Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Die alte Dame war schon lange auf der Bühne; sie leitete das Ganze, sie war Regisseur, von ihr schien alles abzuhängen. Fox sprach seine Rolle im Tone eines Leutnants. Herr Steinert war verzweifelt: Das geht nicht, Sie müssen frauenhafter, damenmäßiger sprechen! Aber Frau Ida meinte: Laß ihn doch, Hermann! das gibt ja gerade einen schönen Effekt! Das wirkt fabelhaft! Wie er jetzt dasteht, dies Trockene, Geschäftsmäßige – das macht ihm so leicht keiner nach. Denke dir doch noch die Perücke und die Frauenkleider, das wird ja zum Schreien! – Fox kam recht deprimiert nach Hause. Ekelhaft war ihm dies Ganze, und seine Kollegen und Kolleginnen – außerhalb des Theaters würde er mit keinem einzigen von ihnen sprechen, das war ausgemacht!

Was waren das auch für Geschöpfe! Er erkannte da einen Herrn wieder, der die Bonvivantrollen spielte. Am ersten Mittag hatte der mit ihm am selben Tisch gegessen, einzig und allein ein Ragout fin – nichts, nichts weiter. Und am selben Nachmittag hatte er ihn schon aus dem Fenster eines schnell gemieteten Zimmers schauen sehen. – Und die Damen, von denen war überhaupt nicht zu reden; wie Schneidermädchen, die sich billig und auffallend herausstaffiert haben, zogen sie über die Straßen; seine Partnerin, die Donna aus Charleys Tante, begegnete ihm abends auf dem Markte, ganz allein stand sie da, vom Wirtshaus zum Café, vom Café zum Wirtshaus sehend. Das war doch höchst fragwürdig! und als er an ihr vorbeischritt, zwinkerte sie und hakte ihren kleinen Finger in den seinen. – Alle nannten sich du, ihn selbst nannten sie auch du, er konnte nichts dagegen tun.

Die Aufführung von Charleys Tante nahte heran. Fox hatte seine Rolle gründlich gelernt, die Zeigefinger in die Ohren gebohrt, wie ein Schuljunge. Die Frau Direktor spielte mit großer Kraft einen einleitenden Galopp auf dem Klavier, dann zog ihr Mann den Vorhang auf, indem er sich, ihn in Bewegung zu setzen, an den Strick hängte. Fox hatte nicht das geringste Lampenfieber. Durch das kleine Loch im Vorhang sah er, ehe das Stück begann, in den Zuschauerraum, und empfand nichts weiter als Verachtung vor dieser kleinbürgerlichen Menge, die da unten Bier trank und rauchte und sich freute auf die Unterbrechung ihres stumpfsinnigen Einerleis.

Als er nun selbst auf die Bühne trat, erhob sich hier und da ein Klatschen, da man ihn erkannte; der hagere Offizial und der Vater des Gretchens, die inzwischen an ihren Stammtischen genügend geneckt waren, versuchten zu zischen, was nur den Applaus anwachsen ließ. Fox aber, wie ein großer, berühmter Gast, trat vor und verneigte sich dankend. Zurück! flüsterte der Direktor, halb ängstlich, halb erfreut, Sie stören das Ensemble! Und wie nun Fox, im Augenblick wie zerstreut, auf die Mitspielenden sah, als wolle er sagen: Ach, ihr seid ja auch noch da, euch hatte ich total vergessen! – brach der Applaus von neuem los. – Bis zu dem Moment der Verkleidung hielt sich das Publikum ruhig, aber als er dann anfing, sich als Dame hin und her schieben zu lassen, als er halb ungeschickt über seine Kleider stolperte und sich endlich fast nur noch wie in einem Zustand der Notwehr befand, gereizte Blicke um sich werfend wie ein Kater, der sich von Hunden bedrängt sieht, war der Erfolg vollkommen. Man nahm das, was in Wahrheit Unfähigkeit war, für raffinierte Kunst, und die Stammtischgäste aus dem Wirtshaus sagten: ja ja, so auftreten wie der damals kann auch nur ein ganz genialer Mensch! – Fox durfte sich am Schluß viele Male verneigen. Die Frau Direktor sprach ihm ihre Anerkennung aus, sagte mit Emphase, sie habe mit ihrer Prophezeiung recht gehabt und zog seinen Kopf, ehe er es verhindern konnte, an ihren Busen, der ungelüftet roch. – Diese Theaterleute, dachte er mit einem parenthetischen: Pfui Teufel – wissen doch nie die Grenze einzuhalten. – Charleys Tante wurde sofort wiederholt, und dann ging es an neue Stücke.

Fox übernahm jede Rolle mit einem verschluckten Proteste, er spielte sie, wie wenn man ihm einen ekelhaften Gegenstand zur Untersuchung übergeben hätte, gegen dessen Berührung er sich zuvor mit seinen roten Glacéhandschuhen bewaffnete, ehe er mit steifem Finger bald hier, bald da hineinstieß. Anfangs erreichte er damit immer wieder die erste Wirkung, aber schließlich fand man ihn langweilig. Einmal zischte sogar einer, worauf Fox mitten im Satze abbrach und in den Saal hineinstarrte, als wolle er den Zischer rügen. Herr Steinert suchte ihn nunmehr in Chargenrollen zu beschäftigen und begann einzusehen, daß er an Fox keine gute Kraft gewonnen habe. Fox war damit ganz zufrieden, betonte Herrn Steinert gegenüber, er sei ja auch eigentlich «Held», und hier falsch am Platze, und hegte keinen Groll gegen den jungen Mann, den Herr Steinert das nächste Mal probeweise als Lumpaci Vagabundus herausstellte. Aber auch in seinen Chargenrollen sprach Fox genau so wie vorher, und während einer Aktpause in Wilhelm Tell bekam er Vorwürfe vom Direktor, er solle sich mehr zusammennehmen, mehr wirkliches Feuer und patriotische Leidenschaft entwickeln. Herr Steinert spielte selbst den Wilhelm Tell und riß alles mit fort im Taumel seiner Rede. Frau Ida aber spielte, abgesehen von ihrer Mechtildrolle, noch eine andere, indem sie sich als alter Attinghausen im Rollstuhl hereinschieben ließ, ohne daß das Publikum den Betrug bemerkte, da der Theaterzettel einen anderen Namen aufwies. – Mensch, sagte Herr Steinert nach der Vorstellung zu Fox, Sie spielen immer wieder als Charleys Tante, das geht nicht, das geht wirklich nicht! – Aber Fox ließ dies nicht auf sich sitzen. Voll Antipathie starrte er auf dieses schwarzäugige Gesicht mit dem blonden unechten Germanenbart darunter: Schaffen Sie doch erst mal andere Dekorationen! In Ihrem Tell ist ja auch alles genau so wie in Charleys Tante! Wo bleibt denn da die Illusion?! Und die Kostüme sind ja auch immer dieselben! Ihre Berta von Bruneck zum Beispiel ist doch wieder nichts weiter als die Nichte von der Tante, und wenn sie sich auch ein grünes Umschlagetuch umhängt – für mich ist das noch lange kein Jagdkleid! Die Hälfte der Personen fehlt überhaupt ganz und gar, weil Sie keine genügende Anzahl von Kräften haben; was können Sie da vom einzelnen verlangen! Intrigen gibt es bei mir nicht, sagten Sie damals zu mir, als ich bei Ihnen eintrat; das verstehe ich jetzt vollkommen. Das bißchen Personal hockt ja hier zusammen wie eine kleine Familie im Regen, ohne Obdach! Jeder ist auf die Hilfe des Nachbars angewiesen, und einen Intriganten im wirklichen Sinne des Wortes besitzen Sie überhaupt nicht! Der Gessler wurde zum Beispiel vom Bonvivant gegeben! – Das verstehen Sie nicht! Das zeigt nur wieder, daß Sie sich in die Verwandlungsmöglichkeiten der einzelnen Kräfte nicht hineinzuversetzen vermögen, und das ist es ja, was ich Ihrem eigenen Talent vorwerfe! Außerdem: Die Charakterrolle wurde nicht vom Bonvivant gegeben, sondern eine Bonvivantrolle zufällig vom ersten Intriganten; das schadet nichts, absolut nichts, ich liebe es, meine Leute untereinander zu vermischen, auf die Weise erzielt man Allseitigkeit der Ausbildung! – Gemischt sind sie wahrhaftig genug! sagte Fox und ärgerte sich, daß der Direktor dies nicht mehr zu hören schien, denn er hatte sich abgewendet, war auf einen Stuhl geklettert und hatte eigenhändig eine vergessene Gasflamme ausgedreht, und jetzt schrie er den Diener an: Die Beleuchtung verschlinge sowieso ein Heidengeld, und ob er meine, die Bühne solle heut abend noch einmal als Tanzsaal benutzt werden.

Überall herrschte ein ganz entsetzliches Sparsystem. Zum Schminken, An- und Auskleiden gab es für Herren und Damen nur je einen einzigen kleinen Raum, nur die Damen hatten einen Spiegel, den Frau Steinert jeden Abend mit nach Hause nahm, da er ihr Privateigentum war, das sie morgens bei der Toilette benötigte. – Feste Kostüme, deren einzelne Bestandteile man nicht trennen durfte, schien es nicht zu geben. Wie in einem Trödelladen war alles durch- und übereinander gehäuft, jeder suchte sich heraus, was ihm nötig oder erstrebenswert erschien, und namentlich gab es da einen alten roten Samtmantel mit unechtem Goldbrokat, der unter den Damen ein ernstliches Zankobjekt bildete, während die Herren schon tagelang vor einer bestimmten Aufführung ein schwarzes Atlaswams zu «belegen» pflegten, das einst bessere Zeiten gesehen zu haben schien. Nur der Direktor besaß einige Kostüme, die niemand in Bruchstücken für sich selbst verwenden durfte.

«Ich komme gleich, ich muß nur noch mal in den Saal»; dies Wort, das Fox häufig nach den Vorstellungen um sich herum hörte, verstand er anfangs nicht. Allmählich begriff er den Sinn: Gegen ein kleines Trinkgeld ließ der Kellner die Tische unten nach der Vorstellung noch einige Zeit unabgedeckt, und bei der spärlichen Beleuchtung der Sicherheitsstearinlampe am Türeingang huschten die dunklen Gestalten der Künstler und Künstlerinnen von Tisch zu Tisch, nach Bierresten und wohl auch nach halb aufgegessenen Brötchen und Fleischteilen spähend, und unter ihnen tat sich eine Dame ganz besonders hervor, welche «die appetitliche Giftmischerin» genannt wurde, weil sie nicht, wie die andern, jeden Rest für sich austrank, sondern alles in ein einziges Bierseidel zusammengoß, da sie dieses appetitlicher fand. Zuweilen kam es mit dem Kellner zu Szenen, da man ihm vorwarf, die besten Reste tränke er schon vorher selbst. Hier regelte sich auch die Nachfrage des einzelnen nach Tabak; ein Nichtraucher konnte einen Schluck Bier eintauschen gegen ein Zigarrenende, das er selbst verschmähte. Fox fand dieses Unwesen empörend: Lieber hätte er gehungert und gedürstet, als daß er da hinabgestiegen wäre!

Mit den Künstlern und Künstlerinnen war es ähnlich wie mit den Kostümen: Manchmal schienen zwei ein Ganzes zu bilden, bis sich plötzlich beide Teile mit einem dritten oder vierten vereinigt fanden. Es war unmöglich, in dem Knäuel der Möglichkeiten etwas Bestimmtes, Bleibendes festzustellen. – Fox blieb auf die Dauer hiervon nicht unberührt; er schenkte seine Zuneigung einer jungen Dame, die ihm noch ganz passabel erschien, wie er sich ausdrückte, verbot ihr aber, jemals «verhindert» zu sein. – Alle Damen waren manchmal verhindert, das wußte jeder, niemand fand etwas daran.

Nur der Direktor und seine Familie führten ein streng in sich abgeschlossenes Leben. Was es mit ihm und seiner Frau auf sich hatte, wußte Fox nun auch. Frau Steinert war ursprünglich die Witwe eines Theaterdirektors, der ihren Jahren angemessen gewesen war. Schon zu dessen Lebzeiten hatte Herr Steinert, der unter ihm ans Theater gekommen war, sich erfolgreich um die Gunst des Kindes, ihrer Tochter, bemüht. Der Direktor starb, und nun machte Herr Steinert der Witwe den Vorschlag, er wolle die Tochter heiraten und gleichzeitig die Direktionsstelle des Vaters übernehmen. Da aber deutete ihm die Mutter an, der Weg zu jener Stelle ginge nur über sie selber. So entschloß er sich dazu, sie zu ehelichen. Aber Frau Steinert konnte es nicht verhindern, daß er auch ihrer Tochter weiter in Treue zugetan blieb. Anfangs entrüstet, fand sie sich allmählich damit ab, da er sie selber durchaus nicht vernachlässigte, die erste Zeit wenigstens, und sie in ihrer Tochter das jugendliche Ebenbild ihrer selbst erblickte. Und mit einem gewissen Rechte betonte sie allen Menschen gegenüber das innige Zusammenleben der kleinen Familie. Erst in den letzten Jahren waren die ehelichen Beziehungen erkaltet, und Frau Steinert rächte sich auf ihre Weise: Sie war eine kluge Frau und hatte sich mit jener Ehe, wie sie es nannte, nicht übers Ohr hauen lassen. In allen obersten Entscheidungen blieb das Vorrecht ihr, und dieses Recht übte sie nun rücksichtslos aus; ihr Mann war dem Namen nach Direktor, in Wirklichkeit war sie die Erste.

Wie sie Fox damals erblickte, war es wie ein Sonnenstrahl in ihr alterndes Herz gefallen, und Fox, der ihr zu Dank verpflichtet war, da sie von Anfang an sein Talent durchschaute und auch sein Engagement durchsetzte, begegnete ihr stets mit Ritterlichkeit. Wenn sie allein waren, streichelte sie zuweilen seine Hand und nannte ihn «mein Söhnchen», was er sich, wenn auch widerwillig, gefallen ließ. – Er war stets der erste, der seine Gage ausbezahlt bekam, und wenn er die letzten Tage fast gehungert hatte, so entschädigte er sich nun gleich durch doppelte Ausgaben, so daß seine Kasse nach vierzehn Tagen schon wieder auf dem Nullpunkt angekommen war. Dann gab es einen Vorschuß, den die Frau Direktor, wie sie mit bedeutender Stimme sagte, nur ihm bewilligte. – Wirklich eine vornehme Frau! dachte er. Sie lud ihn auch manchmal zu sich ein, wenn sie allein war, und setzte ihm sehr viel Likör vor, den sie selber gerne trank. Sie klagte ihm auch nach und nach ihr Leid, wie sie im Grunde eigentlich allein stehe. Er dachte: arme Frau! und da er sich zu ihr auf das Sofa hatte setzen müssen, und sie ihm wie schutzbedürftig die Hand entgegenhielt, nahm und drückte er sie, konnte seine eigene dann aber nicht mehr zurückziehen, da sie sie festhielt. – Ich würde Ihnen ja gern Ihre Gage erhöhen, wenn Sie das wünschen, für Sie tue ich alles, was Sie wollen, wenn Sie nur ein wenig Mitleid mit mir haben! Sie war ihm nahegerückt, und jetzt lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Fox befreite sich sanft, aber eindrucksvoll von ihr, stand auf und sagte in vollkommenem Kavalierton: Gnädige Frau, Sie sind schonungsbedürftig! Wollen Sie nicht ein wenig ruhen? Gestatten Sie, daß ich Sie deshalb verlasse. – Sie begriff die Lage sofort. – Jawohl, ich bin schonungsbedürftig, sagte sie in ihrer langsamen Sprechweise, nachdem sie ihn mit einem sinnenden Blick gemustert hatte, Sie haben recht, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gehen wollen, man sagt das seinen Gästen nicht gern selbst. Leben Sie wohl – nun, heute abend sehen wir uns ja auf der Bühne.


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