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Man pflegt den Norden Deutschlands als poetisch und künstlerisch unergiebig der Mitte und dem Süden gegenüberzustellen, wo allerdings das Schöne heimischer ist; um so mehr darf der Norden stolz auf denjenigen sein, der die Blütezeit unserer klassischen Dichtung eröffnet hat, auf Klopstock, geboren im alten Sachsenlande, in der Harzstadt Quedlinburg. In den kleinlichen Jammer einer Zeit, wo Deutschland nicht nur arm an Gütern, sondern auch an Liebe war, blies reinigend der Drommetenton seiner großen Gedanken und himmelstürmenden Rhythmen, rief seine metallische Stimme ergreifend den Namen Vaterland. Wenn er sich mit der Absicht trug, seinem Volk ein Heldengedicht zu schaffen, dessen Mittelpunkt Heinrich I. sein sollte, der größte deutsche König seit Karl dem Großen, der das verwüstete Reich neu ordnete und den Grund zu einer neuen Freiheit, der der Städte, legte, so ist dabei der Einfluß seiner Vaterstadt nicht gering anzuschlagen; ist doch Quedlinburg einer von den altsächsischen Orten, die sich rühmen, daß dort Herzog Heinrich dem Finkenfange nachgegangen sei, als ihm die Königskrone angetragen wurde, die er annahm, weil es deutschen Reiches Wille war. Mag das aber auch Quedlinburg bestritten werden, so verehrt es doch mit Recht Heinrich I. als seinen eigentlichen Begründer, und wie vernachlässigt der Ort zu Klopstocks Jugendzeit gewesen sein mag, so kann doch und vielleicht gerade in dem Zustande des Verfalls die alte Gruftkapelle mit dem Staube des Helden zündend auf die Phantasie des Knaben gewirkt haben.
Man nimmt an, daß der Edelhof Quitilinga, eine Ansiedelung vornehmer Thüringer an der Bode unterhalb des Schloßfelsens, schon lange bestanden habe, als Karl der Große dort eine Burg befestigte und neben Halberstadt zu einem Vorort des Harzgaus bestimmte. Im alten Sachsenlande ist das Andenken des großen Frankenkaisers nicht so wie im Westen und Süden als Heiligtum und Wahrzeichen festgehalten; denn er hatte ja die Freiheit und den gemeinsamen Besitz der Wälder und Fluren aufgehoben und den wilden, stolzen Stamm zwangsweise in ein Netz staatlicher Verwaltung gepreßt. Gleichzeitig sorgte er für die Einführung des Christentums, das die altheidnischen Naturgötter mit grausamer Gewalt der menschgewordenen Liebe unterstellte, eine tragische Notwendigkeit, die sich aus dem unlöslichen Widerspruch des menschlichen Geistes ergibt und für die sich die Beispiele in allen Jahrhunderten wiederholen. An der Grausamkeit jedoch hatten die vom Kloster Hersfeld abgesandten Benediktinermönche keinen Teil, die im Harz Kirchen gründeten, pflanzten und bauten und zu segenspendenden Lehrern des Jägervolkes wurden. Als ehrwürdige Spur ihres Wirkens hat sich in Quedlinburg die St. Wipertskirche erhalten, die in späterer Zeit mit einer Klosterkirche überbaut und dadurch zur Krypta wurde. Die aus dem 12. Jahrhundert stammende Kirche ist vor hundert Jahren verkauft worden und dient jetzt als Scheune, die Krypta wird noch aufgesucht als eins der ältesten Beispiele romanischer Baukunst in sächsischen Landen; sie weist den Wechsel zwischen Säule und Pfeiler auf, der für diese Gegend charakteristisch ist. Ein ähnliches Schicksal wie das alte Missionskirchlein der Hersfelder Kirche hatte die später von König Heinrich I. auf dem Sandsteinfelsen neben der Burg gegründete und zu seiner Grabstelle bestimmte Kapelle. Sie ist erst zum Chor einer neuen Kirche und später, als das Gebäude im Jahre 1070 durch Feuer zerstört war, in teilweise erneuertem Zustande zur Krypta einer neuerbauten Kirche geworden. Im Halbdunkel der unterirdischen Apsis steht der schlichte Steinsarg, in dem die Gebeine der Gattin Heinrichs, Mathilde, bestattet sind; der hölzerne Sarg, in dem der große König ruhte, ist mit ihm in Staub zerfallen. Nichts Körperliches ist übriggeblieben von den Stammeltern einer genialen, den größten Teil des kultivierten Abendlandes beherrschenden Dynastie; aber man sieht die schmalen Stufen, die die Witwe viele Jahre lang täglich hinabstieg, um am Sarge des geliebten Toten zu beten.
Nicht ohne Schatten war das Familienleben des Königspaares gewesen, das die lange Trauer und der Charakter Mathildens ehrwürdig gemacht hat. Heinrich hatte in der Jugend eine Witwe geheiratet, die nach dem Tode des Mannes sich in ein Kloster zurückgezogen hatte. Trotz entschiedener Weigerung mußte Heinrich dem Papste, der die Ehe deshalb für ungültig erklärte, endlich nachgeben und das Band lösen. Das beklagenswerteste Opfer dieser päpstlichen Strenge war Thankmar, der aus der Ehe hervorgegangene Sohn, der sich als Erstgeborener zur Nachfolge berechtigt fühlte und im Kampfe mit seinem glücklicheren Halbbruder Otto, dem ältesten Sohn der Mathilde, zugrunde ging. Man weiß nicht, welche Spuren der erste Liebesbund in Heinrichs Gemüt zurückließ, ob er die Entrissene vergaß, ob er die Aufgedrungene widerwillig annahm, ob er sie allmählich schätzen und vielleicht sogar lieben lernte; sie jedenfalls scheint in der Ehe, in der sie Mutter zweier hervorragender Söhne und auch bedeutender Töchter wurde, wenn nicht schattenloses Glück, so doch Frieden gefunden zu haben. Sie lebte in der Erinnerung fort als die edle, ganz dem Andenken ihres verstorbenen Mannes und in der Tätigkeit für das Wohl ihrer Kinder, sowie für das Wohl der Armen lebenden Matrone, ein Vorbild ehrbarer, frommer Frauen, Heinrich dagegen, als der junge Mann im kurzen Lockenhaar, wie das Siegel ihn darstellt, der sorglos den Vögeln nachstellt, nicht ahnend, welche Würde man ihm zugedacht hat, der dann aber, als König, die Zügel fest ergreift, sein Volk bewehrt, sein Land befestigt und die barbarischen Horden über die Grenze jagt. Der Finkenherd in Quedlinburg, ein kleiner, von altertümlichen Häusern umgrenzter Platz, dicht unterhalb des Schloßfelsens, kann die Anhänglichkeit des Königs an die Stätte, die er sich zur ewigen Ruhe erwählte, siegreich für sich anführen. Ein unanfechtbares Denkmal ist die mit seinem Siegel versehene Urkunde, vom Jahre 922 datiert, in der der Name Quedlinburg zum erstenmal, wenn auch noch nicht als Stadt, erscheint.
Die Entwicklung der Stadt, von der damals erst Keime in zerstreut liegenden Höfen vorhanden waren, wurde durch die Grabkapelle des Finklers bestimmt, insofern sein Sohn Otto kurz nach des Vaters Tode dessen Plan ausführte, ein Jungfrauenkloster zu begründen, das die Aufgabe haben sollte, die der Familie heilige Stätte zu pflegen und zugleich eine Versorgung für die Töchter fürstlicher und hochadliger Familien zu sein. Nicht als Kloster war die Stiftung gedacht, sondern als weltliches Reichsstift, das keinen anderen Herrn als Kaiser und Papst über sich hatte. Die darin eintretenden Frauen durften Vermögen besitzen und sich verheiraten, die Äbtissin hatte den Rang einer Reichsfürstin. Die erste Äbtissin war die Tochter aus Ottos I. Ehe mit der italienischen Adelheid, nach der Großmutter Mathilde genannt. Sie wurde zwölfjährig von ihrem Vater in Gegenwart der Großmutter, der Mutter und des Bruders, des künftigen Kaisers, ferner vieler Erzbischöfe und Bischöfe eingesetzt und mit dem Stabe belehnt. Vielleicht war die hohe Begabung, die der jüngeren Mathilde von den Zeitgenossen zugeschrieben wurde, dem Zusammenfluß sächsischen und italienischen Blutes zu danken; oft geht ja auch die Geisteskraft eines genialen Vaters mehr auf die Töchter als auf die Söhne über. Als Mathildens Neffe, Otto III., sie während seines Aufenthaltes in Italien zu seiner Vertreterin in der Reichsregierung ernannte, nahm sie sich derselben mit Nachdruck, Verstand und Erfolg an. Daß sie sich nicht vermählte, läßt auf Stolz und unabhängigen Sinn und auf Hingabe an die übernommene schwierige Aufgabe der Verwaltung des Stifts und des Reichs schließen. Sie starb mit 45 Jahren. Von ihr ging der Plan aus, die alte Heinrichskirche durch eine größere und prächtigere zu überbauen, der nach ihrem Tode ausgeführt wurde. Ihr folgten als Äbtissinnen eine Tochter Ottos II., Adelheid, und zwei Töchter Heinrichs III., Beatrix I. und Adelheid II. Jahre hindurch wurde das Stift, dessen Leiterinnen dem Herzen der Kaiser so nahestanden, von diesen reich beschenkt und mit Rechten begnadigt, die auch den unter der Burg liegenden Ansiedlungen zugute kamen.
Die Hohenstaufen hatten für die sächsischen Lande nicht mehr dasselbe Interesse wie die sächsischen und fränkischen Kaiser, wenn sich auch Barbarossa sechsmal in Quedlinburg aufhielt. Im Jahre 1181 erschien der besiegte Heinrich der Löwe vor einem hier abgehaltenen Fürstengericht, entfernte sich aber wieder nach einem heftigen Streit mit Bernhard, dem Sohn Albrechts des Bären. Der Überlieferung nach soll in der Krypta, die die derzeitige Äbtissin farbig ausmalen ließ, in einer der noch erhaltenen biblischen Gestalten das Abbild des mächtigen Hohenstaufen erhalten sein.
Während Könige und Kaiser die mit dem schroffen Felsen verwachsene Burg und Kirche pflegten und stärkten, keimte in geschichtslosem Dunkel die Stadt Quedlinburg. Das Geschick der Siedlungen, die schon vor Karls des Großen Zeit bestanden, beschränkte sich auf Glück und Unglück bäuerlicher Familien; erst die häufige Anwesenheit der Fürsten, die mit ihrem Gefolge verpflegt werden mußten, zog Kaufleute und Handwerker an und ließ ein vielfältiges Leben erstehen. Das Markt-, Münz- und Zollrecht, das Otto III. seiner Tante für das Stift gewährte, hob das Gemeinwesen und mit zunehmendem Wohlstand wuchs das Selbstvertrauen und die Tatkraft der Bürger. Sie regelten den Lauf der wilden Bode und legten das sumpfige, oft überschwemmte Gelände trocken, wodurch sie eine Straße in den Harz und Platz zum Anbau von Häusern gewannen. Aus den umliegenden Dörfern strömten Bewohner in das ehemalige Sumpfgebiet und erbauten dort auf Pfählen eine Kirche, die sie dem heiligen Nikolaus, dem Patron der Fischer, weihten, denn einst hatten dort Fischerhütten gestanden und ein Rathaus, das erst im Jahre 1890 abgebrochen worden ist. In der Altstadt waren schon früher ein Rathaus und Marktbuden entstanden. Die Neustadt war abhängig vom Stift, bis um 1300 eine Äbtissin ihre Rechte an den Grafen von Regenstein verkaufte, der seinerseits den Magistrat der Altstadt mit der Vogtei über den Nachbarort belehnte. So kam die Vereinigung von Altstadt und Neustadt zustande, die ihren Ausdruck in einem Gesamtrat fand, während zwei Bürgermeister das Doppelgebilde vertraten. Noch am Anfang des 19. Jahrhunderts führte die Regierung den offiziellen Titel: Bürgermeister und Rat beider Städte Quedlinburg. Das Wappen der Stadt war ein offenes Tor zwischen zwei Türmen, worin ein Hund sitzt.
Man muß sich wundern, daß die Altstädter, im Besitz der Vogtei über die Neustadt, sich mit ihr vereinigten, als ob sie von gleichem Range wäre. Vielleicht geschah es aus Weisheit, da sie sich so gegenüber gemeinsamen Gegnern verstärkten, während sie sonst vielleicht ihre Kraft in der Niederhaltung eines verwandten Gemeinwesens hätten verausgaben müssen; die Ursache könnte aber auch der gemütliche, nicht zur Herrschsucht neigende, vielleicht sogar etwas bequeme Charakter der Quedlinburger gewesen sein. Dafür spricht, daß es hier keine Kämpfe zwischen Patriziern und Handwerkern gegeben hat.
Doch hatte auch Quedlinburg eine heroische Zeit, die sich vom Anfang des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, also etwa 150 Jahre, erstreckt hat. Es war die Zeit, in welcher die Kaiser namentlich auf den Norden keinen bedeutenden Einfluß mehr ausübten, und in welcher die einzelnen Glieder des Reichs erstarkten und um sich griffen; unter diesen aber waren die Städte damals die lebensvollsten und kultiviertesten. Schloß und Stift hatten sehr an Macht eingebüßt, einmal dadurch, daß die Äbtissinnen einen großen Teil der Stiftsgüter hatten verkaufen müssen, besonders aber weil nach dem Aussterben der Salier die Kaiser die Schutzherrschaft über das Stift nicht mehr selbst und im Einverständnis mit den fürstlichen Damen ausübten. Sie kam im 13. Jahrhundert an die Grafen von Regenstein, die im Harz sehr begütert und für Quedlinburg gefährliche Nachbarn waren. Wie wenn sie einen Sturmbock an die Mauern heranschöben, erbauten sie zwischen dem Schloß und der alten Wipertskirche eine Wasserburg, genannt Gunstettenburg, eine Drohung, die sich sowohl gegen das Stift wie gegen die Stadt richtete. Außer diesen Blankenburger Grafen waren es noch die Bischöfe von Halberstadt, die Grafen von Hohenstein und die von Falkenstein, die sich auszudehnen und zu bereichern trachteten. Um sich gegen die Raublust dieser Herren zu sichern, suchte auch Quedlinburg, wie es im ganzen Reich üblich war, den Anschluß an andere Städte, die nahe genug lagen, daß sie einander in der Gefahr beispringen konnten. Im Jahre 1326 wurde in der Altstadt das Bündnis zwischen den Städten Halberstadt, Quedlinburg und Aschersleben beschworen, das solange dauerte wie die Selbständigkeit Quedlinburgs. Abweichend von dem üblichen Brauch, daß die hilfesuchende Stadt die Kosten der Hilfe zu tragen hatte, verpflichteten sich hier die Befreundeten, auf eigene »koste vnd aventure«, soviel sie vermochten, für einander auszustehen. Neben diesem Bündnis her gingen noch andere mit Goslar, Hildesheim, Magdeburg, Halle und auch mit Fürsten und Herren, die aber alle nur auf einige Jahre geschlossen wurden. Den stolzesten Klang hatte der Beitritt Quedlinburgs zur Hanse, der im Jahre 1426 stattfand; aber er hat der damals schon sinkenden Stadt keinen Nutzen mehr gebracht.
Da die Äbtissinnen hinter dem Schirmherrn zurückgetreten waren, sah Quedlinburg diesen als das größte Hindernis an, das der erwünschten Reichsfreiheit im Wege stehe, und trat deshalb in Beziehung zu dem Bischof von Halberstadt, Albrecht II., als zu einem Gegner des Grafen von Regenstein. Albrecht II., an Namen, Tapferkeit und Unternehmungslust dem Regensteiner gleich, scheint ein feiner Diplomat gewesen zu sein, denn es gelang ihm, den Quedlinburgern zu verbergen, daß er ihrer Freiheit ebenso nachstellte wie sein Feind; sie nahmen ihn als Schirmherrn an, und als solcher zerstörte er die Gunstettenburg, die ihnen ein Ärgernis war. Als der Halberstädter und der Regensteiner später wegen einer Erbschaftsangelegenheit wieder aneinandergerieten, kam die Stadt Quedlinburg dem Bischof, wie sie verpflichtet war, zu Hilfe und hatte das Glück, einen Hauptschlag zu führen. Erbittert darüber, daß die Quedlinburger es mit seinem Feinde hielten, besetzte und befestigte der Graf das Wipertskloster und rückte somit in gefährliche Nähe der Altstadt. Die Bürger beschlossen einen Ausfall, drängten die Regensteiner zurück, verlegten dem fliehenden Grafen den Weg und nahmen ihn, dessen Pferd im Sumpfe stecken blieb, gefangen. Auf dem Rathause wird den Besuchern noch ein großer, aus starken Brettern gezimmerter Kasten gezeigt, in dem der Graf 20 Monate lang gefangengehalten sein soll. Er ist geräumiger und luftiger als manches Verließ und mancher Käfig, worin man damals wohl besiegte Feinde einsperrte, und die Tatsache ist nicht unglaublich, wenn man sich auch wundern mag, daß der Graf nicht schon eher nachgab, um sich wieder wie üblich bewegen zu können. Er war nach der Überlieferung, und wie auch seine Sporen und Waffen bezeugen, die auf dem Rathause verwahrt werden, ein großer, starker Herr, ein Gegner, den überwunden zu haben die Städter stolz sein durften. Am Hohen Baum zu Quedlinburg, wo seit alters Verhandlungen abgehalten wurden, fand neun Monate nach der Gefangennahme des Grafen eine Sühne und Abmachung zwischen den Beteiligten statt, in der Weise, daß der Regensteiner Schutzherr des Stiftes blieb, aber das Schutzbündnis zwischen dem Bischof von Halberstadt und der Stadt Quedlinburg fortbestand.
Albrecht von Regenstein hat merkwürdigerweise keinen Versuch gemacht, seine schmähliche Niederlage und Behandlung an den Quedlinburgern zu rächen. Er war ein Mann ohne Glück; sein Gegner, der Bischof von Halberstadt, wurde über seine Ansprüche hinweg Graf im Harzgau und entging sogar ohne Mühe dem Fürstenbunde, der sich gegen ihn bildete und dessen Führer Albrecht von Regenstein war. Bei einem Ausritt des Grafen im Jahre 1348 überfiel ihn ein Anhänger des Bischofs und tötete ihn. Den Anstifter traf allgemeine Entrüstung, aber keine Strafe.
Die Nachfolger des kriegerischen Albrecht von Halberstadt waren so gelinde und gleichgültige Herren, daß sie die Schutzvogtei über Quedlinburg dem Magistrat verpfändeten. Nachdem dieser ein Jahr später auch das Münzrecht erworben hatte, war ein starker Schritt auf die Reichsfreiheit zu getan, obwohl die Landesherrschaft noch beim Stift war. Was die Quedlinburger im Sinne hatten, zeigte die Veränderung an, die sie mit dem Stadtwappen vornahmen: an die Stelle der Doppeltürme und des Hundes im offenen Tor trat der schwarze Reichsadler auf goldenem Grunde. Die alten Reichsfarben, Schwarz und Gold, trugen fortan auch die Fahnen und Siegelsteine, kurz alle die öffentlichen Abzeichen des städtischen Regiments. Aus der Zeit soll auch der steinerne Roland stammen, der dazumal, was er auch ursprünglich mag bedeutet haben, als Wahrzeichen städtischer Freiheit galt. Um dieselbe Zeit aber knüpften sich auch schon die Fäden zum Niedergange der Stadt. Angesichts des Aufschwungs ihrer Untertanen hielten die Stiftsdamen es für notwendig, an Behauptung und Wiedererwerb ihrer früheren Macht zu denken, und sie wählten deshalb im Jahre 1458 eine Tochter des Kurfürsten Friedrichs des Sanftmütigen von Sachsen, Hedwig, zur Äbtissin. Der Kurfürst, der auch Meißen und Thüringen in seiner Hand vereinigte, gehörte zu einer jener mächtig gewordenen fürstlichen Dynastien, die mit neuen Mitteln und Organisationen die alte Kaiserherrlichkeit zu zerstören drohten. Auf seinen Rat kündigte die Äbtissin dem Bischof von Halberstadt die Schutzherrschaft über die Stadt Quedlinburg auf, die er mit Genehmigung des Stifts dem Magistrat der Stadt verpfändet hatte, wobei ihre Absicht war, sie ihren Brüdern Ernst und Albert aufzutragen. Daß der Bischof sich weigerte, auf sein Recht zu verzichten, gab den Quedlinburgern den Mut, in ihrer bisherigen Politik fortzufahren: sie wollten ein Gesetz durchbringen, wonach die Bürger ihr Getreide nur in städtischen, nicht auch in stiftischen Mühlen mahlen lassen durften, und wollten ferner das Recht der Äbtissin, die Handwerker-Innungen zu bestätigen, abschaffen. Jetzt, dachten sie, sei der Augenblick gekommen, wo sich zeigen müsse, wer der Mächtigere sei; und es zeigte sich, daß die Stadt es nicht war. Die Äbtissin ergriff die Gelegenheit, die Hilfe ihrer Brüder anzurufen, die sofort eine starke Söldnerschar gegen die Stadt abschickten; deren Bundesfreunde aber versagten: die Hanse rührte sich nicht, Aschersleben lag selbst in Fehde, einzig die Stadt Halberstadt entsendete dem alten Bundesbriefe treu, ein Häuflein Bewaffneter, von denen vierzehn in dem sich entspinnenden Kampfe ihr Leben ließen. Nachdem der Stadthauptmann, Asmus von Schwichelt, gefallen war, entschlossen sich die Quedlinburger zur Übergabe der Stadt und unterzeichneten eine Unterwerfungsurkunde, gemäß welcher die kostbaren, in langer Zeit unter Kämpfen erworbenen Rechte dahinfielen, vor allen Dingen das Bündnisrecht und das Recht, Befestigungen anzulegen; die alten Freiheitsbriefe der Kaiser mußten ausgeliefert werden. Mit bitterem Grimm im Herzen werden die Ratsherrn zugesehen haben, wie die neuen Herren den Roland zertrümmerten; denn das Mittelalter liebte es, Symbole zu errichten und zu zerstören, überhaupt dem Geschehen einen sinnlich greifbaren Ausdruck zu geben. Erst im Jahre 1869, nach beinahe 400 Jahren, ist das inzwischen bedeutungslos gewordene Steinbild wieder zusammengesetzt und neu aufgerichtet worden. Es steht an der linken Ecke des würdigen Rathauses, das im Anfang des 17. Jahrhunderts durch ein prunkvolles Portal verschönert wurde.
Insofern gestaltete sich Quedlinburgs Geschick verhältnismäßig günstig, als die sächsische Regierung die Schutzvogtei über die Stadt, nämlich Gerichtsbarkeit und Verwaltung, dem Magistrat verpachtete. Schlechter ging es der Siegerin. Ihre Brüder, Ernst und Albert, ließen es der Schwester bald fühlen, daß sie für sich und nicht für sie gearbeitet hatten, rücksichtsloser noch war ihr Neffe, Georg der Bärtige. Die Schutzherrschaft wurde als Herrschaft ausgeübt, ohne daß Hedwig etwas dagegen auszurichten vermocht hätte. Die Überlieferung, vielleicht dem Rachegefühl der gedemütigten Bürgerschaft entsprungen, will, die Äbtissin habe sich einmal in ihrer Bedrängnis als Magd verkleidet, in das Haus des Bürgermeisters Ambrosius Grashoff geflüchtet. Indessen, trotz allem, was etwa Tröstliches oder Genugtuendes geschah, war Quedlinburg eine Territorialstadt, waren Ratsherren und Bürger Untertanen geworden. Dies Verhältnis wurde noch nachdrücklicher betont, als August der Starke im Jahre 1697 die Schutzherrschaft über Quedlinburg um 240 000 Taler an den Kurfürsten von Brandenburg verkaufte. Die Stadt, die sowenig wie die Äbtissin dabei gefragt worden war, wurde durch ein preußisches Grenadierregiment, an dessen Spitze Leopold von Dessau stand, überfallen und besetzt, ohne daß nennenswerter Widerstand geleistet worden wäre. Längst war der Stolz der Bürgerschaft erloschen. Bald fügte man sich in die neuen Verhältnisse, ja in den Zwistigkeiten zwischen den Hohenzollern und dem Stift nahmen die Quedlinburger die Partei des neuen Schutzherrn.
Den Reisenden, der sich Quedlinburg nähert, empfangen die farbigen Felder seiner Blumenzüchtereien wie festlich ausgebreitete Teppiche in gelben, braunen, violetten und purpurnen, in allen erdenklichen Schattierungen. Im Hintergrunde steigt der Felsen auf, der Kirche und Schloß hoch über die Niederung erhebt. Hier an der Stätte der Gründungen der ersten sächsischen Könige haften die ältesten Erinnerungen. Die Stadt, die darunter liegt, ist sehr reich an hübschen, teilweise reich verzierten Fachwerkbauten und besitzt außerdem eine seltene Merkwürdigkeit, nämlich ein zweistöckiges Langständerhaus von der Art, wie man vor dem 15. Jahrhundert baute. Diese Häuser waren noch nicht in selbständige Stockwerke abgeteilt, sondern ruhten auf langen Ständern, konnten keine Vorkragungen haben und waren überhaupt ganz schmucklos. Die Straße, an der das älteste Haus Quedlinburgs liegt, hat den altertümlichen Namen Wordgasse. In seiner klotzigen Schlichtheit und Unwohnlichkeit hat es etwas von einer winzigen Lehmfestung. Über den halb bäuerlichen Charakter, den die Stadt auch zur Zeit ihrer Blüte hatte, ist sie nicht hinausgewachsen. Als im 16. Jahrhundert die Städte im allgemeinen ihrem Wohlstand und ihrem Selbstgefühl in herrschaftlicheren Wohnbauten Ausdruck gaben, war Quedlinburg schon unterdrückt, hätte wohl aber auch als freies Gemeinwesen, da es nicht handeltreibend war, keinen höheren wirtschaftlichen Aufschwung nehmen können.