Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Fox arbeitete zu Hause weiter an seiner Entwicklung. Wenn Freunde seines Vaters zu Tisch kamen, merkte er stets auf die Unterhaltung, sein gutes Gedächtnis ließ ihn vieles behalten, und später wiederholte er es anderen Leuten gegenüber als sein geistiges Eigentum. So gelang es ihm, bei Menschen den Glauben an Frühreife wirklich zu erwecken, nachdem sie im ersten Augenblick über ihn gelacht hatten. Solchem Lachen pflegte er einen ernsten, bedauernden Blick entgegenzusetzen. Er verdarb es mit niemand, auch nicht mit solchen, die ihm unangenehm waren. Wie oft kam es vor, daß Herr Sintrup über irgendeinen Menschen in der lästerlichsten Weise redete; begleitete ihn Fox noch am selben Nachmittag auf der Straße, so konnte es geschehen, daß Herr Sintrup denselben Herrn auf die kordialste Weise ansprach, ihm derb die Hand schüttelte und sich bedauernd wieder von ihm trennte. – Weltgewandtheit, mein lieber Fox, Weltgewandtheit muß man haben; ohne die kommt man nicht aus im Leben! Der Kerl da weiß ganz genau, was ich von ihm denke; und ich weiß ganz genau, was der Kerl von mir denkt. Mit der einen Hand hält man sein Portemonnaie fest, mit der anderen winkt man sich zu, das ist einmal nicht anders! – Fox eiferte seinem Vater nach; und wenn der öfter gezwungen war, größere Reisen zu unternehmen – was Fox jetzt noch nicht konnte –, so stellte er sich dafür manchmal auf den Bahnhof, wartete, bis der große Eilzug kam, der für wenige Minuten verweilte, kletterte hinein, sah für ein paar Augenblicke ernst und interessant aus dem Fenster einer ersten Klasse, stieg dann wieder heraus und ging, die Hände in den Hosentaschen, mit einem erschöpft-bedeutenden Gesichte auf dem Bahnsteig auf und ab.

Fox war faul. Aber er hatte die größte Meinung von sich und seiner Zukunft, und oft redete er davon, er werde Pitt sogar noch auf der Schule überflügeln. Sein außerordentliches Selbstvertrauen aber ließ ihn auf persönliche Anstrengungen verzichten, indem er dachte, alles würde schon von selber getan; und so kam es, daß Pitt, der sich ebenfalls keine Mühe gab, doch immer voran blieb. Pitt machte seinen Weg genau so, wie er auf der Straße, wie er zu Hause ging: leise, ohne sichtbaren Rhythmus. In kein Ding vertiefte er sich wirklich, er hatte keine Zu- und keine Abneigungen, er erledigte seine Schularbeiten ohne Hast, ohne Leidenschaft, nicht spielerisch, auch nicht zerstreut, aber so, daß seine Lehrer sagten: Es fehlt ihm das Mark und die Kraft! Es kam vor, daß man ihn ungerecht bestrafte. Trat dann durch Zufall seine Unschuld an den Tag, und fragte man ihn verwundert, weshalb er sie denn nicht von vornherein beteuert habe, so sagte er wohl: Es ist ja alles doch ganz gleich! – War aber ein Verdacht gegen ihn begründet, und ging er nur nach einer falschen Richtung, so klärte er alles auf, mit belehrender Offenheit, die an Unverfrorenheit grenzte, gleichsam als Dritter, Unbeteiligter, Darüberstehender, und es hätte nur gefehlt, daß er, wie einmal ein Lehrer sagte, von sich selbst als «er» gesprochen hätte. Man hielt ihn für kalt und hochmütig. Er selbst hielt sich weder für das eine noch für das andere. Ihm war, als führe er hier zu Hause und auf der Schule ein Traumleben, und als müsse das anders werden, sowie er draußen wäre. Daß er seinen Eltern nicht nahestand, lag an seinen Eltern; daß er keine Freunde hatte, lag an denen, die zur Auswahl standen; mit geläufiger Zunge setzte er alle ihre Nachteile und Schwächen auseinander und sprach über sie wie über die einzelnen Objekte einer Sammlung.

Sein Examen rückte nun heran und damit auch die Frage nach einem Beruf. Diese war ihm vollständig gleichgültig und sehr langweilig. Er fühlte sich jedem Beruf gewachsen, und was einer wurde, war ja doch nur Zufall. Nur zur Universität im allgemeinen entschloß er sich, da er dann am schnellsten herauskam aus diesem öden, freudlosen Leben zu Hause.

Möchtest du Mediziner werden? sagte Herr Sintrup. – O ja, warum nicht? – Aber ich glaube, du hast nicht das mindeste Talent zum Mediziner. – Dann kann ich ja auch was anderes werden. – Solche Antworten brachten seinen Vater zur Verzweiflung: Wie ist dieser Geist in dich gefahren! Hast du denn keine Spur von Ehrgeiz? – Pitt schüttelte den Kopf. – Ich lasse dich einfach ein Handwerk lernen! – Gut, ich bin mit allem einverstanden! – Nirgends, von keiner Seite war dieser Mensch zu fassen.

Erbittert machte Herr Sintrup eine Faust hinter ihm drein, wie er ihn am ersten Examentag, ein wenig gekrümmt, zur Schule gehen sah. Pitt blieb stehen, sah aufmerksam auf seinen Vater, der hinter der Scheibe stand, und rief irgend etwas. Herr Sintrup glaubte eine unerhörte, grenzenlose Unverschämtheit zu vernehmen und öffnete energisch das Fenster. – Ach du bist es, sagte Pitt trocken und schlich weiter. Die nächsten Tage ging jener dumpfe Geist im Hause um, wie ihn die Aussicht auf ein reifendes, trübes Geschick zeitigt; denn Pitt machte keinen besonders freudigen Eindruck. Nur Frau Sintrup sprach sehr gemütlich von dem Unglück: Es sei doch ganz egal, ob Pitt noch ein Jahr länger auf der Schule sei oder nicht, sie liebe überhaupt keine Veränderungen, und wenn er jetzt fort müsse, so käme das doch eigentlich recht plötzlich. – Alle waren überrascht, als die Nachricht kam, Pitt habe das Examen als einer der Besten bestanden. Tanten erschienen zur Besichtigung und zur Gratulation, und Frau Sintrup litt alsbald an einer Magenverstimmung. – Fox war recht enttäuscht. Nun blieb ihm nur die Hoffnung, er werde Pitt bald einholen und dann auf der Universität überflügeln. Fox wußte schon längst, was er werden wollte: Regierungsbeamter, welcher Art, war noch nicht sicher.

Nach der ersten großen Freude begann Herr Sintrup wieder mit seinen Fragen. Und Pitt, der sich sagte, etwas müsse nun getan werden, erklärte: er wolle Jurist werden, es sei dies der einzige Beruf, für den er sich eigne. Und da er dies mit lauter Stimme mehrere Male sagte, so glaubte ihm Herr Sintrup, der anfänglich etwas mißtrauisch war. Fox dagegen meinte: Er macht mir das nur nach.

Nun war der Zeitpunkt wirklich eingetreten, nach dem Pitt sich so gesehnt hatte, und doch empfand er eigentlich keine Freude. Als er das Gymnasium verließ, mit dem Bewußtsein, es nie wieder betreten zu müssen, sagte er sich: Dies wird mir nach vielen Jahren vielleicht noch als einer der allerglücklichsten Momente meines Lebens erscheinen. Fühle ich mich jetzt glücklich? Ich fühle mich genau wie vorher. Aber die Freude wird schon hinterher kommen, wenn ich erst einmal ganz fort bin. – Ein Familiensouper wurde ihm zu Ehren gegeben. Er hatte keine Lust, es mitzumachen, sagte, er habe Kopfweh und legte sich zu Bett. So ruhte das Gewicht, die herangewachsene Generation in der Familie zu vertreten, auf Fox, und seine breiten Schultern schienen um die Last, aber auch um den Stolz einer solchen Bürde zu wissen. Er hielt eine Rede, und es gewann schließlich fast den Anschein, als sei dieses Fest eine Vorwegnahme eines späteren, und in seinen Augen lag es wie eine Garantie der Hoffnungen, die man auf ihn setzte. Frau Sintrup aber sagte, Pitt sei nun genau so alt, wie ihr Mann damals gewesen war, als sie ihn zum ersten Male sah. Nur habe er damals bereits einen Vollbart gehabt; – ach Gott, ich weiß es noch wie heute; er steckte mir immer Bonbons zu, und ich lauerte ihm auf, nur um die Bonbons zu kriegen. Na, dann wurde es ja anders, aber wieviel Jahre gingen hin, bis wir uns heiraten durften, bis er Prokurist wurde! Und das pompöse Hochzeitsessen später! Ich glaube, ich kann die Speisekarte noch heute auswendig. Natürlich sagten die Leute, er habe mich des Geldes wegen geheiratet. Lieber Gott, und wenn nun ein ganz bißchen Wahrheit daran gewesen wäre! – Aber Mausi! rief Herr Sintrup, aber Mausi, was fällt dir ein! Alle lachten, aber Frau Sintrup übertönte den Lärm mit ihrer Stimme: Ich hätte dich doch auch niemals genommen, wenn Vater nicht ganz genauen Einblick in die Verhältnisse gehabt hätte! Solidität muß sein. Andere waren ja noch begeisterter für mich, wenigstens in ihren Redensarten; aber die taugen für eine Ehe nicht, die verfliegen mit den Flitterwochen. Ich verzichte gerne auf den Kram!

Sie lehnte sich mit Behaglichkeit zurück und gedachte ihres ganzen Lebens, das ihr auch nicht eine einzige Enttäuschung gebracht hatte. Daß ihr Mann ihr zuweilen etwas untreu war, das rechnete sie nicht; das war nur auf Geschäftsreisen und ging sie also gar nichts an. Hier zu Hause liebte er nur sie, bereits seit fünfundzwanzig Jahren; – in der ersten Zeit war ihre Ehe kinderlos. Voll Zufriedenheit saß sie im Sofa und ließ den Blick auf ihrem Bilde ruhen, das, von Schiller links, von Goethe rechts flankiert, ihr gegenüber an der Wand hing.

Bald nach diesem Abend verließ Pitt seine Vaterstadt. Mit einer Riesengeschwindigkeit, wie zu einer ungeheuren Aufgabe jagend, durchschmetterte er das deutsche Land – und in Wahrheit war ihm alles, was mit Beruf und Aufgaben zusammenhing, nebensächlich und nicht der Rede wert. Nur seine Einsamkeit empfand er und die Sehnsucht, daß es besser werden möchte.


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