lübecks Ratsherren und Bürgermeister waren zugleich Feldherren zu Wasser und zu Lande, Verwalter, Diplomaten und Gesandte; viele von ihnen waren dauernd auf Reisen an verschiedene Höfe oder zu verbündeten Städten, um Verwicklungen zu lösen, um Kriegen vorzubeugen oder andere wichtige Aufgaben auszuführen. Solche Reisen hatten wenig mit Vergnügen zu tun, sie waren ebenso beschwerlich wie gefährlich, Kriegszügen durch feindliches Land vergleichbar, und wenn der Abgeordnete für Erfolge belohnt wurde, trug er auch persönlich die Verantwortung für etwaiges Mißglücken.
An Feinden fehlte es keiner Stadt: Lübeck hatte viele und sehr mächtige, besonders an den skandinavischen Reichen. Als stärkster Nachbar stand Dänemark immerwährend drohend auf der Schwelle und siegte in dem vielhundertjährigen Ringen mehrmals. Alle die angrenzenden Länder waren für die Seestädte des Reichs Absatzgebiete, und es kam nicht nur darauf an, sich ihrer zu erwehren, sondern Handelsbeziehungen mit ihnen zu erlangen und in Frieden mit ihnen zu bleiben. Lübeck, an der Spitze der Hanse, erreichte das, die Waffe in der Hand, Roggen, Schniggen und Schuten im Hafen, Waren im Speicher und das überredende Wort auf den Lippen. Lange Zeit beherrschte der hansische Kaufmann die Märkte von Dänemark, Schweden, Norwegen, England, Rußland. Innerhalb des Reiches mußte Lübeck vor den Herzögen von Mecklenburg, vor den Herzögen von Pommern, den Grafen von Schwerin und von Holstein, vor den brandenburgischen, den sächsischen und den braunschweigischen Fürsten auf der Hut sein. Wenn diese den Städten vom Kaiser als Schirmherr gesetzt wurden, war die Gefahr besondere groß, weil die sich als Hirten einschlichen, oft plötzlich den Wolf hervorkehrten. Dazu kam die dauernde Belästigung durch die holsteinischen Ritter, die mit Hilfe der Fürsten bekämpft werden konnten, während gegen die Fürsten manche Tohopesate mit befreundeten Städten geschlossen wurde. Deren Eifersucht oder Trägheit oder Willkür wirksam zu begegnen, dazu gehörte eine Klugheit und Festigkeit, wie sie keiner Stadt wie Lübeck eigen war. Das Fließende der Lebensformen ist für das Mittelalter überall charakteristisch; doch staunt man immer wieder, daß es möglich war, über siebzig Glieder der Hanse Jahrhunderte hindurch in einer Verbindung und einmütiger Tätigkeit zu erhalten ohne geschworenen Vertrag, ohne Gesetzeszwang, nur durch Freundschaft, welche auf gleichen Lebensbedingungen und gemeinsamer Erinnerung an gemeinsamen Kampf und Ruhm beruht. Die Beziehungen zu so vielen verschiedenen Ländern, von denen mehrere stets geneigt waren, vom friedlichen Handelsverkehr zu mörderischer Feindseligkeit überzuspringen, die Überwachung der verschiedenen Niederlassungen, die Vertretung der Interessen aller, die Aufrechterhaltung zugestandener Vorrechte, der Schutz gebührender Ehre, das brachte eine ungeheure Last von Geschäften mit sich und erforderte stets gespannte Wachsamkeit. Die lübischen Ratsherren und Bürgermeister, die Kastorp, Nybur, Perseval, Warendorp, Pleskow, durften ihre Würde, wie die Kaiser des Mittelalters die Krone, mit dem Bewußtsein tragen, daß sie nicht weniger drückte, als sie leuchtete.
In der Zeit der Handwerkeraufstände gab es auch in Lübeck eine Verschwörung, bei der hauptsächlich die Knochenhauer beteiligt waren, und an deren Spitze ein aus Westfalen eingewanderter verschuldeter Kaufmann, Hinrich Paternostermaker, stand; sie waren im Einverständnis mit den holsteinischen Rittern, die die Gelegenheit zu einem Überfall gern benutzt hätten. Nach rechtzeitiger Entdeckung der Verschwörung fanden 11 Hinrichtungen und 19 Verbannungen statt, was aber das Entstehen neuer Unruhen in späterer Zeit nicht verhinderte. Es waren hauptsächlich vermehrte Steuern, was die Ämter veranlaßte, Zutritt der Handwerker zu den Verwaltungsbehörden zu verlangen, was auch gewährt wurde; fest aber blieb der Rat gegen die Aufnahme von Handwerkern in den Rat, wodurch er seine Stellung in der Hanse aufs Spiel gesetzt hätte. Es gehörte nämlich zu den wenigen Grundsätzen, die die Hansestädte aufgestellt hatten, daß Handwerker nicht in den Rat aufgenommen werden dürften, und es war üblich, daß die Hanse diejenigen Städte, wo dieser Grundsatz durchbrochen worden war, vom Verkehr ausschloß, wodurch sie früher oder später zur Wiederherstellung der alten Verhältnisse gezwungen wurden. Als die Handwerker in Lübeck ihren Willen durchgesetzt hatten, wanderten die vier Bürgermeister, Heinrich Westhof, Jordan Pleskow, Goswin Klingenberg und Marquard von Dame, nach verschiedenen Richtungen aus und alter und neuer Rat bestürmten den Kaiser um Bestätigung ihres Rechtes. Das Ende war die Rückberufung des alten Rats, nachdem drei Hinrichtungen vollzogen waren. Auf dem nächsten, sehr besuchten Hansetage zu Lübeck wurde ein Beschluß gefaßt, der die Wiederholung solcher Aufstände unmöglich machen sollte. Im allgemeinen machten die erweiterten Räte die Erfahrung, daß sie, wenn sie die angesehene Stellung ihrer Stadt nach außen aufrechterhalten wollten, Geld brauchten und Steuern auflegen mußten, wodurch sie ihre Sicherheit und das unbedingte Vertrauen der Bürgerschaft verloren, die, wenn sie schon Vorteil von dem Wechsel nicht hatte, das patrizsche Regiment zurückwünschte.
Das verhängnisvolle sechzehnte Jahrhundert zeigte Lübeck vor dem Sinken noch einmal in vollem Mittagsglanze. Im Bunde mit dem schwedischen Reichsrat, an dessen Spitze Sten Sture stand, begann es den Krieg gegen Dänemark. Kaiser Maximilian, hochsinnig für die alte Reichsgewalt eintretend, nahm sich seiner nie säumigen Stadt an und forderte die deutschen Fürsten und Seestädte auf, Dänemark keine Hilfe zu leisten; als Landesherr der Niederlande untersagte er den Holländern die Fahrt durch den Sund. Die getreuen wendischen Städte Wismar, Rostock, Stralsund und Lüneburg unterstützten ihre Führerin mit einer Anzahl von Kriegsschiffen. Unter den lübischen Patriziern tat sich besonders der Kaufmann Cord König hervor, der mit selbstausgerüsteten Kaperschiffen 40 dänische Handelsschiffe wegnahm. Da das große dänische Admiralsschiff, der Engel, von der lübischen Maria wohl zum Weichen gebracht, aber nicht erobert wurde, erboten sich 16 Bürger, in kurzer Frist ein noch größeres Schiff bauen zu lassen, und hielten Wort. Das neue Schiff wurde zu Ehren des schwedischen Reichsvorstehers Gubernator genannt. In der Seeschlacht bei Bornholm wurde die überlegene nordische Flotte in die Flucht geschlagen und im Anschluß an die holländische Flotte bei der Halbinsel Hela zerstört. Froh des glänzenden Erfolges ging die vornehme Lübecker Politik den Frieden zu Malmö ein, der die Sieger zur Zahlung von 30 000 rheinischen Gulden verpflichtete, um den friedlichen Handelsverkehr wieder aufzunehmen. Schon im folgenden Jahre aber kam in Dänemark wieder einmal ein ehrgeiziger Fürst zur Regierung, der sein Reich zu einer Macht im Norden machen wollte, indem er alle Widerstände und Hemmungen überwände; im Inneren den unbotmäßigen Adel mit Hilfe der Bürger und die den dänischen Handel niederdrückende Hanse, draußen die aufständischen Schweden. Der bald ausbrechende Krieg führte zu dem Wunsch nach Verhandlungen, die in Schweden stattfinden sollten; der Reichsrat stellte dem König, es war Christian II., zu seiner Sicherheit mehrere Geiseln, unter denen sich ein junger Mann aus edlem schwedischen Geschlecht, Gustav Wasa, befand. Christian II., der Schwager Kaiser Karls V., ein Mann, der wohl große Entwürfe planen konnte, aber ohne große Gesinnung war, verkündete in plötzlicher, treuloser Wendung die Fortführung des Krieges, die Geiseln als Gefangene auf einem Schiff mit sich fortführend. Es war im Herbst des Jahres 1519, als in Lübeck ein schwedischer Bauer auftauchte und Zuflucht suchte; es war Gustav Wasa, dem es geglückt war, verkleidet zu entfliehen. Er fand freundliche Aufnahme; jener Cord König, der so großartig in den letzten Krieg eingegriffen hatte, lud den edlen Flüchtling in sein Haus ein. Die lübische Regierung hätte sich jetzt den König von Dänemark, der die Auslieferung des Wasa verlangte, verpflichten können; aber wenn sie überhaupt gezweifelt hatte, so währte es nicht lange.
Seine feindliche Absicht gegen die Hanse hatte der König schon bewiesen, indem er verschiedene Nationen durch Verleihung von Handelsvorrechten heranzuziehen versucht hatte; der Konflikt mußte jetzt oder später zum Ausbruch kommen. Wohl mag man auch annehmen, daß die Persönlichkeit des jungen schwedischen Edelmanns als eine Bürgschaft des Glücks auf die Ratsherren wirkte, die behutsam abwogen und rechneten, aber denn doch Gefühl für das Große hatten. Als nach dem Tode des schwedischen Reichsvorstehers Sten Sture der Adel dem Dänenkönig die Hauptstadt ausgeliefert hatte, erregte das Stockholmer Blutbad Abscheu gegen Christian II. und Rachedurst. An der Spitze schwedischer Bauern siegte Gustav Wasa, der die Rückkehr in seine Heimat gewagt hatte, über das dänische Heer, legte sich vor Stockholm und bat die lübischen Freunde um Hilfe. Sie waren darauf vorbereitet und dazu gewillt. Inzwischen hatte sich Christian II. zu seinem Schwager Karl V. begeben, um die für ihn gefährliche Hilfeleistung abzuwenden. Er soll damals den Kaiser gebeten haben, ihm das Städtlein Lübeck abzutreten, damit er einen Absteigeplatz an der Küste habe, und der Kaiser soll gleich dazu bereit gewesen sein; da habe ein Bürgermeister von Köln den Kaiser darüber aufgeklärt, daß Lübeck eine mächtige Stadt des Reichs und das Haupt der Hanse wäre. Der spanische Kaiser, seinem Großvater Maximilian unähnlich, ließ sich durch seinen Schwager bereden und verbot den Lübeckern das Bündnis mit seinen alten Freunden, den Dithmarschen, die Beziehungen zu Schweden, die Feindseligkeiten gegen Dänemark. Es gelang jedoch dem Bürgermeister Nikolaus Brömser und dem Ratsherrn Lambert Wittinghof, die der Rat alsbald nach Brüssel absandte, den jungen Monarchen zu belehren, so daß er das unbedachte Verbot zurücknahm. Dem Reichsregiment in Nürnberg, das dringend zum Frieden mahnte und mit der Acht drohte, gab Lübeck eine stolze Antwort, in der es zu bedenken gab, wie Basel und andere Städte vom Reich abgekommen wären.
Es waren im ganzen 34 Schiffe, zu denen später noch 11 von Danzig gestellte hinzukamen, die, geführt von den Lübecker Ratsherren Joachim Gercke und Hermann Falcke, Schweden zu Hilfe heranrückten. Außerdem leistete Lübeck den Schweden dadurch einen großen Dienst, daß es den Beitritt Herzog Friedrichs von Schleswig-Holstein in das Kriegsbündnis vermittelte. Am guten Ausgang seiner Sache verzweifelnd, verließ Christian II., wie einst Waldemar II., sein Reich, und Gustav Wasa, vorher zum Reichsvorsteher, nun zum König gewählt, zog in Stockholm ein. Die abziehende dänische Besatzung übergab die Stadtschlüssel den lübischen Ratsherren, Bernd Bomhower und Hermann Ploennies, den Anführern der Schiffe, die bei der Belagerung mitgewirkt und den dänischen Entsatzversuch abgeschlagen hatten. Sie überreichten die Schlüssel dem einst in Lübeck geschützten Flüchtling Gustav Wasa, in Wahrheit ihrem König. Ein großer, ergreifender Augenblick; die Sonne des Ruhms, die der hochgemuten Stadt oft leuchtete, stand über ihrem Scheitel.
Schon aber verfärbte sich der Himmel und verkündete unterirdisches Grollen das Erdbeben, das das Römische Reich zerreißen sollte. In Lübeck forderte die Bürgerschaft die Einführung der neuen Lehre, das Patriziat wollte, treu der alten Politik, vor allem das gute Einvernehmen mit dem Kaiser erhalten. Endlich mußte doch der Rat der Bürgerschaft, an deren Spitze Jürgen Wullenwever, ein geborener Hamburger, trat, Zugeständnisse machen, und die beiden Bürgermeister, Nikolaus Brömser und Hermann Ploennies, aus dem letzten Kriege bekannte Namen, verließen die Stadt, deren neue Richtung nach innen und nach außen sie mißbilligten. Jürgen Wullenwever wurde Bürgermeister und beherrschte das Gemeinwesen. Der leitende Gedanke seiner Politik, Holland zu bekämpfen, das mit Glück die Hanse zu verdrängen begann, die überraschende Wendung, daß er den gefangenen Christian II. befreite, um ihn im Kampfe auszuspielen, das alles war groß und kühn, um eine Note verwegener, als die Lübecker vorzugehen pflegten, wie auch seine Vorliebe für eindrucksvoll prächtiges Auftreten von ihrem zurückhaltenden Wesen abwich. Daß das großangelegte Unternehmen mißglückte, lag, abgesehen von der allgemeinen Lage, an der mangelnden Unterstützung, vielleicht auch an der Schwächung Lübecks durch den inneren Zwiespalt und das Fehlen des altgewohnten Regiments. Hermann Ploennies starb in seiner Vaterstadt Münster, während Nikolaus Brömser, inzwischen vom Kaiser in Brüssel zum Ritter geschlagen, von Wismar ehrenvoll zurückgeholt wurde. Wullenwever trat freiwillig von seinem Amte zurück und wurde nicht angegriffen; aber auf den Lübecker Patriziern ist der Verdacht haften geblieben, daß sie bei seiner Gefangennahme durch den Erzbischof von Bremen, dessen Gebiet er unvorsichtigerweise betrat, die Hand im Spiele hatten. Der Bruder des Erzbischofs, der vor keiner Gewalttat zurückschreckende Heinrich von Braunschweig, bemächtigte sich der Person des verhaßten Protestanten und Demokraten, machte ihm den Prozeß und ließ ihn grausam hinrichten, wobei die Lübecker mitwirkten, anstatt gegen die grobe Rechtsverletzung zu protestieren. Daß man dem Manne, der Lübecks Größe gewollt hatte, Diebstahl, Verrat, Begünstigung der Wiedertäufer vorwarf, bleibt ein Flecken auf der Ehre der herrschenden Geschlechter.
Unedel nicht nur, sondern auch unklug, also nicht mehr auf der Höhe ihrer früheren Politik, verhielten sich die Lübecker auch Gustav Wasa gegenüber, indem sie die Dankbarkeit, die er ihnen schuldete und auch nicht verleugnete, ungebührlich ausnutzten. Die Handelsprivilegien, die sie ihn zugunsten der Hanse unterzeichnen ließen, konnte er nicht aufrechterhalten, ohne sein eigenes Volk zu benachteiligen, und so zerfiel die Verbindung durch ein System der Erpressung, das wie ein fremdartiges Zeichen des Verfalls an der sonst so gemessenen Stadt berührt. Die alten Bundesgenossen, die Dithmarschen, preisgebend, verbündete man sich nun mit dem Erbfeind Dänemark. Der letzte Seekrieg, den Lübeck in den Jahren 1563-70 geführt hat, ging an der Seite Dänemarks gegen Schweden.
Welche Fehler aber auch begangen sein mögen, die hochherzige Kraft der Patrizier wie der Bürger offenbarte sich in diesem Kriege nicht weniger als früher. Die Bürger taten sich nach Straßen zusammen, um Geschütze gießen zu lassen. Auf einem standen die Verse: »Lübeck, du eerenrike stad – Dine börger der breden strat – Kobarg end klene borchstraten – Hebben di dit geten laten – Tho weren dines viendes overmod – Bi di seten wi god unde blot.« Bedeutende Erfolge entsprachen der Kampfbereitschaft. Das lübische Admiralsschiff, der Engel, eroberte das schwedische Admiralsschiff Mageloes, das danach verbrannte; die hundert Geretteten, unter denen der schwedische Admiral Jakob Bagge war, wurden gefangen nach Lübeck gebracht. Als durch ein Ungeschick beim Verladen des Pulvers auch der Engel verbrannte, wurde sogleich ein neues Admiralsschiff gebaut und Morian genannt. Nach einem heftigen, unentschiedenen Gefecht bei Gotland begruben die Dänen ihren im Gefecht durch eine Kugel getöteten Vize-Admiral in Wisby. Ein Sturm, der sich unterdessen erhob, zerstörte mehrere im Hafen liegende Schiffe; unter den lübischen war der Morian, der mit dem Anführer der Flotte, dem Bürgermeister Bartholomäus Tinnappel, unterging. In der Marienkirche zu Wisby, S. Maria Teutonicorum, der einzigen von den achtzehn mittelalterlichen Kirchen Wisbys, die noch heute erhalten und im Gebrauch ist, wurde er feierlich begraben. Den vorteilhaften Handelsvertrag, den der Frieden brachte, konnte Lübeck nicht behaupten; aber es hatte das rauschende Schlachtfeld, das seine Flotte oft zu Kampf und Sieg getragen, nicht ohne Opfer und ruhmvoll verlassen.
Es ist kein Wunder, wenn die Darstellung kriegerischer Entschlossenheit in der Lübecker Kunst unvergleichlichen Ausdruck gefunden hat. Während des ganzen Mittelalters waren der Erzengel Michael als Patron des Reichs und der heilige Georg als Patron der Ritterschaft häufiger Gegenstand der Kunst, und mancher würdigen Auffassung begegnen wir; nirgends jedoch ist der Akt des entscheidenden Schwertschlags so hinreißend dargestellt wie in Lübeck. Der heilige Michael von Benedikt Dreyer auf der Lettnerbrüstung der Marienkirche, der Sankt Jürgen von Henning von der Heide, jetzt ein Schatz des Annen-Museums, der Sankt Jürgen von Bernt Notke in der Hauptkirche von Stockholm, von dem Lübeck neuerdings bei Gelegenheit der Feier seines tausendjährigen Bestehens als Reichsstadt eine Nachbildung geschenkt erhielt, die in der Katharinenkirche ausgestellt wurde, alle diese Figuren entzücken durch die gesammelte Kraft der Bewegung, die trotz der Sicherheit des überirdischen Kämpfers mit äußerster Anstrengung vollzogen wird, die Phantastik des reptilischen Unholds, die Rüstung und den flatternden Mantel, der den Ritter wie die Essenz einer ungeheuren Schlacht umwogt. Diese Werke, wie auch der heilige Johannes in der Marienkirche, dessen seelenvolle Schönheit sich unvergeßlich einprägt, sind aus Holz geschnitzt; es ist dasjenige Material, in dem sich die Eigentümlichkeit deutscher Künstlerschaft am überzeugendsten ausgeprägt hat. Die farbige Wärme, das Kantige und Zarte des Holzes stimmten besonders gut zum Ausdruck alles dessen, was den mittelalterlichen Menschen bis zum 16. Jahrhundert erfüllte, zu Inbrunst und Herzlichkeit sowie zu Zorn und Rache, zu den von Arbeit und Trauer durchfurchten Greisengesichtern, zu dem Geflatter und Geknister der Mäntel, Flügel und Schärpen, die die Altarwände zuweilen wie ein dorniges Dickicht erscheinen lassen.
In der Architektur ging Lübeck schon früh zum Steinbau über und errichtete die Giebelhäuser, die uns eine nicht nur mächtige, sondern vornehme und kultivierte Stadt vor Augen führen. Wenig alte Städte haben sich so gut in das Moderne einfügen lassen wie Lübeck, einesteils zum Vorteil der vollendeten Erscheinung, anderseits aber ist dadurch vom Neuen etwas von seiner Phantasielosigkeit und Schablone auf das Alte übertragen und macht die Stadt stellenweise kälter, als sie einst war. Die Traulichkeit des alten Lübeck weht vielleicht nirgends so mächtig wie im Heiligen-Geist-Spital, wo am Sonntagmorgen die alten Männer mit den verwitterten Seemannsgesichtern in schwarzen Kleidern, bedächtig flüsternd, zwischen den Säulen und Bogen sitzen, sanft gewiegt, ohne es zu wissen, von dem schönen Raum, dessen Wände in verblaßter Malerei die Herrlichkeit der gekrönten Heiligen im Himmel erzählen.
Wie die bildende Kunst gepflegt wurde, so war auch das Interesse für Literatur und Wissenschaft verbreitet. Die Fastnachtsspiele, die aufgeführt wurden, hatten allegorische und sagenhafte Stoffe zum Gegenstand, wie Paris von Troja, das goldene Vließ, Kriemhild und König Karl. Schon früh sorgten die Ratsherren dafür, daß Chroniken verfaßt wurden. Eine solche begann im 13. Jahrhundert der Stadtschreiber Albert von Bardewik, der auch die wichtigsten Urkunden zusammenstellte. In der Reformationszeit waren es die protestantischen Geistlichen, die Chroniken in niederdeutscher Sprache verfaßten. Ein Bürgermeister des l5. Jahrhunderts setzte in seinem Testament Stipendien für 6 Studenten aus, die in Leipzig, Erfurt, Rostock und Köln studieren würden. Besonders Erfurt war stark von Lübeckern besucht. In bemerkenswerter Weise wurde die Musik gepflegt, indem der Bürgermeister Heinrich Kastorp und seine Freunde im Jahre 1462 eine Sängerkapelle stifteten, die aus 4 Priestern und 8 Sängern bestand. Eine Kapelle der Marienkirche wurde den Sängern zu bestimmten Stunden eingeräumt; denn es versteht sich von selbst, daß die musikalischen Aufführungen im Zusammenhang mit der Kirche waren. Auch die Abendmusiken, die der berühmte Organist Dietrich Buxtehude im 17. Jahrhundert in Lübeck veranstaltete, fanden zuerst in der Marienkirche statt, bis sie zu einer Art von weltlichen Konzerten wurden.
Lübeck ist niemals so verarmt und herabgekommen wie viele andere einst blühende Städte: es hatte zwei Talismane, das Meer und die Urkunden der Freiheit, die es im Tresor verwahrte. Nichtsdestoweniger litt es auch unter dem allgemeinen Niedergange. Viele Hansestädte kamen unter fürstliche Herrschaft, ohne daß die freigebliebenen es hindern konnten. Als der Kurfürst von Brandenburg Berlin unterwarf, beklagte der Lübecker Chronist, daß die Hansestadt eigen geworden war, »dor se vor vryg ware unde wol mochte hebben vryg gebleven«.
Abgesehen von dem Auseinanderfallen der Hanse schadeten den Seestädten die veränderten Handelsbeziehungen, die die Entdeckung Amerikas herbeiführte. Die Länder, deren Markt die deutsche Hanse beherrscht hatte, erstarkten zu unternehmenden Handelsstaaten, besonders Holland und England, die ihre Lage darauf hinwies. Hamburg, für die neuen Verhältnisse günstiger gelegen als Lübeck, entfaltete sich selbständig, von der Hanse losgelöst. Überall machte sich das Schwinden des Gemeingeistes fühlbar.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ereignete es sich, daß Handwerker und Brauer über gewisse patrizische Gutsherren Klage führten, die auf ihren Gütern durch ihre Gutsangehörigen brauen und weben ließen, und zwar nicht nur zu eigenem Bedarf, sondern sie hielten Schenken und vertrieben unter der Hand Ware nach der Stadt, was gegen das Zunftrecht war. Da die Behörden die berechtigten Klagen der Handwerker unbeachtet ließen, zogen sie erbittert aufs Land und zerstörten die Gerätschaften, die zur Herstellung der sie beeinträchtigenden Dinge dienten. Die geschädigten Gutsherren, darunter der Bürgermeister Gotthard v. Höveln, dachten niedrig genug, sich dem König von Dänemark als Untertanen anzubieten, womit sie sich zugleich Steuerfreiheit verdienten; denn der König von Dänemark bediente sich des rechtlichen Vorwandes, die betreffenden Güter hätten zu Holstein gehört, und die dortigen adligen Güter hätten das Recht der Steuerfreiheit. Das waren nicht mehr die königlichen Republikaner von einst, die sich dem alten Feinde Dänemark verkauften, weil sie sich einen verbotenen Vorteil nicht nehmen lassen wollten. Die Patrizier, die nicht mehr die früheren Gefahren wagten, nicht mehr die frühere Verantwortung trugen und doch die erste und herrschende Klasse sein wollten, wurden zu einer hemmenden Belastung für ihr Land. Auch waren es die alten Namen nicht mehr, die Jahrhunderte hindurch Freund und Feind mit Ehrfurcht genannt hatte, die Namen der Stolzen, die klug bescheiden ablehnten, als Kaiser Karl IV. sie schmeichelnd »Ihr Herren von Lübeck« anredete.